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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

noch mehr … Aber tummelt Euch, Leute, sonst stirbt mir die Alte unter den Händen …“

In dieser Beurtheilung des Zustandes der Geretteten aber irrte er sich doch; unerwartet begann sie sich zu regen, schlug die Augen auf und blickte irr wie fragend und suchend umher. Sie schien sich mit Schrecken zu besinnen, was mit ihr geschehen aber der Frost und das Entsetzen hatte sie der Sprache beraubt: sie vermochte nur, unverständliche Laute zu stammeln; dankstrahlend hing ihr Auge an Sylvester und sie riß seine Hand an sich, als wolle sie selbe an die Lippen drücken.

Eh’ er das zu hindern vermochte, verwandelte sich aber die Geberde des Dankes in eine Bewegung neuen Schreckens – mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in den See hinaus: ihre erregten Sinne vernahmen, was bisher in dem Drängen und Wirrsal des Ereignisses Niemand beachtet hatte.

Vom See her erscholl mattes Gewinsel.

„Was ist denn das?“ frug man. „Ist denn noch wer draußen im See? … Das ist doch keine menschliche Stimm’ …“

„Bläß’ …“ schrie die Alte plötzlich laut aufkreischend, „mein Hund, mein alter treuer Bläß’ … er liegt draußen im Wasser und kann nicht heraus … Bläß’, Bläß! O, er ist zu alt und zu matt … er geht zu Grund, wenn sich Niemand über ihn erbarmt …“

„Wie kommt denn das Vieh da hinaus?“ rief unwillig Einer von denen, die vom Ufer zugeschaut hatten. „Wird sich wohl nochmal Eins seinetwegen hinaus wagen sollen in die augenscheinliche Todesgefahr!“

„Der Hund,“ sagte Sylvester, „ist ihr wahrscheinlich nach, hat sie heraus ziehen wollen und ist drüber selber hineingefallen …“

„Ja, ja – so ist es,“ rief die jammernde Alte, welche den eignen gefährlichen Zustand ganz vergessen zu haben schien, „und dafür, daß er mich hat retten wollen, soll er zu Grund geh’n … Komm’, Bläß, komm …“ schrie sie mit Anstrengung, damit das Thier sie hören und sich selbst heraus arbeiten sollte.

Schwaches, klägliches Geheul war die Antwort.

„Er ist schon zu matt,“ sagte der Bauer wieder, „und das Eis ist zu glatt, an dem kann er sich nicht halten … macht, daß wir ins Dorf hinein kommen, sonst tragen wir Alle einen Denkzettel davon … Komm, Alte, gieb’ Dich drein, um den alten Hund ist doch kein Schad’.“

Sie wollten die Frau anfassen und weiter bringen, aber mit einer Kraft, die man ihr nicht zugetraut hätte, stieß sie Alle von sich und brach in herzzerreißendes Jammergeschrei aus … „Mein Bläß … mein treu’s Thier,“ rief sie, „ich kann ihn nit so zu Grund’ geh’n lassen – ich hätt’ keine ruhige Sterbstund’, wenn ich ihm so gedankt hätt’ für seine Treu’ und seine Anhänglichkeit … Ich bin nur ein arm’s Weib: ich hab’ nichts als ein goldens Ringel daheim, das hab’ ich mir aufgespart für die höchste Noth … ich geb’s her, wer mir den Bläß’ wieder bringt …“

Es regte sich Niemand, der Lust gehabt hätte, den Preis zu verdienen – das Heulen des Hundes klang noch einmal herüber; noch kläglicher als zuvor, es war die letzte Anstrengung vor dem Untersinken.

„So laßt’s mich selber hinaus,“ rief sie wieder und wollte sich aufraffen, „so viel Kraft werd’ ich noch haben, daß ich dem armen Hund helfen kann! Es ist das einzige Geschöpf, das mein gehört und das mich gern hat … Laßt’s mich los, Leut’, und halt’s mich nit – Ihr müßt gar nit wissen, wie das thut, das einzige Geschöpf verlieren müssen, das Ein’ gern hat …“

„Sei still, Alte,“ sagte Sylvester, dazwischen tretend, „behalt’ Dein Ringel – Du sollst Deinen Hund wieder haben …“

„Vestl …“ rief es von allen Seiten durcheinander … „Du wirst doch nicht …“ aber ehe Jemand gedacht oder vermocht hätte, ihn aufzuhalten, war er schon auf dem Eise und eilte mit sicher bemessenem Schritt der gefährlichen Stelle zu. In einiger Entfernung davon zog er die Jacke aus, ließ sich wieder platt auf das Eis nieder und schob, sich so langsam gleitend bis in die Nähe des Eislochs vor, dann warf er die Jacke davor hin, daß das Thier, sie mit den Zähnen packen und sich daran festhalten solle …

Am Gestade war es wieder still, wie im Grabe; die Verhüllte auf dem Hügel war in die Kniee gesunken, einem leblosen Bilde gleich.

„Alle Heiligen stehen ihm bei,“ flüsterte es jetzt durch die Runde, „wenn er nur kein Unglück hat, es wär’ doch jammerschad’ um den prächtigen Burschen … Jesus Maria, das Eis kracht … es bricht ein …“

Ein eigenthümlich knirschender Ton klang herüber – vom Hügel her gellte ein lauter Angstschrei …

Aber dem behenden gewandten Burschen war inzwischen das Wagstück dennoch gelungen: instinctmäßig hatte das Thier sich an der Jacke empor geholfen und rannte nun mit Freudengeheul der rufenden Herrin zu.

Sylvester warf einen Blick nach der Gegend, von woher der Schrei erklungen war; dann schritt er, die Versammlung am Ufer umgehend, die Seebahn dahin, in der Richtung der Heimath. Bald verloren sich auch die Leute vom Gestade und brachten die Alte, die von Dank und Freude überströmte, in das Dorf – die Verhüllte zögerte noch eine Weile, dann schlug auch sie den Weg gegen die Berghöhe ein.

Die beiden Wandrer gewahrten einander wohl in der herandämmernden Morgenhelle – sie schienen sich auch zu kennen und es war manchmal, als ob sie, unwillkürlich angezogen, sich näher kämen und sich zu begegnen wünschten; dann aber wirkte es wieder wie geheimnißvolle Abstoßung – sie flohen weit auseinander und schwanden endlich nach verschiedenen Seiten in Gebüsch und Wald.

Am andern Morgen, am fröhlichen Weihnachtstage schien es, als ob das ganze Thal, der Feier bewußt, sich in seinem schönsten Schmucke zu zeigen suchte. Der ganze Himmel glich einem blauen, lichtdurchflammten Krystall; eine erhabene ruhende Königin lag die Erde, in den weiten fleckenlosen Schnee-Hermelin gehüllt, und wie unschätzbares Geschmeide in ihrem Haar funkelten Reifdiamanten an jedem Aste und Reislein.

Das Gemüth des alten Brunnhofers wollte zu der allgemeinen Helle und Heiterkeit nicht stimmen; er hatte das mürrische Angesicht durch das Guckloch im Fenster der obern Stube gesteckt und hörte ziemlich verdrossen ein paar arm gekleideten Kindern zu, die dem alten Brauche gemäß vor dem Hause standen zum „Christkindl-Singen“. Sie trippelten mit den kleinen Füßen, denn es war wieder kalt geworden gegen den Tag, die Händchen hielten sie unter der Schürze und in der Tasche versteckt, die kleinen Gesichter waren frostgeröthet, aber die Stimmen klangen hell und frisch; sie waren wohlgemuth, denn sie hatten schon an einigen Häusern gesungen und überall war die Aufnahme freundlich gewesen und die Gabe reichlich – was durften sie nicht erst an dem reichen Brunnhofe erwarten! Sie sangen das uralte Volkslied von den Hirten, die einander staunend erzählen, was sich in der heiligen Nacht Wunderbares begeben, und das da anfängt:

„Holla, Jackel, was ist das?
Ich mein’ schier, ich hör’ etwas –
Was soll der G’sang bedeuten,
’S ist zu fruh, zum Tag-Anläuten

Und dann wieder sprachen sie, den nahen Jahreswechsel voraus verkündend, den althergebrachten Volksgruß

„Glückselig neues Jahr!
Ein Christkind’l in ’kraustem Haar,
Auf ein’ goldenen Tisch
Ein’ bachenen (gebacken) Fisch,
Dazu ein Glasel Meth und Wein,
Kann Bauer und Bäuerin lustig sein!“

„Ihr könnt mir gestohlen werden mit Eurem Glückwunsch,“ murrte der Alte. „Bei uns in der Einöd’ heroben giebts weder Bauer noch Bäurin, wo soll da das Christkind’l herkommen im ’krausten Haar …“

Schon hatte er ein paar Pfennige in ein Papier gewickelt und wollte sie den Kindern zuwerfen, mitten in der Bewegung hielt er inne: vom Zaune her kam raschen Schrittes ein Mädchen, ein dichtes Tuch über Kopf und Schultern, in der Hand den Wanderbündel.

Es war die Köhlerin, auf der Wanderung aus der Heimath.

„Grüß’ Gott,“ rief er ihr zu, „willst nit einkehren auf dem Brunnhof? Ich mach’ mein freundlichstes Gesicht und Du hast es versprochen, wenn Du wieder vorbei kommst; und wenn der Bauer unter der Thür steht und Dich anlacht mit dem ganzen Gesicht …“

„Versprochen hab’ ich’s wohl,“ erwiderte sie stockend, „aber Du wirst mir’s wohl schenken müssen, Brunnhofer … es hat sich gar viel verändert seitdem …“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_083.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)