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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

den Entschluß der Trennung von Lilli im October 1775 im Herzen, an jenem Abend vor seiner Abreise nach Italien sein Ohr lauschend an das Fenstergitter preßte, um zum letzten Male die süße Stimme zu vernehmen, die, ohne die Nähe des Treulosgewordenen zu vermuthen, seiner mit dem Liede:

Warum ziehst Du mich unwiderstehlich,
Ach, in jene Pracht?

gedachte, das er vor kaum einem Jahre aus liebeglühendem Herzen für die Geliebte gedichtet, nicht ahnend, daß es einst die letzten Regungen für sie darin erwecken und damit auch zum Grabgesang seiner Liebe werden würde. Goethe lernte sie kennen als die einzige Tochter eines großen Frankfurter Bankiers und reichen Handelsherrn, nach dessen frühem Tode die Mutter, eine feingebildete, gescheidte Frau, eine geborene d’Orville, ebenso das Geschäft, wie das im fürstlichen Stile geführte Leben des Hauses fortsetzte. Goethe, zwar der „Löwe des Tages“, stand diesmal mit der bürgerlichen Beschränktheit seines Vaterhauses, mit seinem genialen Sturm und Drang, der sechszehnjährigen reizenden Lilli gegenüber, die seinem Vaterhause und seinen Eltern durch gesellige Stellung, durch Rang, Reichthum, wie durch Weltgewandtheit überlegen war. Durch eine alte, mit den beiden Familien befreundete Jungfer, Demoiselle Delfs aus Heidelberg, ging der Liebeshandel in eine Verlobung über. Aber die schöne Bankierstochter, die „Staatsdame“, wie sie im Vaterhause des Dichters genannt wurde, paßte nicht zu den Eltern Goethe’s, zu den alten, bürgerlich beschränkten Verhältnissen der Familie. Goethe hatte wenigstens erfahren, „wie es einem Bräutigam zu Muthe ist“, er liebte sie wirklich, und noch in späteren Jahren gestand er Eckermann im Gespräche, „Lilli sei die Erste und im Grunde auch die Letzte gewesen, die er tief und wahrhaft geliebt.“

Wir haben noch fünf Frauen, die mit Goethe innig befreundet waren und ihn fesselten, darunter Frau von Stein, eine zweite Charlotte, Mutter von sieben Kindern, sieben Jahr älter, die vom 3. Januar 1776 bis zu seiner Rückkehr aus Italien im August 1788 mit dem Dichter auf seiner Dichterhöhe im innigsten Lebensverkehre stand, aus dem uns wenigstens Goethe’s Briefwechsel und damit der Blick in jene reiche Zeit seines inneren Lebens glücklicher Weise gerettet worden ist. Das war die Frau, welche Goethe für immer hätte geistig fesseln können! Doch während des italienischen Aufenthaltes vom 3. September 1786 bis zum August 1788, in welchen die Liebesepisode mit der „schönen Mailänderin“ fällt, siegte in Goethe, wie auch nach der Rückkehr, die Natur über das Ideal und bewirkte jene Wandlung, die am bald darauf mit seiner Gewissensehe mit Christiane Vulpius begann, welche ihm bereits am 25. December 1789 seinen einzigen Sohn August gebar. Die Geschicke, welche die Ordnung der Stadt umkehrten, brachten den Dichter zur bürgerlichen Ordnung zurück. Am 19. October 1806, nach den Unglückstagen von Jena und Auerstädt, ließ er sich mit seiner „kleinen, dicken, runden Freundin“ in Gegenwart seines einzigen Sohnes August und seines Secretairs und Hausofficianten Dr. Riemer in der Sacristei der Schloßkirche zu Weimar kirchlich trauen. Damit schloß sich sein Familien- und Hauswesen bürgerlich ab. Erst am 6. Juni 1816 starb die Frau Geheimräthin Christiane von Goethe. Der Dichter schien sich einer ewigen Jugend zu erfreuen, er schien nicht zu altern, denn im Jahre 1808 erglühte er für Minna Herzlieb und noch als Siebenzigjähriger, im Jahre 1819, flammte er in leidenschaftlicher, aber auch bald erlöschender Gluth zum letzten Mal für Fräulein von Lewetzow auf.

„Lassen Sie uns jetzt,“ ergriff Halliwell das Wort, „ehe wir das Giebelzimmer verlassen, das uns in das Leben des Dichters so tief hineingeführt, auch seiner Freunde gedenken, die sich innerhalb dieser Wände um ihn versammelten, der plötzlich durch Götz von Berlichingen nicht allein zum Haupt- und Mittelpunkte aller strebenden Schöngeister, sondern auch durch des armen Werther’s Leiden aller Sturm- und Dranggeister geworden war. Zwei Männer treten vor Allen in den Vordergrund, Johann Heinrich Merck aus Darmstadt und Goethe’s Landsmann, Friedrich Maximilian Klinger, der ‚Sohn der Armuth‘. Sagt doch Goethe selbst von Merck: ‚Dieser eigne Mann, der auf mein Leben den größten Einfluß gehabt, war von Geburt ein Darmstädter. Als ich ihn kennen lernte (es war durch die Vermittelung Herder’s in Straßburg und seiner Braut Caroline Flachsland am Ende des Jahres 1771 nach seiner Rückkehr von Straßburg), war er Kriegszahlmeister und später Kriegsrath in Darmstadt. Mit Verstand und Geist geboren, hatte er sich schöne Kenntnisse, besonders der neuen Literatur, erworben und sich in der Welt- und Menschengeschichte nach allen Zeiten und Gegenden umgesehen. Treffend und scharf zu urtheilen war ihm gegeben; man schätzte ihn als einen wackeren, entschlossenen Geschäftsmann und fertigen Rechner. Mit Leichtigkeit trat er überall ein als ein sehr angenehmer Gesellschafter für die, denen er sich durch beißende Züge nicht furchtbar gemacht hatte. Er war lang und hager von Gestalt; eine hervordringende spitze Nase zeichnete sich aus, hellblaue, vielleicht graue Augen gaben seinem Blick, der aufmerkend hin und wieder ging, etwas Tigerartiges. In seinem Charakter lag ein wunderbares Mißverhältniß. Von Natur ein braver, zuverlässiger Mann, hatte er sich gegen die Welt erbittert und ließ diesen grillenkranken Zug dergestalt in sich walten, daß er eine unüberwindliche Neigung fühlte, vorsätzlich ein Schalk, ja ein Schelm zu sein.‘ Merck, der nun eben einmal für Goethe’s Urbild des Mephistopheles gilt, kehrte von jener Zeit an oft bei dem Dichter im Vaterhause ein, nicht blos an des Vaters wohlbestellter Tafel, der sich in seinem Sohne durch einen solchen Gast geehrt fühlte, sondern ganz besonders war es auf des Dichters Giebelzimmer, wo er begeistert dessen Vorlesungen lauschte und dessen Freude am Hervorbringen zu immer neuer Lust entflammte. Auf Merck’s Zuruf:

‚Bei Zeit auf die Zäun’,
So trocknen die Windeln!‘

schickte er den Götz von Berlichingen in die Welt hinaus, zu dem Goethe das Papier herbeischaffte, und den Merck im Jahr 1773 in seiner Privatdruckerei im Dorfe Arheilgen bei Darmstadt druckte. Auf dem Giebelzimmer vollendete Goethe im Jahr 1774 „des armen Werther’s Leiden.“ Aber eine Verstimmung durch Merck hätte das Werk beinahe wieder vernichtet.

„Einst besuchte er mich,“ erzählt Goethe in ‚Wahrheit und Dichtung‘, „und als er nicht sehr gesprächig schien, bat ich ihn mir zuzuhören. Er setzte sich auf’s Kanapee und ich begann Brief vor Brief das Abenteuer vorzutragen. Nachdem ich eine Weile so fortgefahren hatte, ohne ihm ein Beifallszeichen zu entlocken, griff ich mich noch pathetischer an, und wie ward mir zu Muthe, als er mich, da ich eine Pause machte, mit einem: Nun ja! es ist ganz hübsch! auf das Schrecklichste niederschlug und sich, ohne etwas Weiteres hinzuzufügen, entfernte. Ich war ganz außer mir; denn wiewohl ich Freude an meinen Sachen, aber in der ersten Zeit kein Urtheil über sie hatte, so glaubte ich ganz sicher, ich habe mich im Sujet, im Ton, im Styl, die denn freilich alle bedenklich waren, vergriffen und etwas ganz Unzulässiges verfertigt. Wäre ein Kaminfeuer zur Hand gewesen, ich hätte das Werk sogleich hineingeworfen; aber ich ermannte mich wieder und verbrachte schmerzliche Tage, bis Merck mir endlich vertraute, daß er in jenem Momente sich in der schrecklichsten Lage befunden, in die ein Mensch gerathen kann; er habe deswegen nichts gesehen noch gehört, und wisse gar nicht, von was in dem Manuscripte die Rede sei.“ Ebenso mahnte Merck seinen Freund bei Mittheilung des Clavigo in diesem Giebelzimmer an seine höhere Kraft und Würde mit den Worten: „Solch’ einen Quark mußt Du mir künftig nicht mehr schreiben, das können die Andern auch!“ Bei dieser Gelegenheit nannte ihn Goethe, ohne seines Freundes Absicht zu verkennen, „Mephistopheles“. Aber Merck blieb auch später noch Goethe’s Führer und treuer Eckhard. So stellte er ihm vor dem Antritt seiner ersten Schweizerreise das Horoskop: „Dein Streben, Deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben,“ und selbst als Goethe schon als Dichterfürst begrüßt zu werden und die Huldigung der Welt zu empfangen gewohnt war, rief er ihm, als er bei längerem Aufenthalt in Weimar sein contemplatives Wesen mißfällig wahrgenommen, richtend und zurechtweisend die Worte zu: „Siehst Du, im Vergleich mit dem, was Du in der Welt sein könntest, ist mir Alles, was Du geschrieben hast, Dreck!“ und wurde zuletzt so verstimmt, daß er Goethe gar nicht mehr sah und in die Worte ausbrach: „Was Teufel fällt dem Wolfgang ein, hier zu Weimar am Hofe herumzuschranzen und zu scherwenzen, Andere zu hudeln oder, was mir Alles eins ist, sich von ihnen hudeln zu lassen! Giebt es denn nichts Besseres für ihn zu thun?“

„Doch steigen wir,“ mahnte ich, „um auch noch Klinger an der rechten Stelle in Goethe’s väterlichem Hause zu begrüßen, in den Hof hinab.“ Goethe widmete Klingern am 31. Januar

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_087.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2017)