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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

ist gewissermaßen nur Eine große Familie, fast Jedermann kennt den Andern persönlich und es ist fast, als ob Alle untereinander verwandt oder verschwägert wären. In jeder Stadt, in jedem Dorfe sitzen Mitglieder der national-liberalen Partei, Jeder wachsam und nach Kräften thätig für die gemeinsame Sache; sie unterhalten einen engen Briefwechsel, sie besuchen sich gegenseitig und versammeln sich von Zeit zu Zeit an bestimmten Orten, wo sie ihre Ansichten und Erfahrungen austauschen und nach Lage der Dinge ihre Operationspläne entwerfen und festhalten. Meist sind es durch Besitz und Stellung unabhängige Männer, vornehmlich Advocaten, Landwirthe und Industrielle, wie überall auch hier die berufenen Träger der demokratischen Idee, an denen die kleinlichen Chicanen und Verfolgungen der endlich gestürzten Regierung ohnmächtig abprallten; aber nicht Wenigen hat sie auch empfindliche materielle Wunden zu schlagen oder gar ihre Existenz zu untergraben gewußt. Wie mancher Beamter konnte auf der Leiter der Carrière um keine Sprosse höher kommen; wie mancher Arzt – auch die Aerzte gehören bekanntlich in Nassau zu den Staatsdienern – wurde nach dem rauhen und öden Westerwald verwiesen; wie mancher junge Jurist wurde nicht zur Advocatur zugelassen; wie mancher Industrielle konnte nicht die Concession zur Errichtung einer Fabrik erlangen; – blos weil er mit der liberalen Partei ging und wählte! Trotzdem hat keiner dieser „Gemaßregelten“ gewankt, keiner hat sich von der Regierung durch angebotene Titel, Orden, Beförderungen oder sonstige Vergünstigungen verdrehen und zu ihr hinüberziehen lassen.

Die Führer der nationalen Partei sind naturgemäß in der Hauptstadt des Landes, zu Wiesbaden. In ihrem Clublocale, der sogenannten „Sternkammer“, habe ich die meisten von ihnen persönlich kennen gelernt, mit ihnen zusammen gesessen und getrunken und mich an ihrer echtsüddeutschen Einfachheit und Gemüthlichkeit erfreut und erfrischt.

Das untere Ende des einzigen langen Tisches nahm gewöhnlich und fast wie präsidirend die Frau „Sternkammerwirthin“ ein, eine Dame, die ihres angenehmen Wesens und ihrer vortrefflichen Eigenschaften wegen bei der ganzen Gesellschaft in großem Ansehen steht. Sie ist trotz ihres Geschlechts eine entschieden politische Natur, eine begeisterte Patriotin und betheiligt sich nicht selten an den Debatten, ohne deshalb die Grenzen der Weiblichkeit irgendwie zu überschreiten. Seit Jahren hat sie lebhaft für die Fortschrittspartei agitirt und ihr in allen Kreisen Anhänger und Diener zu werben gesucht, ohne sich daran zu kehren, daß ihre Wirthschaft darunter litt, indem diese von Mitgliedern der reactionären Partei systematisch gemieden wurde und noch heute gemieden wird.

An ihrer Seite saß in der Regel Dr. Lang, dessen treue Freundin und Verbündete sie war, mit dem sie – oft vielleicht nur, um ihn sein körperliches Leiden, das ihn noch während meiner Anwesenheit hinwegraffen sollte, auf Augenblicke vergessen zu lassen – halblaut und eifrig plauderte und dessen jäher Tod sie tiefer zu verwunden schien als seine intimsten Freunde. Noch sehe ich sie mit starrem Entsetzen die Hiobspost anhören, einen gellenden Schrei ausstoßen und dann in die Nacht hinausstürzen, nach dem Sterbehause, um mit der verzweifelten Gattin des Dahingeschiedenen zu weinen und mit ihr zu wachen. – „Eine fürchterliche Nacht,“ „sagte sie später zu mir, als sie wieder stumm und mit leise rinnenden Thränen unter uns saß; „eine Nacht, die ich um keinen Preis der Welt noch einmal durchleben möchte!“

Da war ferner Karl Scholz, Director der Rheinischen Versicherungsgesellschaft und Mitglied der ehemaligen ersten Kammer; ein noch junger, kleiner und ziemlich unscheinbarer Mann, aber – wie das Aeußere den Menschen oft mehr verbirgt als ausdrückt – geschätzt durch Kenntnisse, Verstand und Rednergabe. Von diesen gab der einen glänzenden Beweis am Grabe Lang’s, wo er mit überströmenden Augen und erstickter Stimme dem Führers seiner Partei den durch die Blätter bekannt gewordenen schönen und wahrheitsgetreuen Nachruf hielt.

Da saß auch Procurator Schenck, ehemaliges Mitglied der zweiten Kammer, ein kräftiger Dreißiger und von sanftem, etwas wortkargem Wesen. Gleich seinem Freunde Lang, dessen politischen Anschauungen er wohl am nächsten steht, gehörte er zum Nationalverein, wo er ein eifriges Mitglied ist und im Ausschuß sitzt. So eben kam er von Berlin, wohin der Nationalverein eine Versammlung berufen, die Lang seiner wankenden Gesundheit wegen nicht mehr besucht hatte. Dort traf ihn die Nachricht vom Tode Lang’s, dessen Verlust die ganze Versammlung mit ihm als einen unersetzlichen fühlte.

Da sah ich weiter Baron v. Schwarzkoppen, ehemaliges Mitglied der ersten Kammer, als Vertreter der namentlich in Hannover begüterten Gräfin von Kielmannsegge; eine hohe ritterliche Gestalt von feinen Manieren und kluger Rede. Aber wie kommt der Aristokrat in die bürgerliche Gesellschaft? höre ich fragen. Weil er in der Ständekammer stets mit den Liberalen ging und ein entschiedener Feind von Feudalismus wie Absolutismus ist. Deshalb gehört er auch zu den Candidaten, die neuerdings in Nassau für das Norddeutsche Parlament aufgestellt sind, und wird wahrscheinlich gewählt werden.

Von Auswärtigen traf ich in der „Sternkammer“ unter Andern zwei Männer, die gleichfalls eines allgemeinen Ansehens sich erfreuen und in ihrer Heimath eine bedeutende Wirksamkeit ausüben: Born, Director eines großen Hüttenwerks bei Ems, und Procurator Hilf aus Limburg. Beide sind vermögende Leute und gediegene Charaktere, weshalb sie vom preußischen Civilcommissariat zur Berathung von Industrie- und Handelsfragen gegenwärtig zugezogen waren.

Neben Lang, dessen Umgang mir noch wenige Tage vergönnt war, erregte natürlich mein Hauptinteresse sein College und Freund Dr. Braun, dessen Thätigkeit und Bedeutung bekanntlich in Nassau und über ganz Deutschland keine geringere ist und dem nach dem Ableben Lang’s nunmehr die Führerschaft der nassauischen Fortschrittspartei im Großen und Ganzen obliegt.

Aber welcher Gegensatz zwischen beiden Männern, schon im Aeußeren und noch mehr nach Charakter und Begabung!

Lang blond und von untersetzter Gestalt, ernst und gemessen in Sprache und Bewegung; Braun brünett und etwas beleibt, beweglich, munter und gesprächig; Lang gegen Fremde ein wenig kühl und zurückhaltend; Braun entgegenkommend und verbindlich. So sah ich die beiden politischen Dioskuren am Wirthshaustische sich gegenübersitzen. Lang trank nur Wasser, war wortkarg und schien theilnahmlos; Braun schlürfte mit Behagen seinen Wein und erzählte dazu in lebendiger, dramatischer Weise Geschichten und Anekdoten, die von Witz und Laune übersprudelten.

In den nächsten Tagen besuchte ich beide Männer in ihrem Hause. Beide wohnten in derselben Straße, nur wenige Schritte von einander; deshalb und weil sie beide Hofgerichtsprocuratoren waren, meinte der Volkswitz: „Wenn die Bauern in Gerichtssachen nach der Stadt kommen, pflegen sie entweder in die Scylla oder in die Charybdis zu fallen.“ Jeder der Beiden besaß ein hübsches, geräumiges, gegen die Straße durch einen Vorgarten abgeschlossenes Haus, aber Braun zwar gewählter und eleganter eingerichtet, als Lang, dem in Kleidung und Wohnung die größte, oft auffällige Einfachheit genügte.

Ich fand Braun in einem Eckstübchen mit reizender Aussicht nach zwei Himmelsrichtungen, wo er auf dem Sofa ein Mittagsschläfchen hielt. Schon wollte ich zurücktreten, als er erwachte und munter aufsprang. „Ich bedarf nur eines Schlummers von wenigen Minuten,“ sagte er, „dann bin ich für die andere Hälfte des Tages wieder frisch und kräftig.“

Die neuesten Erscheinungen der Literatur, Bücher und Brochüren, Zeitungen und Journale, lagen umher; aber das war nicht sein eigentliches Arbeitscabinet, sondern, wie er sagte, der Ort, wo er zu lesen und zu meditiren liebe. Im Gegensatz zu Lang, der sich fast ausschließlich mit der Politik beschäftigte, interessirt sich Braun für Alles und ist von Allem unterrichtet. Literatur, Kunst und Wissenschaft, Handel, Gewerbe und öffentliches Leben sind ihm gleich wichtig und anziehend.

Die Arbeitskraft, Thätigkeit und vielseitige Begabung dieses Mannes sind wirklich erstaunlich. Er ist der gesuchteste und beschäftigtste Advocat der Stadt, aber neben dieser großen Praxis, wobei ihm allerdings ein paar junge Juristen helfen, läuft eine ebenso ausgedehnte politische, parlamentarische und literarische Wirksamkeit. Niemand sprach häufiger und eingehender in der Kammer denn er; er ist Vorsitzender oder Mitglied verschiedener wissenschaftlicher und gemeinnütziger Vereine, er besucht die meisten Volksversammlungen im Herzogthum und alle Abgeordnetentage in Deutschland, und überall spielt er eine hervorragende Rolle durch Rede oder Schrift. Er ist Verfasser zahlreiche Flugblätter und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_089.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2017)