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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

kann, sondern im Zickzack durch viele Straßenkrümmungen gehen muß.

Ich lebte fünf Wochen lang als Regierungscommissär in der beinah tausendjährigen Benedictiner-Abtei Muri, um ein genaues Inventarium vom irdischen Gut der gottgeweihten Männer aufnehmen zu helfen. Und künftige Woche geh’ ich nach Zürich, als Mitglied der eidsgen. Tagsatzung, wo es an Arbeit nicht fehlen wird, die diplomatischen Händel mit den übelunterrichteten deutschen Höfen zu beseitigen, die uns Schweizer für gar böse Leute und unruhige Köpfe halten.

Leben Sie wohl. Die Molkencur und das Herumklettern im Gebirg machen mich matt, die Finger zum Schreiben ungelenk, den Geist ruhelustig, nur das Herz bleibt frisch, und mit diesem bin und bleib’ ich

Ihr etc.     


Aarau, den 27. September 1838.

Ihren lieben Augustbrief beantwort’ ich ziemlich spät. Er kam, als ich abwesend war und zu meiner Sommerlust im südlichen Deutschland umherschwärmte. Heimgekommen, war unser großer Rath wegen der scandalösen Zumuthung der französischen Regierung in Betreff des Louis Napoleon versammelt (dessen Ausweisung damals Louis Philipp verlangte, deren Verweigerung fast einen Conflict zwischen der Schweiz und Frankreich herbeigeführt hätte, wenn nicht Louis Napoleon freiwillig nach England gegangen wäre). Dann mußte ich nach Bern, wo sich die schweizerische gemeinnützige Gesellschaft vereinigte, dann noch zu ähnlichen andern Festtagen ähnlicher nützlicher Vereine in andern Städten unsers schönen Vaterlandes, und das Schwärmen hat noch kein Ende. Aber damit Sie mich nicht für undankbar halten, beantwort’ ich vor vielen Briefen den Ihrigen zuerst. Denn Sie haben mich durch Ihre Güte gegen meinen Julius zu Ihrem großen Schuldner gemacht. Ich hatte ihm allerdings aufgetragen, bei seiner Durchreise in Hamburg sich nach Ihnen zu erkundigen und mir Nachrichten von Ihnen zu geben. Er hat Letzteres mit aller Schwärmerei eines glücklichen Jünglings gethan, und Sie haben eine schöne Erinnerung in seine Wanderjahre gelegt.

Sie sind also, wie Ihr Brief sagt, ein rüstiger Volksschriftsteller geworden. Der Himmel segne Ihren Boten![1] Von meinem Schweizerboten hab’ ich mich schon seit Jahr und Tag zurückgezogen. Er ward mir zu lästig, sobald ich mich hatte bereden lassen, ihn wöchentlich zweimal erscheinen zu lassen, statt sonst nur einmal, da er sich aus den vielen eingesandten Beiträgen ganz von selbst schrieb. Gegenwärtig tritt er sogar allwöchentlich dreimal auf.

Wer die Wissenschaft mit neuen Schätzen bereichert, wer die Domaine des Guten, Wahren und Schönen besser anbaut, oder durch neue Eroberungen erweitert, ist mir ein ehrwürdiger Mann, aber nicht minder ehrwürdig schien mir von Jugend auf Derjenige, welcher die in den Schatzkammern der Schule verschlossenen Kleinodien zum Gemeingut alles Volks zu machen weiß und dem Himmel das Feuer des Prometheus stiehlt, um es den armen Sterblichen zu bringen. Danach hab’ ich unter allerlei Formen getrachtet. Ob mir’s gelang, ob nicht, zu erwirken, was ich wollte, hing nicht von meiner Macht ab. Nur der gute Wille entschuldigt oder adelt die That, unabhängig von ihrem Erfolg. Und so begrüß’ ich auch Sie nun als meinen Collegen. Werden Sie nicht müde! Es ist ein köstliches Ding um das Bewußtsein, nicht ganz vergeblich gelebt zu haben.

Ihr etc.     




Ein russisches Findelhaus.


„Heut’ Morgen, mein Herr, Wospitatelnoi-Dom! Machen Sie sich fertig auf zehn Uhr; wir müssen die Kinder in die Kirche ziehen sehen. Jeder Fremde, der nach Moskau kommt, sieht sich das Schauspiel an.“

So dictirte eines schönen Sonntagsmorgens mein deutscher Lohndiener in Moskau. Er war ein Prachtexemplar seiner Art, in allen Winkeln der ungeheuern Czarenstadt zu Hause wie in seiner Tasche, aber Widerspruch ertrug er nicht. Schon vierzehn Tage, die ich mich seiner Führung übergeben, verfügte er über mich, als wäre ich ein willenloses Stück Waare. Ich mußte also auch heute gehorchen und mit ihm nach dem großen kaiserlichen Findel- und Waisenhause fahren, – denn das will Wospitatelnoi-Dom besagen.

Eine mildthätige Stiftung, welche unter ihrem Dache über fünfundzwanzigtausend Kinder und ein Heer von mehr als zweitausend Aufsehern, Aufseherinnen, Ammen, Lehrern, Beamten beherbergt, die jährlich über sieben Millionen Rubel verausgabt und Jahr aus Jahr ein mehr als siebentausend Säuglinge und kleine Kinder aufnimmt, darf sich dreist zu den Wundern der Welt zählen. In Rußland hat Alles einen Gigantenmaßstab, nur die Freiheit nicht; ich nahte mich denn dieser gewaltigen Verkörperung und Vereinigung von Glaube, Liebe und Hoffnung mit ehrfurchtsvoller Erwartung.

Durch eine unabsehbare schnurgerade Lindenallee fuhren wir der Anstalt zu; nach einer halben Stunde hielten wir vor der breiten steinernen Freitreppe des säulengeschmückten Hauptportales. In dem großen Wartesaale begrüßte uns mit gemessener Verneigung ein martialisch aussehender Herr in blauer Uniform mit dem Degen an der Seite, bedeutete meinen getreuen und gestrengen Cicerone zurückzubleiben und machte mir durch Zeichen verständlich, daß keine Minute mehr zu verlieren sei, wollte ich rechtzeitig zur Ceremonie kommen. Der Mann hatte etwas so Gehaltenes und Würdevolles, daß ich ihn für den Director der Anstalt hielt und mich pflichtschuldig tief verbeugte. Bald erfuhr ich jedoch, daß er nur der Oberpolizeimeister sei, nichts mehr und nichts weniger als ein militärischer Büttel, der Schrecken und Wehrwolf für zwanzigtausend arme Kinder, in dessen Händen die in einer so weitläufigen Anstalt sehr wichtige und umfängliche Strafexecution ruht. Dennoch schien er mir ein gutmüthiger Herr zu sein; ich sah es an dem wohlwollenden Lächeln, mit dem er den Kindern zunickte, denen wir auf unserm Wege zur Kirche begegneten, und an der gelassenen Manier, mit welcher er die verschiedenen Anliegen einer Reihe von Ammen anhörte, von denen in einem einzigen Saale die nennenswerthe Kleinigkeit von Fünfhundert und einigen zusammen war. In der That, dies sei gleich hier erwähnt, habe ich in dem ganzen ungeheueren Etablissement auch nicht ein trauriges oder mürrisches Gesicht bemerkt, keines, das auf Kummer oder Unglück deutete, aus allen sprachen Zufriedenheit, unschuldiger Frieden und ruhiges Behagen, und dieser Umstand erzählte mir besser, wie die Anstalt organisirt und geleitet ist, als es Tausende von statistischen Notizen und sämmtliche Blau- oder Grünbücher der Welt hätten thun können.

Wer von meinen Lesern in beängstigendem Traume jemals eine ganze Nacht lang ohne Unterlaß Trepp auf Trepp ab gestiegen, durch endlose Galerien gewandert, in Zimmer auf Zimmer getreten und Hof auf Hof durchgangen ist, der hat einen ungefähren Begriff der Empfindung, mit welcher ich meinem freundlichen Polizeimeister durch das Labyrinth des Riesenbaus folgte. Endlich, nach einer halbstündigen Reise, verkündigten uns Weihrauchduft, Gesang wie von tausend zarten Engelstimmen und der tiefe Baß des Priesters, welcher die Gebete intonirte, daß wir die Vorhalle der Kirche erreicht hatten. Auf den Zehen wandelten wir an einem Heere von knieenden Weibern, Ammen, Aufseherinnen und Beschützerinnen der Kinder vorüber und standen im Dome.

Die Kirche war gedrängt voll, Kopf an Kopf saßen Tausende von Kindern jeden Alters, doch, zu meiner Verwunderung, fast ausschließlich Mädchen. Knaben nahm ich nur sehr einzeln wahr; ich erfuhr später den Grund dieser auffälligen Erscheinung. Die Kinder in hellgelben Kleidern auf den Emporkirchen wurden zu Hebammen erzogen, jene andern in Grün, welche die Seitenschiffe füllten, waren zu Dienstboten bestimmt, so berichtete mir mein Begleiter. Die ältern Classen saßen reihenweise nach dem Altare zu. Sie trugen dunkelblaue Kleider und verwandten in ihrer

  1. Ich gab damals ein Volksblatt unter dem Titel: „Der Hamburger Bote“ anonym heraus, das freundliche Aufnahme fand. Nach dreijährigem Bestehen veranlaßte der große Brand Hamburgs (1842), welcher nicht nur die Druckerei, sondern auch viel Manuscript vernichtete, das Eingehen dieser Zeitschrift.
    H. N.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_122.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2017)