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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

„Votre nom, Monsieur?“ – „Ch. Munde.“

„Votre âge?“ – „Quarante quatre.“

„Vous avez été compromis dans les troubles de Dresde? Et fortement, Monsieur.“ (Sie sind bei den Dresdener Unruhen stark compromittirt.) Und so fort bis zu der abermaligen Unterzeichnung des Protokolls. Mehr als einmal versicherte er mich bei seinen Fragen, daß ich „en lieu de sûreté“ (an sicherm Orte) wäre, worauf ich stets antwortete, daß mir dies wohl bekannt sei. Nach Beendigung des Protokolles bat er mich leichthin, ihm doch einmal den Paß sehen zu lassen, mit dem ich angekommen. Da ich nicht wußte, ob der Beamte, welcher mir denselben zu senden gewagt, noch in Sachsen war, so verweigerte ich die Gewährung seiner Bitte unter allerhand Vorwänden und erklärte endlich, da er sich nicht zufrieden gab, daß mir der Paß von einem Reisegefährten geliehen worden, welcher ihn am andern Tage wieder abgeholt, um damit nach England zu reisen.

Als er alle Ueberredungskunst vergeblich angewandt und ich auf seine Insinuationen von Aergernissen und Unannehmlichkeiten nur entgegnete: „Mais, Monsieur, je suis en lieu de sûreté,“ (an sicherm Orte) versicherte er mich zuletzt, ich würde ausgewiesen werden, wenn ich den Paß nicht herbeischaffte. Hierauf gab ich meine Absicht zu erkennen, den Polizei-Director Baron von Haudy selbst um eine Aufenthaltskarte zu bitten, bis meine Familie angekommen und wir im Stande wären, uns nach Amerika einzuschiffen, wohin wir auszuwandern beabsichtigten.

Es war wunderbar, welche Wirkung die Nennung dieses Namens auf den armen Commissar hatte. Er war ganz verwundert, daß ich den Muth haben könnte, mit Monsieur l’Aministrateur (de police) zu sprechen. Als er mir endlich Stunde und Ort genannt, wo der Herr Baron zu sprechen sei, drückte er noch sehr verbindlich die Hoffnung aus, daß ich in keiner Hinsicht Ursache haben möge, mich über ihn zu beschweren, worauf ich ihn versicherte, daß er nach meiner Meinung nur seine Pflicht gethan und sich sonst „en parfait gentleman“ gegen mich betragen hätte, worauf er mich mit vielen Höflichkeitsbezeigungen verließ. Wie traurig muß doch eine Existenz sein, die es uns zur Pflicht macht, Andere in steter Furcht zu halten, während man selbst vor Angst seines Lebens nie froh wird! Das ist, nebst vielem Anderen, nicht so in Amerika.

Am nächsten Tage fuhr ich gegen elf Uhr nach dem Ministerium der Justiz und ließ mich bei Herrn von Haudy melden. Er war sehr beschäftigt und ließ mich bitten, ein wenig zu warten. Nach einer Stunde schickte er indeß einen Polizeidiener und ließ um Entschuldigung bitten; er sei zu sehr mit wichtigen Angelegenheiten überhäuft, um mich heute sprechen zu können.

Ich schrieb also einige Zeilen an ihn und ließ sie da. Ich entschuldigte mich, daß ich mich unter fremdem Namen eingeführt. Es sei nicht meine Absicht gewesen, in Brüssel zu bleiben. Ich habe nach dem Bade St. Amand gehen wollen, was mir aber mein Arzt Dr. Semal abgerathen, und so habe ich der Polizei und mir selbst keine unnöthige Mühe machen wollen und sei ganz ruhig unter meinem angenommenen Namen geblieben. Ich bitte blos um Erlaubniß, in Brüssel verweilen zu dürfen, bis meine Familie angekommen. Der Herr Baron könne über meine politischen Ansichten ganz ruhig sein; denn was ich für Pflicht gehalten, in meinem Vaterlande zu thun, würde in meinen Augen als Verrath an der Gastfreundschaft eines fremden Landes angesehen werden müssen, dessen Regierung mir gestattet, unter ihrem Schutze zu wohnen u. s. w.

Drei Tage darauf erhielt ich eine sehr höfliche Einladung, mich im Bureau des Herrn Bourgeois, im Ministerium der Justiz, einzufinden. Herr Bourgeois theilte mir mit, daß er von ‚Monsieur le Ministre‘ den Auftrag erhalten, mir ‚un passeporte provisoire‘ auf vierzehn Tage zu geben. „Est-ce que vous l’acceptez?“ (Nehmen Sie ihn an?)

„Si je ne peux pas l’avoir pour plus long-temps.“ (Wenn ich ihn nicht auf längere Zeit erhalten kann.)

„On vous le prolongera, à moins que la police n’ait cause de se plaindre“ (Man wird ihn Ihnen prolongiren, wenn die Polizei keine Ursache hat, sich über Sie zu beschweren.)

Und so nahm ich denn den provisorischen Paß, oder die Aufenthaltskarte unter meinem richtigen Namen, bezahlte meine zwei Franken dafür, half noch einem anderen armen Teufel, der kein Französisch verstand, ebenfalls zu seinem Passe und ließ den Chrétien Mullère auf der Polizei zurück, um fortan wieder als ehrlicher Dr. Munde zu existiren, als welcher ich denn auch im Hotel, und wo ich mich sonst sehen ließ, von meinen Bekannten begrüßt wurde.

Nur einmal noch rückte mir die Polizei vor’s Quartier. Nach der Ankunft meiner Frau besahen wir uns das Rathhaus, als mein alter Bekannter, der Commissar, auf mich zukam und mir sagte, der Minister lasse ihm keine Ruhe um meinen Müller’schen Paß; ich solle doch die Güte haben, ihm die außerordentliche Gefälligkeit zu erzeigen, ihm den Paß zu geben, der mir doch nichts mehr nützen könne.

Ich bat ihn, am Nachmittag zu mir zu kommen. Der arme Teufel dauerte mich.

Zu Haus angelangt, schnitt ich den Stempel und einen Theil der Druckschrift heraus und verbrannte alles Geschriebene. Und als der Commissar kam, hielt ich ihm eine kleine Rede, die ungefähr folgendermaßen lautete:

„Ich habe, mein Herr, den Paß von einem Freunde erhalten, und Sie begreifen, daß es mir eine heilige Pflicht ist, Alles zu verschweigen, was mit diesem Dienste zusammenhängt; damit der Freund, welcher mich gerettet, nicht in Verlegenheit komme. Daher meine Weigerung, Ihnen den Paß zu zeigen oder einzuhändigen. Um den Herrn Minister zu beruhigen, daß mit dem Passe nicht ein Mißbrauch getrieben werden könne und um Ihnen gefällig zu sein, während ich zugleich meine Pflicht gegen meinen Freund thue, habe ich diese Theile des Passes, welche ich Ihnen hiermit vorzulegen die Ehre habe, herausgeschnitten, das Uebrige aber verbrannt. Sehen Sie hier im Ofen die Asche! – Das ist Alles, was Sie von mir über jenen Paß erfahren können. Und nun bitte ich, lassen Sie mich in Ruhe; denn keine Gewalt der Erde würde etwas Näheres darüber aus mir erpressen.“

Und der Commissar bedankte sich und ging zufrieden hinweg. Ich aber habe fürderhin über die Polizei bis zu diesem Tage nur Liebes und Gutes zu berichten, die mich bei meiner Rückkehr nach siebenzehn Jahren selbst in Dresden mit großer Höflichkeit und Herzlichkeit empfangen hat. – Wie die Brüsseler Polizei erfahren, wer ich sei, darüber habe ich nur Vermuthungen.

Mit welcher Freude mich die Ankunft meiner Frau und meines jüngsten Sohnes erfüllte, bedarf keiner Erwähnung. Die Arme sah aus wie ihr Schatten, so hatte sie sich abgegrämt, abgesorgt, abgearbeitet und – ich darf es wohl hinzusetzen, da es mir selbst nicht anders ging – abgesehnt.

Ich war ihr mehrmals vergebens am Abende bis zum Bahnhof entgegen gegangen und immer traurig und getäuscht zurückgekehrt. Endlich überraschte sie mich am frühen Morgen, als ich noch im Bette lag. Sie war die Nacht gereist, um nicht noch einen Tag zu verlieren. Es war eben ihr Geburtstag, dessen ganze Feier in unserer Wiedervereinigung bestand. – Der erste nach unserer Rückkehr nach Deutschland wurde feierlicher begangen: wir hatten das interessante Schauspiel der Beschießung von Würzburg!

Es war ursprünglich meine Absicht gewesen, mich in England niederzulassen, und dahin lautete auch der Paß meiner Frau. Ein Zufall machte mich jedoch mit dem Inspècteur général de l’Université de Bruxelles, Herrn van Hasselt, bekannt, der mir, nachdem wir uns einige Male über Erziehung und Lehrmethoden unterhalten, eine Professur an der Universität Lüttich anbot. Meine Freunde widerriethen mir, sie anzunehmen. Die Erziehungsanstalten ständen alle unter dem Einflusse der Jesuiten, und diese würden nicht ruhen, bis sie die Protestanten wieder ausgebissen hätten. Clemson machte meinem Zweifel ein Ende.

„Nonsense,“ sagte er, „auch nur daran zu denken, in einem Lande zu bleiben, wo immer Einer dem Andern das Brod aus dem Munde reißt. Gehen Sie nach Amerika, wo an Allem Ueberfluß ist. Ich will an meinen Schwiegervater schreiben, und Sie sollen keinen Mangel leiden.“

Und so schifften wir uns denn am 20. August in Antwerpen auf der Schelde ein, und landeten am letzten September am Fuße von Fultonstreet in New-York, um in der Neuen Welt das Leben von Neuem anzufangen.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_171.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2017)