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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

zur Abwechselung nach all’ den Süßigkeiten, die sie sonst hören. Ihr habt ihn wohl lange nicht gesehen, Märzbach?“

„Seit der junge gnädige Herr Baron ihn dazumal mit sich nahmen – nicht, Euer Gnaden, und das sind jetzt – ein-, zwei-, drei-, vierundvierzig Jahre. Der gnädige Herr waren ja seitdem selber niemals wieder hier. Ja, das war eben auch so,“ fügte der alte Gesell achselzuckend hinzu. „Der Jonas verstand’s – ich war immer zu timide. So ging er, und ich blieb.“

Aus diesen Worten erklärte sich zugleich einigermaßen der Empfang, der den Ankömmlingen auf Dernot geworden war: er hatte sich nur in Folge ihres längeren Ausbleibens so erträglich gestaltet. Bei Sophie-Selindens Eintreffen und Ankündigung der Herrschaft sollte der Schreck des ehrbaren Verwalters, nach der Aussage der Zofe, hart an Entsetzen gegrenzt haben und der Mann händeringend und sinnlos umhergeschossen sein, ja selbst die alte würdige Frau hätte für ein paar Augenblicke beinahe die Fassung verloren. Nun bekannte und zeigte gelegentlich auch Meister Tobias Märzbach sich als ein ‚timider‘, leicht einzuschüchternder Mensch, der an nichts weniger als an einem Ueberfluß von Geistesgegenwart und Gewandtheit litt und obendrein vor seiner Herrschaft einen bebenden Respect zu empfinden schien, vielleicht gerade, weil er dieselbe niemals persönlich zu Gesicht bekam, sondern sie nur von fern herrschen, befehlen, bestimmen, strafen und belohnen sah. –

Heiter und wohnlich in unserem Sinne war das Schloß niemals gewesen; zur Zeit, da es gegründet worden, sah man auf dergleichen noch weniger, als daß es Schutz gegen die Herbststürme und die Winterkälte und gelegentlich auch noch gegen einen feindlichen Angriff gewähre. Es stammte urkundlich aus der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts. Seitdem hatte dieser oder jener Besitzer daran, aber mehr im Innern als am Aeußeren, gebessert und nachgeholfen, bis plündernde Feinde mehr als einmal böse in den alten Mauern gehaust und die nach und nach verarmende und aussterbende Familie nichts mehr für die Wiederherstellung des Zerstörten zu thun vermochte. Dann kamen die Treuenstein und es geschah wieder etwas für das öde Haus, und als einer von ihnen die Herrschaft in seinem alleinigen Besitz hatte und ein Menschenalter lang hier hauste, wurde wenigstens ein Theil des Schlosses wirklich behaglich und wohnlich, ja fast prächtig eingerichtet. Dann aber war’s vorbei, und nun machte kein Lüften mehr die alten großen, dämmerigen Räume wohnlich, kein Putzen schützte die Fensterscheiben vor dem Sonnenbrand. Die reichen Holz- oder Stuckdecken ließen sich nicht mehr freihalten vom immer tiefer dringenden Staube, die glänzenden Vergoldungen wurden blind, und die kostbaren Vorhänge und Bezüge verblaßten und zerfielen.

Kurz, zum Aufenthalt für vornehme und anspruchsvolle Bewohner eignete sich das Schloß nicht, am wenigsten aber für junge und heitere, und ein Ueberfall der ungekannten und daher noch mehr gefürchteten Herrschaft, wie er Meister Tobias gänzlich unvorbereitet getroffen, hätte mit Fug und Recht auch einen bei weitem weniger „timiden“ Menschen ernstlich erschrecken dürfen. Und da alle Schäden und Mängel bei dem trüben, regnerischen Wetter, das dem Gewitter folgte, nur um so bedenklicher sichtbar und fühlbar wurden, mußte man’s wohl entschuldigen, daß der Arme noch immer nicht seinen Gleichmuth wiederzugewinnen vermochte.

Bei seiner Gattin Katharina war es damit freilich um Vieles anders. Ihr ganzes Wesen und Auftreten ließ jene Angabe Selindens, daß auch sie anfänglich die Fassung verloren habe, täglich weniger glaubhaft erscheinen. Die, man durfte wohl sagen, schöne alte Frau benahm sich ihren jungen Gästen gegenüber auf das Schicklichste und Würdigste, von Befangenheit und Verlegenheit zeigte sich niemals auch nur eine Spur, und nirgends fehlte, was billigen Ansprüchen der jungen Leute genügen konnte. Und je mehr man von der Frau sah und hörte und je besser man sie kennen lernte, desto deutlicher erkannte man auch, daß man in ihr eine tüchtige, doch sehr ernst angelegte oder erst durch das Leben ernst gewordene Natur vor sich habe. Es lag Denken und Sorgen auf dieser Stirn und Leiden in diesen Zügen, und aus ihrer ganzen Erscheinung, aus ihrem Schaffen, Gehen, ja aus ihrem Ruhen, vor Allem aber aus dem Blick der großen, dunkelgrauen, stillen Augen sprach einen an, was man Leuten dieses Standes und Bildungsgrades kaum recht zugesteht – die Melancholie.

Bei einer, wie wir sagten, tief angelegten Natur, wie die Frau Katharinens, erklärte sich dies jedoch zumeist schon aus dem steten Aufenthalt im verödeten Schloß und aus dem einsamen und einförmigen Leben, das seinen Bewohnern geboten war. Mit der Verwaltung und den übrigen Geschäften auf der reichen Herrschaft hatte Meister Tobias nichts zu thun, und von einem zahlreichen Hausstande war auf Dernot auch keine Rede. In Ansehung des Aufenthalts im Schloß aber empfanden selbst die jungen Gäste schon, wie herabstimmend derselbe wirkte. Von der Lust und dem Scherz, von all’ dem heiteren, oder auch ein wenig ausgelassenen Treiben, das die jungen Mädchen hier zu finden, sich zu schaffen gehofft, durch das sie sich zu der übermüthigen Expedition hatten verleiten lassen, – davon fand sich alle Tage weniger.

Es war, um keine schlimmere Bezeichnung zu wählen, ein trübseliger Platz in seiner Stille, Oede und Düsterheit. Die langen, dunklen Corridore, die gleichfalls dunklen, zum Theil baufälligen Treppen und Treppchen, die wüsten Säle und Gemächer, deren Decken eingestürzt waren, wo die Tapeten zerfetzt von den Wänden hingen und im Zugwind rauschten, der durch die schlecht schließenden, hie und da mit Bretern versetzten Fenster drang – „der Rentmeister schlägt jeden Zuschuß ab, Excellenz wolle nichts davon wissen,“ erklärte Meister Tobias den jungen Leuten, die er einmal auf einem „Inspectionsgange“ begleitete, – das Alles war schon traurig genug. Allein auch in den noch bewohnbaren Räumen war es kaum behaglicher, zumal an diesen Regentagen. Sie waren kalt und feucht, die unendlich lange nicht benützten Kamine rauchten, und die hier stets herrschende Dämmerung wurde noch durch die hohen Bäume vermehrt, welche ganz in der Nähe herangewachsen waren und die verhältnißmäßig kleinen, trüben Fenster mit ihren jetzt noch fast ungelichteten Kronen beschatteten.

„Die Schatten der Vergangenheit schweben klagend durch die so traurigen Schauplätze,“ sagte Selinde selbst klagend und auch mit anklagendem Blick ihrer schwärmerischen Augen zum Himmel schauend.

„Sage lieber: ‚die Schatten der Gegenwart‘ – beste Selinde,“ meinte Joseph achselzuckend. „Man rennt sich in dieser Residenz unserer lieben Herrin am sogenannten hellen Tage überall beinah den Schädel ein.“

„O Gott, junger Herr, ich meinte nicht die Dämmerung, sondern die armen körperlichen Schatten,“ erklärte die Zofe; „die Schatten der verfolgten Unschuld und der schrecklichen Wütheriche, die hier – hier gelitten und gehaust. Ich ahnt’ es gleich, daß es hier –“

„Sage um Gotteswillen, Selinde, was redest Du da wieder alles durcheinander?“ unterbrach sie Eugenie lachend. „Hast Du ein ‚Gespensterbuch‘ mit auf die Reise genommen und liesest es Nachts im Bett?“

„O Gott, Fräulein, lesen, dann! Denken Sie, es spukt hier wirklich! Das muß ja so sein in solchem alten Raubschloß, und es ist ja so romantisch. Aber schrecklich ist es doch! Denken Sie, es schlürft und wandelt und seufzt Nachts wirklich im Corridor. Dann geht meine Thür auf, wie von Geisterhänden –“

„Deine Thür, beste Selinde?“ fragte Joseph theilnahmsvoll dazwischen.

„O Gott, junger Herr, meine!“ versetzte sie, hörbar verletzt. „Aber nahe ist sie – sehr nahe! Denn ich hör’s auch, wie sie geschlossen wird, und dann – dumpfes Stöhnen, Murmeln, Klirren –“

„Das find’ ich höchst rücksichtslos gegen Dich und Deine Ruhe, beste Selinde,“ fiel der unbarmherzige Joseph wieder ein, „und würde ich’s mir, an Deiner Stelle, von dem Gespenst verbitten.“ – Als aber die Zofe das Zimmer verlassen hatte, sagte der junge Mann in einem ganz anderen Ton: „Wie romantisch eure liebe Selinde auch sein mag – ganz ohne ist die Sache diesmal nicht. Auch ich habe in der letzten Nacht ein Geräusch im Corridor vernommen, das über die Rattentritte hinausging, und als ich mir die Freiheit nahm, ganz vorsichtig aus der Thür zu lauschen – ich konnte mir wirklich nicht denken, wer zu dieser Zeit hier oben etwas zu thun haben könnte –, schwebte wahrhaftig ein unglücklicher Schatten dahin und –“

„Verschwand, indem der ihn begleitende magische Lichtglanz erlosch,“ sagte Eugenie spottend.

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_196.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)