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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

in die verwickeltste diplomatische Unterhaltung, in schwierigste staatliche Fragen einen klaren Blick zu gewinnen, als in manche Theaterangelegenheiten, und eher läßt sich eine aufrichtige Versöhnung zwischen Preußen und Oesterreich denken, als zwischen zwei streitenden Bühnenköniginnen. Genug, eines schönen Tages erklärte die kleine Pauline Lucca, sie werde nicht mehr auftreten, wenn ihr eine gewisse Dame (ebenfalls Mitglied der Bühne) nicht Abbitte leistete für beleidigende Anspielungen und Reden. Der Contract wurde ihr vorgehalten, worin ausdrücklich Gefängnißstrafe stipulirt war für Verweigerung der Dienstpflicht. Sie spazierte ohne langes Besinnen auf die Citadelle und blieb einen Tag und eine Nacht daselbst, bis das allgemeine Aufsehen, welches der Vorfall im Publicum erregt hatte, den Director bewog, seinen ganzen Einfluß bei jener Dame anzuwenden, und diese das Verlangen der erzürnten Primadonna erfüllte. Die Annalen des so gefürchteten Castells erzählen übrigens, daß Pauline Lucca daselbst sich gar nicht übel befunden, in ihrer Zelle sogar den Gouverneur und dessen Gemahlin empfangen und sich mit ihnen besser unterhalten habe, als in der Gesellschaft ihres Herrn Directors und dessen Ehehälfte. Daß sie zu gleicher Zeit aus dem Gefängnisse und vom Theater entlassen wurde, konnte ihr auch gleichgültig sein, ihrer wartete ein Engagement in Prag mit dreitausend Gulden; von den Thoren der Olmützer Citadelle aus betrat sie den Pfad ununterbrochener, immer glänzenderer Triumphe.

Im März 1860 erschien sie auf der deutschen Bühne der alten Czechenstadt als Valentine und Norma. Der Jubel des Publicums war endlos. Die böhmische Aristokratie, welche von jeher der Musik reges Interesse widmete, zog das jugendliche Genie in ihre Kreise, und die Fürstin Colloredo, die Schwester des Gouverneurs Grafen Clam-Gallas, protegirte „das reizende ungezogene Kind“ ganz besonders. Ihr Ruf drang weit nach allen Richtungen, und in Massen kamen die Intendanten, die Directoren, Regisseure und Agenten – Jeder wollte den neuen Kometen sehen, Jeder ihn bestimmen, den Lauf nach seinem Theater zu richten. Doch ein kluger Astronom in Berlin hatte diesen Lauf schon genau berechnet, er kam gar nicht zum Vorschein, aber der Komet zog nach seiner Sphäre: das war Meyerbeer. Der damalige Regisseur des Berliner Hofoperntheaters hatte ihm bereits seit einiger Zeit berichtet, in Prag sei eine geniale, ganz naturalistische Sängerin erschienen, eine unvergleichliche Darstellerin der Valentine; das Gleiche meldete ein in Prag ansässiger Kunstfreund, dessen Meinung der greise Meister sehr hoch schätzte. Er forschte schon damals ängstlichen Blicks nach einer Sängerin, der er seine Afrikanerin anvertrauen könnte; es gab deren bedeutende genug in Deutschland, doch ihm schwebte das Ideal einer solchen vor, welche die Partie ganz nach seinen Angaben und nicht nach ihren Gewohnheiten und ihrem Willen geben würde; es erschien ihm als eine glückliche Vorbedeutung, daß die vielgerühmte Lucca noch ganz Naturalistin, noch ganz jung war, daher im Anfange ihrer Laufbahn stand und angewiesen war, seiner Anleitung zu folgen. Mit der ihm eigenen Vorsicht, die jede Initiative vermied, wußte er es einzuleiten, daß der Generalintendant Herr von Hülsen selbst nach Prag ging und nach dem aus eigenem Hören festgestellten Urtheile unsere Heldin mit viertausend Thaler jährlich auf drei Jahre engagirte.

Die Prager boten natürlich Alles auf, sie zurückzuhalten, allein der Contract war unterzeichnet, und so zog die kleine Lucca nach der preußischen Hauptstadt. Ihr Auftreten daselbst und der immense Erfolg, den sie sogleich errang, bezeichnen einen Hauptwendepunkt in der neuen Aera der Berliner Oper. Vor der Lucca haben nur die Sontag, die Schröder-Devrient, die Jenny Lind sich einer ähnlichen Aufnahme von Seiten des Berliner Publicums zu erfreuen gehabt. Diese Sängerinnen waren vollendete Künstlerinnen, welche die gründlichsten und geregeltesten Studien mit außerordentlichem Talente vereinigten; aber die Lucca wirkte im Gegensatz zu diesen nur durch das rein Naturalistische, durch schöne Stimme, angenehmste äußere Erscheinung, originelle spontane Auffassung und leidenschaftlichen, nicht von den Gesetzen der Kunst geregelten, sondern von den Eingebungen des Moments getragenen Vortrag. Ist es heutzutage doch nicht mehr die vollendete künstlerische Leistung, welche das große Publicum hinreißt, sondern die Specialität, die Originalität, die durch neue Mittel neue Aufregung hervorruft. Jede neue Rolle war ein neuer Triumph für sie; zugleich erregte ihre Persönlichkeit auch außer dem Theater die allgemeine Aufmerksamkeit.

Herr von Hülsen, der Generalintendant des Hoftheaters, wußte die kostbare Acquisition wohl zu schätzen – er sah voraus, daß diese Sängerin einst ein Magnet sein werde, welcher nicht Eisen, sondern Gold und Silber in die Theatercasse zieht, und als sie nach einigen Monaten in Folge übermäßiger Anstrengung von einem bedenklichen Halsleiden befallen wurde, sorgte er, daß sie aus der Theatercasse zu einer Badereise unterstützt ward. Gestärkt kehrte sie im Herbste 1861 wieder, und das Glück, das bisher ihrem glänzenden Talente zur Seite gestanden hatte, wandte ihr eine neue, große Gunst zu: Meyerbeer unternahm es, mit ihr die Partie der Valentine und der Selica in der Afrikanerin, welche damals eben fertig geworden war, zu studiren.

Bei der bekannten Vorsicht, die der große Componist in allen seinen Schritten beobachtete, da er gern Alles vermied, was auf eine directe Einwirkung seinerseits auf die Bühnendarstellung schließen ließ, kann man sich leicht vorstellen, wie sorgfältig er die Unterweisung, welche er der gefeierten Sängerin ertheilte, vor den Augen der Welt und besonders der Collegen geheim hielt, wie Niemand ahnen durfte, daß er seine Afrikanerin mit ihr studirte. Während acht Monaten besuchte er sie mehrere Male in der Woche und studirte unverdrossen manchmal Stunden lang mit ihr, ja er änderte hier und da Manches an der Partie der Selica, was für die Stimme Derer, die er zur Trägerin dieses letzten Werkes ausersehen hatte, nicht ganz passend schien.

Diese heimlichen musikalischen Berathungen wurden plötzlich unterbrochen, als Meyerbeer seinen Schützling bewegen wollte, ein Engagement an der französischen Großen Oper (Académie Impériale de musique) anzunehmen, und die Sängerin geradezu erklärte, es ginge ihr in Berlin sehr gut und sie habe keinen „Mum sich in Paris einer Blamage auszusetzen“; wenn sie schon die deutsche Bühne verließe, könnte es nur sein, um sich der italienischen Oper zu widmen, bei der es nicht, wie bei der französischen, auch auf deutliche Aussprache, sondern nur auf brillanten Gesang ankomme. Der etwas gereizte Maestro nahm die Partie der Selica wieder nach Hause und schmollte während einiger Zeit mit der Sängerin, die ihm einen wahrscheinlich lange gehegten Lieblingsplan durchkreuzt hatte. Doch in seiner milden Natur lag es nicht, dauernd zu grollen, und da die geniale Sängerin das Ihre that, um ihn zu versöhnen, ward der Friede bald wieder geschlossen. Seinem Einflusse verdankte sie dann jene Berufung nach London, wo sie auf den Gipfel ihrer Laufbahn gelangte. Ihr ganzes Auftreten daselbst zeigt wieder recht deutlich, wie das elegante Theaterpublicum der großen Städte behandelt werden muß, damit es recht in Ekstase gerathe.

Gye, der Director des Coventgarden-Theaters, hatte die Lucca im Jahre 1863 für drei Gastrollen engagirt, gegen ein Honorar von einhundertundfünfzig Guineen. Sie erregte als Valentine in den Hugenotten denselben Enthusiasmus, den sie in dieser Rolle überall hervorgerufen hatte, und der kluge Director schloß sofort einen Contract für 1865 mit ihr ab, für zweihundertundfünfzig Guineen (eintausendsiebenhundertundfünfzig Thaler) monatlich – er dachte „ein sehr gutes Geschäft gemacht zu haben“, denn das Honorar war für London und für die Leistungen der Lucca ein sehr geringes, allein er hatte sich verrechnet. Unsere Sängerin kam 1864 nach der englischen Hauptstadt, sie trat als Margarethe in Faust auf, gefiel ganz außerordentlich, das Publicum strömte nach Coventgarden und vernachlässigte das Majesty’s Theatre, die große italienische Oper, wo die Tietjens sang. Gye rieb sich vergnügt die Hände – aber eines schönen Tages war die kleine Lucca verschwunden. Sie hatte Angesichts der großen Summen, die ihre Mitwirkung einbrachte, auf eine Erhöhung ihres Honorars angetragen; der Director, anstatt diesem nicht unbilligen Ansinnen zu entsprechen, hatte sich auf seinen Contract gestützt und jedes Zugeständniß verweigert; ihre Colleginnen am Theater ließen, wie es scheint, es auch nicht an den Liebenswürdigkeiten fehlen, mit denen Rivalinnen einander das Leben so angenehm zu gestalten verstehen, und so segelte unsere Sängerin ruhig nach dem Continente zurück. Freilich gab sie den Grund an, die Luft an der Themse bekomme ihr nicht, wir glauben aber gar nicht zu irren, wenn wir behaupten, sie bekam nicht genug Guineen!

Im Anfange glaubte der kluge Gye sie entbehren zu können, ja, er mochte vielleicht froh sein, daß er den Trotzkopf los geworden, doch bald zeigte es sich, daß der letztere besser zu berechnen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_201.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2017)