Seite:Die Gartenlaube (1867) 285.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

ihr Schicksal füge; er veranlaßte mich durch einen Wink, die Gefangene fortzuführen. Ich forderte sie auf, mir zu folgen. Allein sie hörte oder beachtete das nicht. Ich erfaßte ihre Hand und bat sie, mit mir zu gehen. Sie erwiderte nichts, ließ es aber ohne Widerstreben, ganz willenlos, geschehen, daß ich sie fortführte, aus dem Zimmer hinaus bis in das Gefängniß. Kein Wort, kein Laut kam über ihre Lippen. Auch in dem Gefängnisse war sie still. Ich blieb noch einige Zeit bei ihr, aber sie beachtete mich gar nicht. Ihre Augen waren trocken und starr, die Hände gefaltet, die Finger in ununterbrochener, spielender Bewegung.

Diese Wahrnehmung machte mich besorgt.

Der Druck, der auf das Gemüth des jungen Mädchens geübt, war zu groß, die Täuschung zu hart. Sechs Tage hatte sie den Augenblick ersehnt, in welchem sie vor die Freundin treten und ihr sagen wollte: „Du bist frei.“ Vor ihrer Seele stand das Bild der jammernden Freundin. Sie sah aber auch das Glück, welches ihr ungeheueres Opfer hätte schaffen müssen, wenn die Verletzung des Strafgesetzes unentdeckt geblieben wäre. An diesem Tage hatte sie vielleicht weiter gar nichts vor Augen gehabt, als die Vorstellung, daß sie Menschen, die ihr lieb waren, unaussprechlich glücklich hatte machen können. Und das Alles mit Einem Schlage vernichtet und ein entehrtes Leben vor sich!

Ich kehrte zu dem Untersuchungsrichter zurück und machte ihm von meiner Wahrnehmung Mittheilung. Er wollte aber meine Besorgnisse nicht theilen und meinte, der Mensch gewöhne sich an Alles; die Gefangene werde schon wieder zur Besinnung kommen und sich in ihr Schicksal fügen.

Der Zustand der Gefangenen blieb jedoch unverändert derselbe. Ich war noch unzählige Male bei ihr. Sie war gleichmäßig ohne Theilnahme, gab weder auf mein Kommen und Gehen, noch auf das Acht, was ich ihr sagte, um ihre Aufmerksamkeit rege zu machen. Selbst Essen und Trinken ließ sie unangerührt stehen. Die Augen blieben trocken und starr und stierten meist zu Boden. Wenn sie aber sich erhoben, so sprang der Blick hastig von einem Gegenstand zum andern. Es war, als ob etwas gesucht würde und nicht gefunden werden könne. Erst wenn er sich wieder zu Boden richtete, zeigte sich Ruhe und Stätigkeit. In dieser Ruhe lag aber eine entsetzliche Sprache. Es war der Ausdruck des tiefsten Seelenschmerzes, ach, noch mehr, es war die Sprache eines getrübten Geistes, einer zerrissenen Seele.

Das junge Mädchen hatte den Muth eines Mannes gezeigt, denn sie hatte mehr als das nackte Leben auf das Spiel gesetzt, als sie das Gefängniß betrat. Daß sie die Folgen nicht kannte, welche die Entdeckung des Betrugs nothwendig nach sich ziehen mußte, mindert nichts an der Großartigkeit ihres Unternehmens. Sie wollte für sich keinen Vortheil, sie wollte auch kein Wagniß bestehen, sie dachte auch nicht daran, daß sie etwas Unerlaubtes ausführe: sie wollte nur mit ihrer Person ein Opfer bringen, um Menschen zu beglücken.

Mir blutete das Herz, wenn ich zu dem Mädchen ging und kein Besserwerden ihres Zustandes, keine Rückkehr des Bewußtseins wahrnahm. Nach acht Tagen erklärte der Arzt, daß er die fernere Behandlung der Kranken ablehnen müsse. Hierauf wurde dieselbe in die Irrenheilanstalt der Provinz abgeliefert, wo sie zwei Jahre später durch den Tod von ihren Leiden befreit wurde.

Zur Ausfüllung der Lücken, welche meine eigenen Wahrnehmungen offen lassen mußten, habe ich noch einige Bemerkungen nachzutragen, weil diese für das Gesellschaftsleben nicht ganz ohne Interesse sein dürften.

Die Strafe gegen Adeline von R. war in einem Injurienprocesse erkannt. Der Beleidigte war derselbe Polizei-Beamte, der die Entdeckung des Betrugs herbeiführte. Die Beleidigung war dem Beamten nur als Privatperson und nicht direct zugefügt; Adeline von R. hatte in einer Kaffeegesellschaft, unter guten Freunden, eine Mittheilung, die ihr kurz vorher durch eine Nähterin gemacht sein sollte, als eine pikante Neuigkeit wiedererzählt. Diese Mittheilung enthielt eine Beschuldigung, welche ich hier in ihren Einzelnheiten nicht wiedergeben kann, die aber, wenn sie wahr gewesen wäre, den Beamten in der öffentlichen Meinung der Verachtung aussetzen mußte, also eine Verleumdung. Durch die guten Freunde war dieselbe in kurzer Zeit weiter verbreitet worden und zuletzt auch dem Beamten zu Ohren gekommen. Seinen Bemühungen gelang es bald, in jener Kaffeegesellschaft nicht nur die Pflanzschule für die Verbreitung, sondern auch in Adeline von R. diejenige Person zu ermitteln, welche Urheberin des Gerüchts zu sein schien, da sie für den Empfang der Mittheilung durch die Nähterin keinen Beweis beibringen konnte und diese jede Wissenschaft in Abrede stellte. Das erkennende Gericht hatte mit Rücksicht auf die Schwere der Beschuldigung, und weil die Art und Weise der Mittheilung frivol gefunden wurde, jeden Milderungsgrund ausgeschlossen und deshalb auf Freiheitsstrafe erkannt.

Die Entdeckung war dadurch herbeigeführt, daß der Beleidigte durch einen Beamten des Gerichts ganz zufällig von dem Strafantritt Nachricht erhalten hatte und daß wenige Stunden später Adeline von R., die Verurtheilte, sich persönlich bei ihm einfand, um wiederholt seine Verzeihung nachzusuchen.

Das unglückliche Mädchen, welches ihr Unternehmen so grauenhaft büßen mußte, war die Nichte der Verurtheilten und führte mit dieser gleichen Tauf- und Zunamen.

Die Verurtheilte selbst habe ich persönlich nicht kennen lernen; ich bin aber überzeugt, daß die beklagenswerthen Folgen einer gewiß nur leichtfertigen Unterhaltung über ihr ganzes Leben einen trüben Schatten geworfen haben.

J. J. Engelberg.




Photographien aus dem Reichstag.
V.


Auf den erhöhten Stühlen der Bundescommissare sitzt oder saß vielmehr im Reichstage der Mann, auf welchen in diesem Augenblick nicht nur Preußen und Deutschland, sondern ganz Europa mit größter Spannung und lebhaftestem Interesse sieht. Wie König Saul in Israel ragt er um eine Kopfeslänge körperlich und geistig über seine Collegen hervor, eine imposante, ritterliche Erscheinung, in kleidsamer Kuirassieruniform, die Energie des Militärs mit der Elasticität und Geschmeidigkeit des Staatsmanns vereinend. Der wohlgeformte, kahle Vorderkopf, nur spärlich von blondem Haar umgeben, die stark gewölbte Stirn verkündigen eine überwiegende Entwicklung der großen Gehirnlappen, die bekanntlich der Sitz der Intelligenz und des menschlichen Verstandes sind. Das Gesicht zeigt eine auffallende Blässe, wodurch jedoch der geistige Ausdruck der Physiognomie eher gesteigert, als vermindert wird. Die Züge, mehr interessant als schön, erscheinen in der Ruhe schlaff und abgespannt, gewinnen aber in der Bewegung und beim Sprechen eine fesselnde Lebendigkeit. Die wasserhellen, blauen Augen blicken klar und durchdringend, die kräftige Oberlippe, vom blonden Schnurrbart beschattet, verräth durch ihr zuckendes Muskelspiel eine gewisse nervöse Reizbarkeit; zuweilen heiter lächelnd, öfter aber ironisch verzogen. Dagegen läßt das fest geschlossene Kinn eine eherne Willenskraft erkennen. Auch das Leben mit seinen Anfechtungen hat seine Signatur auf die Tafel dieses Gesichts deutlich eingeschrieben und manche stürmische Leidenschaft ihre Spuren und Furchen aufgeprägt. Das ganze Aussehen dieses Mannes zeugt von einer ungewöhnlichen Natur, von angeborener Kraft und hoher Begabung, von rastloser Thätigkeit, aufreibender Arbeit bis zur Erschöpfung und krankhafter Abmattung.

Gewöhnlich sitzt er anscheinend ruhig und theilnahmlos, oder er beschäftigt sich während der Debatte mit den vor ihm liegenden Schriften, lesend und eine flüchtige Bemerkung mit der Feder auf das Papier verzeichnend. Dennoch entgeht ihm kein Wort, keine Aeußerung bei den Verhandlungen, wie man leicht an seinen ausdrucksvollen Mienen bemerken kann, indem er durch ein leises Schütteln des Kopfes, durch ein Runzeln der Stirn und Augenbrauen seine Aufmerksamkeit zu erkennen giebt. Jetzt erhebt er sich, um auf einen Angriff zu antworten, und an Angriffen fehlt es ihm wahrlich nicht. Die eintretende Stille der Versammlung, die Erwartung auf den Tribünen, die Spannung der Zeitungs-Reporters, welche ihre Federn in Bereitschaft halten, bürgen für die Bedeutung seiner Worte: Anfänglich fühlt man sich jedoch unwillkürlich

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_285.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2017)