Seite:Die Gartenlaube (1867) 287.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

der seinem Meister manches Geheimniß seiner Regierungskunst ablauschte und mit bestem Nutzen in das Deutsche übersetzte. Im September 1862 wurde Graf Bismarck, nachdem das Ministerium Hohenzollern-Schwerin abgedankt, zum Ministerpräsidenten ernannt und seitdem gehört sein Thun und Wirken der Geschichte an, die einst über ihn ein gerechteres Urtheil fällen wird als seine von Haß oder Bewunderung verblendeten Zeitgenossen.

Nächst dem Grafen Bismarck macht sich durch seine Bedeutung zunächst der Kriegsminister Herr von Roon bemerkbar, eine kräftig männliche Soldatengestalt, der Typus des höheren preußischen Militärs, fest, gedrungen, straff, obgleich im Ganzen weniger steif und zugeknöpft als die Mehrzahl seiner Collegen. Die schöne, breite Stirn und die dunklen, lebhaften Augen verrathen einen hohen Grad von Intelligenz, während das scharf geschnittene Gesicht mit dem braunen Schnurrbart einen energischen Willen, große Beharrlichkeit und zähe Ausdauer erkennen läßt. Keiner der gegenwärtigen Minister hat sich so schnell in die parlamentarischen Formen gefunden und als Redner so bedeutende Fortschritte in kürzester Zeit gemacht wie Herr von Roon. Mit einem kräftigen sonoren Organ verbindet derselbe eine große Klarheit und soldatische Frische, wodurch er manchen gelehrten Professor beschämt. Man sieht seinen Reden an, daß sie nicht an der Studirlampe ausgeklügelt, sondern aus dem praktischen Leben geschöpft worden sind. Von ihnen gilt der Goethe’sche Ausspruch: „Es trägt Verstand und guter Sinn mit wenig Kraft sich selber vor.“ Er hält mit seinen Gedanken eine gute Mannszucht und sein Geist übt eine scharfe Disciplin, so daß er stets zur Sache spricht und sein Pulver nicht unnütz verschießt. Auch die Waffen des Humors und der Ironie stehen ihm zu Gebote, obgleich er von ihnen einen selteneren Gebrauch macht als Graf Bismarck und durch eine gewisse Gemüthlichkeit den verletzenden Eindruck mildert. Bei aller soldatischen Offenheit fehlt es ihm nicht an diplomatischer Gewandtheit, oder vielmehr an jener Husarenlist, welche den Gegner unvermuthet überrascht und dessen Schwächen geschickt benutzt, wie im Reichstage Professor Gneist zu seinem Schaden erfahren hat. –

Eine mehr bureaukratische Erscheinung bietet der Minister des Innern Graf Eulenburg, ein noch jugendlicher Herr, mit kurz geschorenen Haaren und dunklem, vollem Bart, der das feine, nicht uninteressante Gesicht umgiebt. Er spricht im ostpreußischen Dialect fließend und gewandt mit einer gewissen Aufrichtigkeit, die jedoch durch den scharfen Ton einen[WS 1] beißenden Beigeschmack erhält und öfters in der Versammlung eine entsprechende Kritik hervorruft. Seine Worte gleichen prickelnden Stecknadelstichen und verwunden darum oft mehr als die scharfen und geschickt geführten Stöße des Ministerpräsidenten, dem man seine geistige Ueberlegenheit eher verzeiht, als die kühlen Angriffe des Grafen Eulenburg, der in seiner neulichen Reichstagsrede eine überraschende Schlagfertigkeit entwickelte. – In seiner Nähe befindet sich der Finanzminister von der Heydt, der kluge Rechenmeister, welcher seit dem Jahre 1847 sich mit bewundernswürdiger Elasticität den Verhältnissen anzupassen und sich unentbehrlich zu machen wußte. Die behagliche Banquiersfigur, das freundlich lächelnde Gesicht, die kleinen schlauen Augen, eine angenommene oder vielleicht auch natürliche Bonhomie machen einen durchaus bürgerlichen, soliden Eindruck. Dieses Element finden wir auch in seinen Reden wieder, die sich von allem geistigen Luxus, von unnöthiger Bilderverschwendung, eleganten Wendungen, witzigen Schlagwörtern fern halten, dagegen durch sachgemäße Klarheit, verständige Ansichten und thatsächliche Angaben ihre beabsichtigte Wirkung nicht verfehlen. Er spricht ohne jeden rhetorischen Aufwand, einfach, etwas monoton, aber leicht und fließend, wie ein ruhiger Geschäftsmann, der weder herausfordern, noch hinreißen, sondern vor Allem durch seine Worte ein bestimmtes Ziel erreichen will. Es kommt ihm dabei nicht auf Principien, auf politische Parteifragen, sondern, wie es in der Natur der Sache und in seiner Stellung liegt, hauptsächlich auf – Bewilligung der Gelder an. Wird er im Verlaufe der Debatte angegriffen, so erhitzt er sich nicht, sondern antwortet mit der Miene der gekränkten Unschuld, mit christlicher Geduld, ohne seinem Gegner Gleiches mit Gleichem zu vergelten, da er kein Freund von parlamentarischen Streitigkeiten ist. Obgleich in Geldsachen die Gemüthlichkeit aufhört, ist der Grundzug des Finanzministers die größte Gemüthlichkeit im Leben wie in der Politik. Gemüthlich sind seine parlamentarischen Diners in der schönen Villa von der Heydt, wo er auch die Mitglieder der Opposition einladet; gemüthlich drückt er dem und jenem Abgeordneten im Reichstage, vor Allen Herrn von Rothschild, die Hand; gemüthlich spielt er in den Mußestunden die Orgel, da er ein großer Musikfreund ist, und gemüthlich sitzt er an dem Ministertisch, an dem er sich nach zwanzigjähriger Gewohnheit natürlich wie zu Hause befindet.

Unter den Commissarien der übrigen Bundesregierungen haben nur wenige die Gelegenheit benutzt, sich in einer oder der anderen Weise bemerkbar zu machen, obgleich sich in ihrer Mitte namhafte Staatsmänner befinden, von denen jedoch nur der sächsische Staatsminister von Friesen, der großherzoglich oldenburgische Commissar von Rössing, der Geheime Legationsrath Hoffmann für das Großherzogthum Hessen, der Commissar für Mecklenburg-Schwerin und Lippe-Detmold an passender Stelle das Wort ergriffen, während ihre sonstige Wirksamkeit außer ihrer Anwesenheit bei den Verhandlungen sich der Beurtheilung natürlicher Weise entzieht.




Blätter und Blüthen.


Das Ferngefühl der Blinden. Von einem Blinden. Mit diesem Namen bezeichnet Verfasser die schwache Wahrnehmung entfernter Gegenstände, welche bei gehöriger Aufmerksamkeit auch ohne Schall, Licht und Wärmeausstrahlung von Blinden nur im Gesicht bemerkt werden kann. – Am deutlichsten zeigt sich das Ferngefühl in Ohr- und Augengegend, schwächer an den Schläfen und an der Stirn, noch weniger an den Wangen und fast gar nicht an den Lippen. – Die Substanz des Objectes ist dabei ganz gleichgültig. So macht z. B. bei gleicher Entfernung, Lage und Größe der dem Beobachter zugekehrten Fläche aufgehängte Wäsche denselben Eindruck wie Holz, Stein oder Eisen. Ob nahe große tropfbarflüssige Körper, wie Meereswogen oder starke Wassersäulen ebenso wirken können, ist dem Verfasser unbekannt, doch hält er es für wahrscheinlich. – Ein Spalier wirkt in eigenthümlicher Weise matt und undeutlich. – Bei der Annäherung an den hohen Viaduct bei Waldheim hat Verfasser auf der von jenem überbrückten Straße schon über hundert Schritt weit, besonders an der Stirn, öfters einen Eindruck wie von einem hauptsächlich aus der Höhe wirkenden Gegenstande verspürt und zwar in anderer Weise als bei einer zusammenhängenden Mauer. – Die gewöhnlichen Bäume an einer Chaussee kann Verfasser höchstens acht Fuß weit fühlen; eine flache Hand nur etwa drei Zoll weit.

Genau taxiren lassen sich die Dimensionen eines Körpers beim Verharren auf einer Stelle durch das Ferngefühl selbst dann nicht, wenn die Entfernung dabei als bekannte Größe mit in Rechnung gebracht werden kann. Deshalb läßt sich auch durch dieses Gefühl die Größe geschlossener Räume (zumal bei völliger Stille) nur ganz oberflächlich beurtheilen, und niemals die Form, sondern immer nur das Vorhandensein von Gegenständen gewahren.

Wenn die Aufmerksamkeit durch etwas Anderes lebhaft beschäftigt wird, zeigt sich das Ferngefühl in der Regel gar nicht. Dasselbe ist auch bei einer halbwegs raschen Annäherung des Bemerkenden oder des Bemerkten der Fall. Durch eine recht langsame Annäherung wird das Gefühl etwas erhöht; durch das Licht wird es geschwächt, gewissermaßen verworren, aber nur wenn das Licht durch einen wahrzunehmenden durchsichtigen Gegenstand von vorn das Auge des Untersuchenden trifft und empfunden werden kann. – Das beste Verstärkungsmittel für das Ferngefühl ist der Schall, durch welchen auch außerhalb seines gewöhnlichen Bereiches befindliche Körper fühlbar werden können, weshalb der Blinde, wenn er sich an einem Orte orientiren will, auch in der Regel ein Geräusch zu Hülfe nimmt. Ein starker Schall nützt aber hierbei nicht mehr als ein schwacher; ein sehr starker und voller stört sogar den Eindruck.

Täuschungen giebt es natürlich in diesem Gebiete der Wahrnehmung ebenfalls. So scheint z. B. oft eine drei bis vier Fuß hohe Körpermasse die Gesichtshöhe zu haben. Auch ist Verfasser mehrmals vor einer scheinbar dicht vor ihm stehenden, aber im nächsten Momente schon wieder verschwundenen Säule oder Gestalt zurückgeprallt, besonders beim raschen Umbiegen um eine Hausecke.

Benutzt wird das Ferngefühl von Blinden besonders zur Erkennung offener oder doch vertiefter Thüren, überhaupt zur Orientirung in Beziehung auf Oertlichkeiten und Gegenstände und zur Vermeidung des Anstoßens. Jedoch gehört es jedenfalls bei den meisten Blinden zu den Erscheinungen, die ihrer Alltäglichkeit wegen hinsichtlich ihrer Eigenthümlichkeiten und Ursachen gewöhnlich ganz unbeachtet gelassen werden. Deshalb gebrauchen es auch die meisten fast unbewußt, und zwar so lange, bis Sehende, welchen die Fähigkeit der Blinden, Körper ohne Berührung wahrzunehmen, auffällt, sie darauf aufmerksam machen. Nicht selten wird auch geglaubt, daß ein solcher Blinder durch das Gehör oder das Gesicht noch wahrnehme. Allein auch bei Ruhe und Dunkelheit und auch bei Solchen, die gar keine Augäpfel haben, wirkt das Ferngefühl. – Schließlich stellt nun Verfasser an die Physiologie die Frage: wie entsteht dieses Gefühl?

Richard Ernst Sergel in Waldheim.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eine
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_287.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2017)