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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

examen pro praxi nicht erlassen worden ist. Dieser Dirigent, um es gleich hier zu erwähnen, eine imponirende Persönlichkeit, war zwar in Geschäftssachen, wiewohl ohne Pedanterie, streng, aber doch höchst beliebt, denn er hatte das Herz auf dem rechten Flecke und hielt auf seine Leute, sie, wo thunlich, in Schutz nehmend. –

Eines Abends, Sonnabends, saßen die vier Bekannten in ihrem gemüthlichen Stammkneipchen, der „Falle“, bei einem duftenden Glase Grog, und Reh, welcher, wie bei fast allen Gelegenheiten, wo der Geldbeutel in Frage kam, auch hier der Gast der Andern war, mußte, wie schon oft, als Zielscheibe mancher humoristischen Bemerkung herhalten.

Nun hatten die anderen Drei schon längst die edle Absicht gehabt, Reh mit einem ebenso kostbaren wie eigenthümlichen Geschenk zu überraschen. Sie wußten nämlich, daß derselbe auf das Allerdringlichste eines neuen Frackes bedurfte, da sein gegenwärtiger, welcher an die Zeit der Confirmation des Besitzers erinnerte, ein jeder Mode hohnsprechendes Gebilde war, auf welchem auch ohne Mitwirkung von Molten das nachsichtigste Freundesauge vergebens nach einem in Vergessenheit hängen gebliebenen Restchen Wolle suchte, daß Reh aber ebensowenig im Stande war, dieses immer unentbehrlicher werdende Stück sich aus eigenen Mitteln anzuschaffen. Der heutige Abend war daher bestimmt worden, die Ermöglichung der Ausführung des schönen Vorhabens in einer nicht verletzenden Form anzubahnen. So kam man denn bei dieser Gelegenheit auf das Capitel der Verkennung der Verdienste und Befähigungen Reh’s, welcher heute, wahrscheinlich in Folge des edlen Getränkes, hierdurch nicht in den gewöhnlichen Zorn, sondern ausnahmsweise in eine mehr melancholische oder elegische Stimmung verfiel.

Im weiteren Verlaufe des Gespräches wurde ihm dann von dem Einen der Rath gegeben, sich an die Quelle zu wenden, um durch den Eindruck seiner persönlichen Erscheinung – auf welche er sich übrigens nicht wenig zu Gute zu thun pflegte – und durch Darstellung des wahren Sachverhaltes die Stimmung der Herren seines Schicksals ihm günstig umzuwandeln, da man wohl wußte, daß eben der Mangel eines Frackes dies nicht zuließ. Je mehr man in Reh auf Realisirung des Reiseplanes drang, desto mehr erklärte er zwar, daß er von der günstigen Wirkung überzeugt sei, mußte aber doch endlich, durch die Gewandtheit seiner Bekannten in die Enge getrieben, wehmüthig den wahren Grund der Behinderung angeben.

Kaum war das längsterwartete Losungswort gefallen, als auch sofort Goldmann mit dem Vorschlage hervortrat, Reh möge doch beim Ministerium unmittelbar in geziemender Bittschrift um allergnädigste Gewährung eines Frackes anhalten. Mit wahrer Begeisterung wurde diese Idee von den beiden anderen Eingeweihten aufgenommen und, wenn die Sache richtig angegriffen würde, als jedenfalls von günstigstem Erfolge dargestellt, wobei es nicht an ein paar erfundenen ähnlichen Beispielen zum Belege fehlte.

Lange widerstand Reh, von einem ihm wohl selbst unerklärlichen Etwas gehalten, den Lockungen, aber endlich, durch die Alles bewältigende Ueberredungskraft der Uebrigen bezwungen, ertheilte er sein concedo, und Zehren übernahm mit der Versicherung, mit derartigem Formenwesen vertraut zu sein, die Anfertigung des Gesuchs. Hierauf bestimmte man beim Scheiden, am andern Vormittag zehn Uhr in der gemeinsamen Wohnung Zehren’s und Gohse’s zur Vorlesung, Prüfung und resp. Absendung des Gesuchs zusammenzukommen.

Es war ein heller Sonntagsmorgen aufgegangen, die Sonne schien hell und Glück verkündend. Der zehnte Glockenschlag hatte kaum ausgeklungen, als schon das vierblättrige Kleeblatt, wie verabredet, in der fashionablen Stube um den mit entsprechendem Frühstücke besetzten Tisch saß. Die Gläser klirrten, das Bittgesuch, ein mit Händen und Füßen versehenes stylistisches Meisterwerk, wurde seelenvoll vorgetragen, mit dem wohlverdienten ungetheiltesten Beifall aufgenommen und, nachdem Gohse Reh’s letztes Bedenken, „daß der Frack wahrscheinlich nicht passen würde“, mit der festen Versicherung: „das Ministerium habe von allen seinen Beamten die genaueste Personalkenntniß“, beseitigt hatte, versiegelt. Der Aufwärter Stiefel erschien und das welthistorische Document wurde ihm zur Beförderung übergeben – selbstverständlich nicht in die Hände des Ministeriums.

Vierzehn lange Tage gingen unserm Reh hin in „Hangen und Bangen in schwebender Pein“, dreihundertundsechsunddreißig Stunden der Furcht und Hoffnung, ob die Angelegenheit für ihn „himmelhoch jauchzend“ oder „zum Tode betrübt“ enden werde.[WS 1]

Während dieser Zeit waren, in’s Geheimniß gezogen, zwei weitere Personen eifrigst in der Sache beschäftigt, Reh’s Leibschneider nämlich und ein Copist. Ersterer fertigte mit kunstgerechter Hand nach dem ihm wohlbekannten Maße den Gegenstand der Petition, Letzterer verwerthete seine Kunst, Handschriften täuschend nachzumachen, in der Ausführung der ihm von den Alliirten hierzu anvertrauten, zum Gelingen des Werkes unentbehrlichen Verordnung, welche mit dem von einem alten Couvert abgenommenen Officialsiegel gehörig verschlossen und adressirt wurde. Text und Unterschrift waren treu nachgeahmt.

Wieder schritt Reh – es war Sonntag – im Geiste mit dem immer unheimlicher drohenden Gespenste der Ungewißheit kämpfend, die Hände sinnig auf den Rücken gelegt, mit großen Denkerschritten in der bescheidenen Stube auf und ab, da erscheint Stiefel und überreicht ihm einen Brief, „den er beim Holen der Postsachen ‚für die Herren‘ nebst einem Paket aus Gefälligkeit mitgenommen habe. Das Paket hätten die Herren zurückbehalten, Herr Reh sollte nur bald hinkommen, er würde schon wissen warum.“ – Ein zündender Blick auf den Brief – die bekannte Handschrift – das Siegel des Ministeriums – die Rechte zuckt – und eines der letzten Viergroschenstücke wandert aus der Tasche des Adressaten in Stiefel’s Tasche, welcher hiermit von der Bühne dankend abtritt.

Kaum schließt sich hinter demselben die Thür, so guckt auch die fiebernde Hand nach dem Siegel. Aber nein! Mit wunderbarer Selbstbeherrschung tritt Reh zu dem Einzehntel-Kistchen „Echter“, einem Geschenk seiner Gönner, aus welchem er nur bei ganz besonderen Gelegenheiten raucht, nimmt bedächtig eine Duftende heraus, zündet sie mit gehobenem Sonntagsgefühle an und streckt sich, soweit es dessen Länge zuläßt, auf das Canapee, den porösen Schlafrock über den Knieen übereinanderschlagend. Nun erst löst die bebende Hand das Siegel und er liest deutlich geschrieben und üblich vollzogen:

„Daß man dem Bittsteller in Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse, jedoch nur ausnahmsweise, das Gesuch zu bewilligen beschlossen.“

Nachdem der Beglückte das Gnadendocument oft genug von oben nach unten und umgedreht durchgelesen, tritt er ein halbes Stündchen später strahlenden Angesichts in die Wohnung der Freunde, wo auch Goldmann sich bereits eingefunden hat und wo auf dem Tische neben dem unvermeidlichen Frühstücke das wohlversiegelte und verschnürte Paket liegt. Nach Anhörung der den feierlichen Act würdig eröffnenden Anrede Goldmann’s thut Jeder einen Schnitt durch den Bindfaden – die Hülle löst sich mehr und mehr und „aus der Hülse blank und eben schält sich“ – ein moderner, feiner schwarzer Tuchfrack mit braunseidnem Futter!

Es wäre vergeblich, die Freude Reh’s und seine Bewunderung der Personalkenntnisse, denn der Frack saß wie angegossen, zu schildern. Es mag nur bemerkt werden, daß manches Glas auf die Generosität des Ministers und des Ministeriums geleert worden und Reh an diesem Tage nicht zu Tische gegangen sein soll. Am glücklichsten aber waren die edlen Geber über das gelungene Werk.

‚Doch mit des Geschickes Mächten
Ist kein ew’ger Bund zu flechten –
Und das Unglück schreitet schnell.‘ –

Noch waren kaum acht Tage in’s Land gegangen, Reh war seit zwei Tagen unwohl zu Hause geblieben und unsere drei Bekannten befanden sich in gewöhnlicher Thätigkeit auf ihren Expeditionsplätzen, Zehren unmittelbar am Zimmer des Chefs. Letzterer war eben mit Oeffnung der Postsachen beschäftigt. Plötzlich hört ihn von Zehren lebhaft den Stuhl zurückschieben und – ein Beweis großer Erregtheit – mit raschen Schritten auf- und abgehen. Unmittelbar darauf wurde die Thür schnell geöffnet und seine scharfe kurze Stimme rief: „Herr von Zehren, einen Augenblick!“ Das war bekanntes Wetterleuchten!

‚Ahnungsgrauend, todesmuthig‘ tritt Herr von Zehren ein. Der Dirigent überreicht ihm lakonisch zwei Schriften: „Was wissen Sie hiervon?“ – Zehren durchfliegt die erste und es wird ihm immer unheimlicher, denn in der Hand hält er eine Ministerialverordnung: „sofortige Bewandtnißanzeige über die Originalbeilage zu erstatten.“ Und diese Beilage? O Schrecken! Wie ‚Rehfüße‘ grinsen ihn drei Seiten lang die bekannten Schriftzüge an!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Nach Johann Wolfgang von Goethe, Egmont, 3. Akt:

    „Langen
    Und Bangen
    In schwebender Pein,
    Himmelhoch jauchzend,
    Zum Tode betrübt,…“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_303.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)