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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

„O! Das wäre schrecklich, entsetzlich!“ rief der Graf mit sichtlichem Schaudern.

Ich war nur zu geneigt, diese Fragen so wie das gestörte Wesen des Grafen seinem väterlichen Schmerze zuzuschreiben und fand in seinem Benehmen daher nichts Auffälliges. Nachdem ich meine Untersuchung des Patienten beendet hatte, forderte ich ihn auf, zur genaueren Aufklärung des Thatbestandes mir die näheren Umstände des Unfalls zu erzählen, da mir die Art und Weise der Verletzung manche räthselhafte Erscheinung bot und es mir darauf ankam, so speciell als möglich unterrichtet zu sein, ehe ich die nöthigen Verordnungen treffen wollte. Nach den Mittheilungen des Grafen war der Verwundete in Begleitung eines alten bewährten Reitknechts nach dem nahen Vorwerk geritten, um daselbst den neu erbauten Schafstall in Augenschein zu nehmen. Dicht vor dem Steinbruch scheute das Pferd vor einem großen Block, der zum Theil die Straße versperrte. Der junge Graf wollte das Thier zwingen über das Hinderniß zu setzen und gab ihm die Sporen und Peitsche zu kosten. Das sonst sanfte und gehorsame Thier bäumte sich und schleuderte den Reiter gegen einen Steinhaufen, wo ihn der schnell herbeieilende Diener bewußtlos fand und nur mit Mühe nach dem Schlosse zurückbrachte. Auf meinen Wunsch, den Reitknecht selbst zu sprechen, um einige nöthige Fragen an ihn zu richten, verfärbte sich der Graf und schien sichtlich verlegen.

„Sie werden schwerlich mehr erfahren, als ich Ihnen mitgetheilt habe. Der Mensch ist zwar treu wie Gold, aber im höchsten Grade bornirt und hat durch das Unglück vollends alle Besinnung verloren.“

„Es kommt mir hierbei auf die unbedeutendste Einzelheit an, und deshalb bitte ich Sie, den Reitknecht rufen zu lassen, damit ich ihn genauer examinire. Seine Aussagen können mir wichtige Fingerzeige über die Natur der Wunde und über die von mir einzuschlagende Behandlung liefern.“

Wie ich bemerken konnte, ergriff der Graf nur mit Widerstreben die silberne Glocke; worauf er dem hereintretenden Kammerdiener den Befehl ertheilte, den Reitknecht Jurek zu rufen. Nach einigem Zögern erschien der gewünschte Mann, dessen äußere Physiognomie allerdings das Urtheil des Grafen bestätigte und einen gewissen stupiden Ausdruck zeigte, wie er bei den unteren Ständen der slavischen Race nicht selten angetroffen wird. Die niedrige Stirn, umgeben von dem kurz geschnittenen blonden Haar, das platte Gesicht verrieth einen hohen Grad geistiger Beschränktheit, wogegen die grünlich schimmernden, schief geschlitzten Augen jene Verschmitztheit bekundeten, die sich mit einer mäßigen Bornirtheit ganz gut vertragen kann und gleichsam das Surrogat für die mangelnde Intelligenz abgiebt. Mit sclavischer Unterthänigkeit näherte er sich dem Grafen, dessen Rockzipfel er küssend an seine Lippen führte, während er mir einen mißtrauischen Blick zuwarf. Unwillkürlich erinnerte er mich an den Kettenhund, der die Hand seines Herrn mit Zärtlichkeit leckt, dagegen jedem Fremden die scharfen Zähne grimmig zeigt.

Nachdem der Graf ihn aufgefordert, mir die gewünschte Auskunft zu ertheilen, erzählte er den Vorgang in gleicher Weise mit überraschender Geläufigkeit, als sagte er eine auswendig gelernte Lection her. Um so stockender und mangelhafter beantwortete er die an ihn gerichteten Fragen über die näheren Details, womit ich seinen Redefluß unterbrach. Trotz aller Mühe konnte ich aus ihm nicht mehr herausbringen, als ich bereits durch den Grafen wußte; weshalb ich nach manchen vergeblichen Anstrengungen von allen weiteren Erkundigungen Abstand nahm, da mir die Beschränktheit des Reitknechts wirklich unbesiegbar schien. Das Wenige, was ich von ihm erfuhr, wurde ihm gleichsam tropfenweise und nur mit Hülfe des Grafen abgepreßt, der allein im Stande war, diese verstockte Maschine in Bewegung zu setzen, indem er wie ein Magnetiseur den Geist seines stupiden Dieners zu beherrschen und durch unsichtbare Zeichen zu leiten schien.

Unter diesen Umständen mußte ich mich mit diesen mangelhaften Resultaten begnügen und die nöthigen Anordnungen treffen, worauf ich das Schloß verließ, ohne dem bekümmerten Vater irgend eine Hoffnung auf die Rettung seines einzigen Sohnes geben zu können. Dringend ersuchte er mich, meinen Besuch zu wiederholen, indem er mir zu gleicher Zeit ein nach der Sitte jenes Landes übliches Honorar in die Hand drückte, das alle meine Erwartungen überstieg und wonach ich seine Liebe für den theueren Kranken zu bemessen glaubte. Als ich am nächsten Morgen meine Visite abstattete, fand ich den Patienten zwar bewußtlos, aber wider Erwarten noch am Leben; auch hatte sich die Congestion unter der fortdauernden Anwendung von Eisumschlägen und Blutentziehungen kaum merklich gebessert. Mehrere Wochen schwebte so der Kranke zwischen Leben und Tod, bis endlich seine jugendlich kräftige Constitution den Sieg davon trug und die Gefahr wie beseitigt schien, obgleich ein großer Schwächezustand ihn noch längere Zeit auf dem Lager gefesselt hielt. Während dieser Zeit zeigte der Graf die zärtlichste Besorgniß für seinen Sohn, indem er Tag und Nacht bei ihm wachte und ihn auch nicht einen Augenblick verließ. So oft ich kam, fand ich ihn in dem Krankenzimmer, wo er außer dem ihm treu ergebenen Reitknecht keinen Fremden duldete. Er selbst reichte dem Patienten die verordnete Medicin, machte ihm die nöthigen Umschläge und pflegte ihn mit einer Geduld und Ausdauer, wie sie sonst nur die liebevollste Mutter bei ähnlichen Gelegenheiten besitzt. Ich selbst bewunderte diese Hingebung und Opferfreudigkeit, die ich ihm am wenigsten zugetraut hatte, und beeilte mich, mein Urtheil über den mir früher so antipathischen Charakter im Stillen zu berichtigen.

Um so auffallender mußte mir selbst bei meinen flüchtigen Besuchen das Verhalten des in der Genesung begriffenen Sohnes gegen seinen Vater erscheinen. Sichtlich duldete der Erstere nur mit Scheu und Widerwillen die Gegenwart des Grafen, dessen Zärtlichkeit und Liebe keineswegs die verdiente Würdigung fand. Bei jeder Gelegenheit zeigte der junge Mann eine erhöhte Reizbarkeit, abwechselnd mit einer düsteren Melancholie, die ich jedoch auf Rechnung der schweren Verletzung und damit verbundenen nervösen Aufgeregtheit schrieb. Oefters überraschte ich ihn bei meinen Besuchen, wie er mit wahrhaft ängstlichen Blicken seinen Vater anstarrte, bei dem Tone seiner Stimme plötzlich zusammenfuhr und dann unerwartet sich seine Augen mit Thränen füllten, die er vor mir zu verbergen suchte. Der Graf sprach mit mir über diese räthselhafte Erscheinung, welche ihn von Neuem besorgt machte. Er sprach bei dieser Gelegenheit wiederholt die Befürchtung aus, daß die bedeutende Gehirnerschütterung wohl eine geistige Störung des Patienten zurückgelassen haben könnte, worüber ich ihn jedoch nach meiner besseren Ueberzeugung zu beruhigen suchte.

Natürlich hatte der traurige Vorfall in der ganzen Umgegend Aufsehen erregt und eine große Theilnahme gefunden. Man interessirte sich lebhaft für das Schicksal des Verunglückten, der wegen seiner Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit zahlreiche Freunde gefunden hatte, während der Graf nichts weniger als beliebt war. Boshafte Zungen behaupteten sogar, wenn auch anfänglich nur leise und mit Vorsicht, daß ihm der Tod seines Sohnes erwünscht gewesen wäre, da er als nächster Erbe desselben mit einem Male allen seinen bekannten Verwirrungen und Zerrüttungen seines Vermögens überhoben worden wäre. Merkwürdiger Weise fanden diese Verleumdungen immer mehr Glauben und gestalteten sich mit der Zeit zu der furchtbaren Beschuldigung: daß der eigene Vater den Mord des Sohnes veranlaßt habe.

Bald nahmen diese nur vagen Gerüchte eine festere Gestalt an, als sich ein Zeuge in der Person eines Arbeiters fand, der sich in dem Steinbruch beim Suchen eines verlorenen Hammers verspätet hatte und unwillkürlicher Zuschauer eines entsetzlichen Verbrechens geworden war. Nachdem dieser Wochen lang aus Furcht und Respect vor dem angesehenen und mächtigen Grafen geschwiegen hatte, trat er jetzt plötzlich öffentlich mit einer Anklage hervor, die zur Ehre der Menschheit kaum glaubhaft schien. Nach der Aussage des Mannes war der junge Herr in der Nähe des Steinbruches von dem Reitknecht des Grafen überfallen, mit Gewalt vom Pferde gerissen und gegen die am Wege liegenden Felsblöcke absichtlich geschleudert worden, während der Graf selbst in einiger Entfernung der Ausführung des von ihm wahrscheinlich veranlaßten Verbrechens beiwohnte. Diese furchtbare Beschuldigung wurde noch durch eine Reihe mir leider jetzt entfallener Nebenumstände, vor Allem aber durch seine bekannte pecuniäre Lage und das Interesse am Tode seines Sohnes so wesentlich unterstützt, daß sich die Staatsanwaltschaft veranlaßt, sah die Untersuchung gegen den Reitknecht wegen beabsichtigten Mordes und gegen den Grafen wegen intellectueller Urheberschaft desselben Verbrechens einzuleiten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_307.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)