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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Im Laufe des Processes wurde das Hauptgewicht auf die Aussage des unglücklichen Sohnes gelegt, der deshalb vom Gericht als Zeuge vernommen werden mußte. Derselbe war bereits so weit genesen, um ohne Gefahr die nöthige Auskunft ertheilen zu können, obgleich ich in meinem Gutachten seine nervöse Reizbarkeit und die damit verbundene geistige Aufregung pflichtgemäß hervorhob. Er selbst berief sich auf das verwandtschaftliche Verhältniß zu seinem Vater und bat, deshalb von seiner Vernehmung abzustehen. Das Gericht billigte vollkommen diese Gründe, forderte aber sein Zeugniß gegen den Reitknecht, das er auch nicht länger verweigern konnte, obgleich die Schuld des Letzteren nothwendiger Weise die Verurtheilung des Grafen herbeiführen mußte.

An dem Tage, wo die öffentliche Gerichtsverhandlung stattfand, war der Andrang des Publicums so stark, daß der Zuschauerraum die herbeigeströmte Menge nicht zu fassen vermochte. Die Seltenheit des Falles, die Größe und Unnatürlichkeit des Verbrechens, die hervorragende Stellung und die bekannte Persönlichkeit des Angeschuldigten mußten das größte Interesse erregen und die höchste Spannung hervorrufen. Als die Angeklagten hereingeführt wurden und auf der Sünderbank ihren Platz nahmen, herrschte in dem weiten Saale eine Todtenstille. Alle Augen waren auf den Grafen gerichtet, der einfach, aber elegant gekleidet, nur etwas bleicher als gewöhnlich erschien, doch sonst seine vornehme, ruhige Haltung bewahrte. Das immer noch schöne Gesicht des wohl conservirten Mannes verrieth auch nicht die geringste Bewegung, nur als er unter den anwesenden Zeugen seinen Sohn erblickte, glaubte ich ein leichtes nervöses Zucken seiner Muskeln zu beobachten. Beide wechselten einen Blick, der wie ein Blitz den Abgrund zweier Seelen beleuchtete, aber eben so schnell vorüberfuhr, worauf ein Lächeln der Befriedigung um die fein geschnittenen Lippen des Grafen schwebte. Neben seinem aristokratischen Herrn saß der plumpe Reitknecht mit stumpfen, gleichgültigen Zügen, die sich neu belebten, wenn das Auge des Grafen auf ihn fiel, oder dessen Stimme zu ihm klang, so daß er gleichsam unter dem magnetischen Zauber seines Gebieters zu stehen schien. Nachdem die beiden Angeklagten gehört worden waren, schritt der Präsident zur Vernehmung der vorgeladenen Zeugen. Zuerst legte der Steinarbeiter seine Aussagen ab, die nichts wesentlich Neues enthielten und von ihm beschworen wurden. Hierauf wurde der junge Graf aufgefordert, der Wahrheit gemäß den Vorgang zu erzählen. Seine Erscheinung steigerte die schon vorhandene Spannung auf das Höchste und erfüllte die Seele der Zuschauer mit banger Erwartung. Mit sichtlicher Anstrengung erhob sich der junge Mann von seinem Sitz, um die geforderte Auskunft zu ertheilen. Leichenblässe überzog das interessante, sanfte Antlitz und ein nervöses Zittern flog durch seine Glieder. Mit niedergeschlagenen Augen und leiser, von Seufzern unterbrochener Stimme beantwortete er die an ihn gerichteten Fragen. Während er sprach, wagte kaum ein Mensch zu athmen, um nicht ein Wort seiner so wichtigen Aussage zu verlieren.

Nach und nach jedoch schwand seine anfängliche Aufregung und mit fester, wenn auch tonloser Stimme erzählte er den Vorgang in einer Weise, welche den Reitknecht seines Vaters von aller Schuld freisprach, indem er wiederholt versicherte, von seinem scheuen Pferde herabgeworfen worden zu sein, so daß kein Dritter ihn beschädigt habe. Vergebens machte ihn der Präsident auf die Widersprüche seiner Angaben mit den Aussagen der übrigen Zeugen aufmerksam und ermahnte ihn zur Wahrheit, da er seine Worte beschwören müsse. Er blieb bei seiner Behauptung stehen und ließ sich durch nichts davon abbringen. Nur als der Gerichtshof sich zurückzog, um die Zulässigkeit seiner Vereidigung zu berathen, kehrte die frühere nervöse Unruhe zurück, doch ein Blick auf seinen angeklagten Vater gab ihm bald die nöthige Fassung wieder. Mit festen Schritten trat er auf Befehl des Präsidenten an den Tisch, auf dem ein gußeisernes Crucifix stand, um den ihm zuerkannten Zeugeneid zu leisten. Noch einmal machte ihn der Vorsitzende pflichtgemäß auf die Wichtigkeit eines solchen Schrittes aufmerksam und drohte ihm mit den zeitlichen und ewigen Strafen des Meineides. Einen Augenblick schien der junge Mann tief erschüttert zu zögern und einen innern Kampf zu kämpfen, dessen Ausgang die Versammlung und vor Allen der Angeklagte mit banger Spannung erwartete, da von seinen Worten der Ausgang der ganzen Verhandlung, die Ehre und das Glück seines Vaters abhing. Es war ein wahrhaft aufregender Moment und die kurze Pause dünkte Allen gewiß eine Ewigkeit. Der Graf sah auf seinen Sohn und das krampfhafte Zittern seiner Hände verrieth mir seine tiefe Bewegung. Mit einem schmerzlichen Blick auf seinen Vater sprach dieser mechanisch die bekannte Schwurformel mit erhobenen Fingern dem Präsidenten nach, während eine lange, feierliche Stille in dem Saale herrschte. Erst als der junge Graf auf seinen Sitz zurückkehrte, sah ich ihn wanken und fast zusammenbrechen, wobei sein Gesicht sich mit wahrer Todtenblässe überzog, so daß ich einen Sterbenden zu erblicken glaubte. Aber auch dieser Anfall[WS 1] einer erklärlichen Anwandlung von nervöser Schwäche ging so schnell vorüber, daß ihn außer mir wohl keiner der Anwesenden bemerkt hatte.

Unterdeß nahmen die Verhandlungen ohne weitere Störung ihren Verlauf, noch andere Zeugen wurden vernommen, deren Aussagen die zerrütteten Vermögensverhältnisse des angeklagten Grafen bekundeten und über seinen Charakter und seine Lebensweise ein keineswegs günstiges Licht verbreiteten. Auch mein ärztliches Gutachten wurde gefordert und meine Ansicht über die Natur der Wunde gehört. Ich gab mein objectives Urtheil ab, verschwieg aber keineswegs die mir aufgestoßenen Bedenken über die räthselhafte Verletzung, welche allerdings den Verdacht eines Verbrechens nicht ausschloß. Nach Beendigung des Verhörs ergriff der Staatsanwalt das Wort und hielt die Anklage sowohl gegen den Grafen wie gegen den Reitknecht aufrecht, indem er mit bewunderungswürdigem Scharfsinn die Schuld Beider trotz der beschworenen Aussage des entlastenden Hauptzeugen darthat. Mit Recht betonte der Redner die nahe verwandtschaftliche Stellung des Sohnes zu seinem Vater und die dadurch verminderte Glaubwürdigkeit seiner Aussagen, wogegen er das Interesse des Grafen an dem Tode des jungen Mannes unwiderleglich folgerte und dessen intellectuelle Urheberschaft an dem beabsichtigten Morde durch eine Kette eng mit einander verbundener Indicien und Thatsachen begründete. Dagegen suchte die nicht minder geistvolle Vertheidigung den Eindruck dieser Worte zu schwächen und die Beweise zu entkräften, indem sie sich auf das in der That bestehende liebevolle Verhältniß des Grafen zu seinem Sohne, so wie auf das gewichtige Zeugniß des Letzteren stützte, dessen volle Gültigkeit dem ihm fremden Reitknecht gegenüber nicht bezweifelt werden könnte, ohne einen Meineid vorauszusetzen. Während dieser ganzen Verhandlung beobachtete der Graf eine merkwürdige Ruhe, als wenn es sich um die Angelegenheit eines Dritten handelte. Er verzog keine Miene und schien auch nicht einen Augenblick seine Freisprechung zu bezweifeln.

Nachdem der Vorsitzende noch einmal eine kurze lichtvolle Zusammenstellung der Verhandlungen gegeben und die Fragstellung festgesetzt worden war, zogen sich die Geschworenen zurück, um ihren Wahrspruch zu fällen. Die Berathung dauerte längere Zeit; ein Beweis, daß die Meinungen über den Fall getheilt waren. Endlich öffnete sich die Thür, das Gericht nahm wieder die verlassenen Plätze ein und das laute Getöse der Versammlung verstummte, der würdige Obmann der Geschworenen verkündigte mit bewegter Stimme das Urtheil, welches für beide Angeklagte auf „Schuldig“ lautete. In demselben Augenblick ertönte ein herzzerreißender Schrei; nicht der verurtheilte Graf, sondern sein armer Sohn hatte ihn ausgestoßen und wurde ohnmächtig fortgetragen, während der entehrte Vater in sein Gefängniß wankte, wo man ihn am nächsten Tage als Leiche an den Gitterstäben seines Fensters hängen fand.

Zwar gelang es mir, den unglücklichen jungen Mann, der in Folge der unausbleiblichen Erschütterung in ein Nervenfieber verfiel, am Leben zu erhalten, aber sein Geist war so gestört, daß er in einer bekannten Irrenanstalt untergebracht werden mußte. Aus seinen verwirrten Reden konnte ich mit Gewißheit entnehmen, daß er, um seinen Vater zu retten, einen falschen Eid geschworen hatte. Durch die Bemühungen des ausgezeichneten Irrenarztes wurde er mit der Zeit wiederhergestellt, aber eine tiefe Schwermuth begleitete ihn durch das fernere Leben. Wie ich später erfuhr, hat er seine Güter verkauft und den Ertrag derselben einer frommen Stiftung überwiesen. Er selbst soll in einem französischen Kloster die ersehnte Ruhe und Versöhnung mit seinem Gewissen gefunden haben, das er mit dem, wenn auch hier verzeihlichen, Verbrechen des Meineides belastet hatte.

Max Ring.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Unfall
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_308.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)