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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Mannes … Er trug sie hinter den Schirm und stürzte gleich darauf wie ein Rasender auf die Soldaten zu.

Sie hatten sämmtlich die Weisung erhalten, beim Laden der Gewehre die Kugeln abzubeißen und im Mund zu behalten, das war das ganze Wunder. Einer derselben jedoch, ein ungelenkes Bauernkind, hatte, völlig verwirrt durch den Anblick der versammelten Menschenmenge, in jenem verhängnißvollen Moment den Kopf verloren – als die fünf Anderen auf den leidenschaftlich herausgestoßenen Befehl des Taschenspielers die Kugeln sofort aus dem Munde holten, da brachte er zu seinem eigenen Entsetzen ein wenig Pulver zum Vorschein – seine Kugel hatte die unglückliche Frau durchbohrt.

Die Züge des Polen verzerrten sich bei diesem Ergebniß in Schmerz und Verzweiflung, und er schlug, ganz außer sich, den unfreiwilligen Verbrecher in’s Gesicht.

Augenblicklich entstand eine unglaubliche Verwirrung im Saale. Mehrere Damen wurden ohnmächtig, und zahllose Stimmen schrieen nach einem Arzt. Doctor Böhm aber, der den Vorfall schneller begriffen hatte, als alle Anderen, war schon längst hinter dem Schirm bei der Verwundeten. Als er endlich mit erblaßtem Gesicht wieder hervortrat, sagte er leise zu Hellwig: „Muß ohne Gnade sterben, das arme, prächtige Weib!“

Eine Stunde später lag die Frau des Taschenspielers auf einem Bett im Gasthof zum Löwen. Man hatte sie auf einem Sopha aus dem Saal getragen; Heinrich war einer der Träger gewesen. „Na, Herr Hellwig, hatte ich Recht oder Unrecht mit dem Unglücksvieh, dem Rappen?“ hatte er seinen Herrn im Vorübergehen gefragt, und dabei waren ihm dicke Thränen über die Backen gelaufen.

Die Frau lag still, mit geschlossenen Augen da. Ihre entfesselten Haare fielen in einzelnen Strähnen über die weißen Kissen und den Bettrand hinab, und die goldigen Spitzen ringelten sich auf dem dunklen Fußteppich.… Vor dem Bett kniete der Taschenspieler; die Hand der Verwundeten ruhte auf seinem Kopfe, den er tief eingewühlt hatte in die Bettdecke.

„Schläft Fee?“ flüsterte die Frau fast unhörbar, während sie mühsam die Lider öffnete.

Der Taschenspieler hob den Kopf und nahm die bleiche Hand zwischen die seinigen.

„Ja,“ murmelte er mit schmerzverzogenen Lippen. „Die Tochter des Hauses hat sie mitgenommen in ihr Schlafzimmer; sie liegt dort in einem weißen Bettchen – unser Kind ist gut aufgehoben, Meta, mein süßes Leben.“

Die Frau blickte mit einem unaussprechlichen Ausdruck innerer Leiden auf ihren Mann, dem die Verzweiflung aus den Augen glühte.

„Jasko – ich sterbe!“ seufzte sie.

Der Taschenspieler sank auf den Teppich zurück und wand sich wie in den heftigsten körperlichen Schmerzen.

„Meta, Meta, gehe nicht von mir!“ rief er außer sich. „Du bist das Licht auf meinem dunklen Wege! Du bist der Engel, der die Dornen meines verfehmten Berufes sich in’s Herz gestoßen hat, damit sie mich nicht berühren sollten! … Meta, wie soll ich leben, wenn Du nicht mehr neben mir stehst mit dem behütenden Auge und dem Herzen voll unsäglicher Liebe? Wie soll ich leben, wenn ich Deine berauschende Stimme nicht mehr höre, Dein himmlisches Lächeln nicht mehr sehe? Wie soll ich leben mit dem marternden Bewußtsein, daß ich Dich an mich gerissen habe, um Dich namenlos elend zu machen? … Gott, Gott, da droben, Du kannst mich nicht in diese Hölle stoßen! …“ Er weinte leise. „Ich will erst sühnen, was ich an Dir gefrevelt habe, Meta. Ich will für Dich arbeiten, ehrlich arbeiten, bis mir das Blut unter den Nägeln hervorspringt – ich will arbeiten mit Hacke und Spaten. Wir wollen uns still und zufrieden in einen Winkel der Erde zurückziehen“ – er riß das schwarze, mit Goldflittern besäete Sammetwamms von den Schultern – „fort mit dem Plunder! Er soll mich nie mehr berühren… Meta, bleibe bei mir, wir wollen ein neues Leben anfangen!“

Ein schmerzliches Lächeln flog um die Lippen der Sterbenden. Mühsam erhob sie den Kopf; er schob seinen Arm unter und preßte mit der linken Hand ihr Gesicht wie wahnsinnig an seine Brust.

„Jasko, fasse Dich – sei ein Mann!“ stöhnte sie; ihr Haupt sank wie leblos zurück, aber sie öffnete die halb gebrochenen Augen wieder, und es schien, als klammere sich die scheidende Seele noch einmal verzweiflungsvoll an die zusammenbrechende Hülle – diese Lippen, die in Staub zerfallen sollten, mußten noch einmal sprechen; das Herz durfte nicht stillstehen und die Qualen unausgesprochener Mutterangst mit unter die Erde nehmen.

„Du bist ungerecht gegen Dich selbst, Jasko,“ sagte sie nach einer Pause, während welcher sie noch einmal den Rest ihrer Kräfte zusammengerafft hatte; „ich bin nicht elend geworden durch Dich… Ich bin geliebt worden, wie selten ein Weib, und diese Jahre des Liebesglückes wiegen wohl ein ganzes, langes Menschenleben auf… Ich habe gewußt, daß ich dem Taschenspieler meine Hand reiche – ich bin aus dem Vaterhause, das mich um meiner Liebe willen verstieß, hellen Blickes gegangen, um an Deiner Seite zu leben… Wenn Schatten mein Glück getrübt haben, so trifft mich, mich allein die Schuld, die ich meine Kraft überschätzt hatte und die kleinmüthig zusammenbrach unter der Misère Deiner Stellung… Jasko,“ fuhr sie leiser fort, „den Mann erhebt der Gedanke, daß seine Kunst, gleichviel welche, ihn adle, über die engherzigen Ansichten der Menschen – das Weib aber zuckt unter den Nadelstichen einer geringschätzenden Behandlung… O Jasko, die Sorge um Fee macht meine Sterbestunde zu einer qualvollen, schrecklichen! Ich beschwöre Dich, halte das Kind fern von Deinem Beruf!“

Sie faßte nach seiner Hand und zog sie an sich. Ihre ganze Seele drängte sich noch einmal in diese schönen Augen, die sich binnen Kurzem verdunkeln sollten im Todeskampf.

„Ich fordere unsäglich Schweres von Dir, Jasko!“ fuhr sie flehentlich fort. „Trenne Dich von Fee – gieb sie unter die Obhut einfacher, braver Menschen, lasse sie inmitten eines ruhigen, stillen Familienlebens aufwachsen – versprich mir das, mein einzig geliebter Mann!“

Mit von Thränen erstickter Stimme gelobte es ihr der Mann. Es folgte eine schreckliche Nacht, der Todeskampf wollte nicht enden. Als aber das Frühroth durch die Fenster brach, da warf es seine Rosen auf eine schöne Frauenleiche, deren verklärte Züge die Kämpfe der letzten Stunden nicht mehr ahnen ließen. Orlowsky hatte sich über die erkaltende Hülle geworfen, und nur der Anstrengung mehrerer Männer gelang es, ihn hinwegzureißen und in ein anderes Zimmer zu bringen.

Am dritten Tag gegen Abend wurde die „Spielersfrau“ unter großem Zudrang zur Erde bestattet. Mitleidige Herzen hatten den Todtenschrein mit Blumen bedeckt, und unter den angesehenen Männern der Stadt, die im Leichenzug schritten, war auch Hellwig. … Der Taschenspieler brach zusammen, als die ersten Schollen auf den Sarg fielen; aber Hellwig, der neben ihm stand, stützte ihn und führte ihn in die Stadt zurück. Er blieb mehrere Stunden allein bei dem Tiefgebeugten, der bis dahin jeden Zuspruch heftig zurückgewiesen und sogar versucht hatte, Hand an sich zu legen. … Die an der Thür des Sterbezimmers vorüber gingen, hörten bisweilen ein heftiges Aufschluchzen des unglücklichen Mannes, oder Ausbrüche leidenschaftlicher Zärtlichkeit, auf die süßes Kindergeschwätz antwortete – sie klangen herzzerreißend zusammen, jene thränenerstickte Stimme und die lachenden Silbertöne des Kindes.


3.

Der Abend war weit vorgerückt. Ein scharfer Novemberwind fegte durch die Straßen, und die ersten Schneeflocken taumelten auf Dächer und Straßenpflaster und auf die dunkle, frisch aufgeworfene Erde des Grabhügels, der sich über der jungen Frau des Polen wölbte.

„Inmitten des Hellwig’schen Wohnzimmers stand ein gedeckter Tisch. Es waren massive, silberne Bestecke, die neben den Tellern lagen, und das weiße Damasttischtuch hatte Atlasglanz und zeigte ein prachtvolles Muster. Die Lampe stand auf dem kleinen, runden Sophatisch, hinter welchem die Frau Hellwig saß und an einem langen, wollenen Strumpfe strickte. Sie war eine große, breitschultrige Frau im Anfang der vierziger Jahre. Vielleicht war dies Gesicht im Schimmer der Jugend schön gewesen, wenigstens hatte das Profil jene classische Linie, welche die Gesetze der regelmäßigen Schönheit verlangen; aber hinreißenden Zauber hatte diese Frau wohl nie besessen. Und mochte ihr großes Auge auch noch so schöngeschnitten und glänzend, ihr Teint noch so strahlend gewesen sein, sie hatten sicher nicht jenen Schmelz zu ersetzen vermocht, den ein reiches Seelenleben über die Züge haucht – wie hätte sich dies Gesicht so versteinern können bei innerer Wärme?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_323.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)