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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Wie wäre es möglich gewesen, nach einer Jugend voll seligen Gebens und Nehmens, nach den zahllosen Anregungen und Empfindungen, die das Leben in der empfänglichen Seele weckt, noch so eisig zu blicken, wie diese starren, grauen Augen blickten? … Ein dunkler Scheitel legte sich in einer strengen, festen Linie um die noch immer weiße Stirn. Das übrige Haar dagegen verschwand unter einem Mullhäubchen von tadelloser Frische. Diese Kopfbedeckung und ein schwarzes Kleid von gesucht einfachem Schnitt mit enganliegenden Aermeln und schmalen, weißen Manschettenstreifen am Handgelenk gaben der gesammten Erscheinung etwas Puritanerhaftes.

Dann und wann wurde eine Seitenthür geöffnet, und das runzelvolle Gesicht einer alten Köchin erschien forschend in der Spalte.

„Noch nicht, Friederike!“ sagte Frau Hellwig jedes Mal mit eintöniger Stimme, ohne aufzublicken; aber die Nadeln flogen immer rascher durch die Finger und ein eigenthümlicher Zug von Verbissenheit lagerte um die schmalen Lippen. Die alte Köchin wußte genau, daß ‚die Madame‘ ungeduldig sei; sie liebte es, zu schüren, und rief endlich in weinerlichem Ton in das Zimmer:

„Du lieber Gott, wo aber auch nur der Herr bleibt! Der Braten wird schlecht, und wann soll ich denn heute fertig werden?“

Diese Bemerkung trug ihr zwar eine Rüge ein, denn Frau Hellwig litt es nicht, daß ihre Leute unaufgefordert ihre Meinung äußerten; aber sie zog sich vergnüglich sammt ihrem Verweis in die Küche zurück, hatte sie doch gesehen, daß die Madame nun auch eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen hatte.

Endlich wurde die Hausthür aufgemacht. Der volle, tiefe Klang der Thürglocke scholl durch die Hausflur.

„Ach, das hübsche Klingkling da oben!“ rief draußen eine klare Kinderstimme.

Frau Hellwig legte den Strickstrumpf in ein vor ihr stehendes Körbchen und erhob sich. Befremden und Erstaunen hatten den Ausdruck der Ungeduld verdrängt – sie sah gespannt über die Lampe hinweg nach der Thür. Draußen kratzte Jemand unzählige Male mit den Füßen über die Strohmatte, das war ihr Mann. Gleich darauf trat er in das Zimmer und ging mit etwas unsicheren Schritten auf seine Frau zu. Er trug ein kleines Mädchen, das ungefähr vier Jahre alt sein mochte, auf dem Arme.

„Ich bringe Dir hier etwas mit nach Hause, Brigittchen,“ sagte er bittend, aber er verstummte sogleich wieder, als sein Auge das seiner Frau traf.

„Nun?“ fragte sie, ohne sich zu bewegen.

„Ich bringe Dir ein armes Kind –“

„Wem gehört es?“ unterbrach sie ihn kalt.

„Dem unglücklichen Polen, der seine junge Frau auf eine so schreckliche Weise verloren hat. … Liebes Brigittchen, nimm die Kleine gütig auf!“

„Doch wohl nur für diese Nacht?“

„Nein – ich habe dem Mann heilig versprochen, daß das Kind in meinem Hause aufwachsen soll.“

Er sprach diese Worte rasch und fest; denn es mußte ja doch einmal gesagt werden.

Das weiße Gesicht der Frau war plötzlich mit einer hellen Röthe übergossen, und ein schneidender Zug flog um ihre Lippen. Sie verließ ihren bisherigen Platz um einen Schritt und tippte mit einer unbeschreiblich malitiösen Bewegung den Zeigefinger gegen die Stirn.

„Ich fürchte, es ist nicht richtig bei Dir, Hellwig,“ sagte sie. Ihre Stimme hatte noch immer die kalte Ruhe, was in diesem Augenblick um so verletzender klang. „Mir, mir eine solche Zumuthung? … Mir, die ich mein Haus zu einem Tempel des Herrn zu machen suche, Komödiantenbrut unter das Dach zu bringen, dazu gehört mehr noch, als – Einfalt.“

Hellwig fuhr zurück, und ein Blitz zuckte aus seinen sonst so gutmüthigen Augen.

„Du hast Dich gewaltig geirrt, Hellwig!“ fuhr sie fort. „Ich nehme dies Kind der Sünde nicht in mein Haus – das Kind eines verlorenen Weibes, das so sichtbarlich vom Strafgericht des Herrn ereilt worden ist.“

„So – ist das Deine Meinung, Brigitte? Nun, so frage ich Dich, welcher Sünden hatte sich Dein Bruder schuldig gemacht, als er auf der Jagd von einem unvorsichtigen Schützen erschossen wurde? Er war seinem Vergnügen nachgegangen – das arme Weib aber starb in Erfüllung einer schweren Pflicht.“

Das Blut wich der Frau aus dem Gesicht, sie wurde plötzlich kreideweiß. Einen Moment schwieg sie und richtete das Auge erstaunt und lauernd zugleich auf ihren Mann, der plötzlich eine solche Energie ihr gegenüber entwickelte.

Währenddem zog das kleine Mädchen, das Hellwig auf den Boden gestellt hatte, die rosenfarbene Capuze herunter, und ein reizendes Köpfchen voll kastanienbrauner Locken kam zum Vorschein; auch das Mäntelchen flog zur Erde… Wie verhärtet mußte das Herz der Frau sein, daß sie nicht sofort beide Arme ausbreitete und das Kind kosend an die Brust drückte! War sie völlig blind gegen den unsäglichen Liebreiz der kleinen Gestalt, die auf den zierlichsten Füßchen, die je in einem Kinderschuh gesteckt, durch das Zimmer trippelte und mit großen Augen die neue Umgebung betrachtete? … Das rosige Fleisch der runden Schultern quoll aus einem hellblauen Wollkleidchen, dessen Bändchen und Säume zierliche Stickerei zeigten – vielleicht war dieser Schmuck des Lieblings die letzte Arbeit der Hände gewesen, die nun im Tode erstarrt waren.

Aber gerade der elegante Anzug, der ungezwungene, geniale Fall der Locken auf Stirn und Hals, die graziösen Bewegungen des Kindes empörten die Frau.

„Nicht zwei Stunden möchte ich diesen Irrwisch um mich leiden,“ sagte sie plötzlich, ohne auf die eclatante Zurechtweisung ihres Mannes auch nur eine Silbe zu erwidern. „Das zudringliche, kleine Ding mit den wilden Haaren und der entblößten Brust paßt nicht in unseren ernsthaften, strengen Haushalt – das hieße geradezu der Leichtfertigkeit und Liederlichkeit Thür und Thor öffnen… Hellwig, Du wirst diesen Zankapfel nicht zwischen uns werfen, sondern dafür sorgen, daß die Kleine wieder zurückgebracht wird, wo sie hingehört.“

Sie öffnete die Thür, die nach der Küche führte, und rief die Köchin herein.

„Friederike, ziehe dem Kind die Sachen wieder an,“ befahl sie, auf Capuze und Mantel der Kleinen deutend, die noch am Boden lagen.

„Du gehst augenblicklich in die Küche zurück!“ gebot Hellwig mit lauter, zorniger Stimme und zeigte nach der Thür.

Die verblüffte Magd verschwand.

„Du treibst mich zum Aeußersten durch Deine Härte und Grausamkeit, Brigitte!“ rief der erbitterte Mann. „Schreibe es daher Dir und Deinen Vorurtheilen zu, wenn ich Dir jetzt Dinge sage, die sonst nie über meine Lippen gekommen wären… Wem gehört das Haus, das Du, wie Du sehr irriger Weise behauptest, zu einem Tempel des Herrn gemacht haben willst? – Mir … Brigitte, Du bist auch als arme Waise in dies Haus gekommen – im Lauf der Jahre hast Du das vergessen, und, Gott sei es geklagt, je eifriger Du an diesem sogenannten Tempel gebaut, je mehr Du Dich befleißigt hast, den Herrn und die christliche Liebe und Demuth auf den Lippen zu führen, um so hochmüthiger und hartherziger bist Du geworden… Dies Haus ist mein Haus, und das Brod, welches wir essen, bezahle ich, und so erkläre ich Dir entschieden, daß das Kind bleibt, wo es ist… Und ist Dein Herz zu eng und liebeleer, um mütterlich für die arme Waise zu fühlen, so verlange ich wenigstens von meiner Frau, daß sie in Rücksicht auf meinen Willen dem Kind den nöthigen, weiblichen Schutz zu Theil werden läßt… Wenn Du nicht Dein Ansehen bei unseren Leuten verlieren willst, so triff jetzt die nöthigen Anordnungen zur Aufnahme des Kindes – außerdem werde ich die Befehle geben.“

Nicht ein Wort mehr kam über die weißgewordenen Lippen der Frau. Jede Andere würde wohl in einem solchen Augenblick der völligen Ohnmacht zu der letzten Waffe, den Thränen, gegriffen haben; aber diese kalten Augen schienen den süßen, erleichternden Quell nicht zu kennen. Dieses völlige Verstummen, diese eisige Kälte, mit der sich die ganze Frauengestalt förmlich panzerte, hatte etwas Beängstigendes und mußte jedem Anderen die Brust zuschnüren… Sie griff schweigend nach einem Schlüsselbund und ging hinaus.

Mit einem liefen Seufzer nahm Hellwig die Kleine bei der Hand und ging mit ihr im Zimmer auf und ab. Er hatte einen furchtbaren Kampf gekämpft, um diesem verlassenen Wesen eine Heimath in seinem Hause zu sichern, er hatte seine Frau tödtlich beleidigt; nie, nie – das wußte er – vergab sie ihm die bitteren Wahrheiten, die er ihr eben gesagt hatte, denn sie war unversöhnlich.


(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_324.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)