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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

überschwengliche Imagination die Haupttriebfedern in Müller’s Seele waren und daß dieser die Fähigkeit besaß, die außergewöhnlichsten Bahnen einzuschlagen und sich in enthusiastischen Richtungen zu gefallen. Er fand jene seltsame Mischung von Demuth und Anmaßung, von Heuchelei und Freimuth, von Religiosität und frivoler Speculation, von weichlicher Sinnlichkeit und hoher Kraft, von Selbstbetrug und sophistischem Verstand in Müller’s Natur vereinigt, so daß er in ihm ein Werkzeug zur Welterneuerung nach jesuitischen Ordensgedanken, aber auch den Schlüssel zu den Schätzen der Miß zu finden glaubte.

Da dieser geistliche Reineke Fuchs wußte, daß Müller ursprünglich der katholischen Confession angehörte und durch William Sykson davon ab und in den Dienst der englischen Missionsgesellschaft gebracht worden war, so hielt er es für seine erste Aufgabe, Müller von Sykson zu trennen und den Einfluß des Letzteren gänzlich abzuschneiden. Letzteres wußte er auf’s Gründlichste damit zu bewerkstelligen, daß er, natürlich mit weisester Deckung seiner eigenen Person, einen Aufstand des katholisch-irischen Pöbels gegen den englischen Missionär anzettelte, der zu einem furchtbaren Ausbruch kam; nur mit Mühe entging W. Sykson dem Tode und entfloh nach England.

Aber noch ehe dieser Jesuitenstreich gelungen war, stand bereits Müller, ohne es zu merken, unter der Leitung des Bruder Martin, der ihn immer tiefer in das Labyrinth sectirerischer Plane, durch die Hallen und Kreuzgewölbe alterthümlicher Orden zur Schwelle des verheißenen tausendjährigen Reiches führte.

Es liegt nämlich die Vermuthung sehr nahe, daß eine geheime Gesellschaft, die ihren Ursprung vom Orden der Tempelherren ableitet, gleichwie notorisch in Portugal und Frankreich, so auch in Irland bestanden und sich den Namen „Christusorden“ beigelegt hat. Nach gewaltsamer Unterdrückung der Templer im vierzehnten Jahrhundert ist der Kern und das Wesen derselben in diesem Christusorden niedergelegt und durch geheime Mitglieder fortgepflanzt worden. Mit demselben ist der Orden der Jesuiten ganz nahe verwandt und es scheint dieser, seit er aufgehoben worden, mit den geheimen Templern, wenigstens in Irland, unter dem Namen Christusorden sich vereinigt zu haben, in welchem Bruder Martin eine Hauptperson gewesen sein mochte. Auch scheint in dieser geheimen Gesellschaft die Absicht obgewaltet zu haben, die den Balleien und Comthureien der ehemaligen Tempelherren beigelegten Privilegien, Gerechtsame und Immunitäten zu erneuern und unter der Firma des tausendjährigen Reiches eine theokratische Republik zu errichten, womit freilich die bestehenden Polizei- und Militärstaaten mit ihren Fürsten und Contributionen hätten wegfallen müssen. In Müller’s späterem Leben wird man diese Vermuthung immer deutlicher hervortreten sehen, daß er nämlich Mitglied dieser geheimen Gesellschaft und nicht blos religiöser Idealist und Enthusiast, sondern auch politischer Demagog gewesen sei, der den Riesenplan einer socialen Welterneuerung angestrebt habe.

In Folge seines Vertrauens auf den jesuitischen Lehrmeister ist es gekommen, daß Müller demselben das Geheimniß seiner hohen Abstammung mittheilte. Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte diese Nachricht des Jesuiten arglistige Seele. Ihm war es sogleich klar, daß, wenn Müller schon durch seine Naturanlagen zum Schwärmer für die weltumdrehenden Plane der Jesuiten und ihrer Anhängsel geschaffen sei, seine geheimnißvolle Geburt hierzu noch einen bedeutenden Vorsprung gewähre. Er hatte nichts Eiligeres zu thun, als der Miß H. die Nachricht zu überbringen, daß ihr Geliebter ein geborner Prinz aus Deutschland sei, der Thron, Vaterland und Schätze aufgegeben habe, um im Gewande der Niedrigkeit durch die Welt zu pilgern; wie derselbe mit allen Gaben unmittelbarer Erleuchtung und göttlicher Kraft ausgerüstet sei, Wunder zu thun und Weissagungen zu verkündigen, und wie durch ihn, den gottgesandten Propheten, die Erlösung von allen Banden der Erde und die Aufrichtung des tausendjährigen Reiches geschehen werden. Darüber war die Miß außer sich vor Erstaunen und Entzücken. Müller war ihr jetzt Alles, ein Königssohn mit göttlichem Siegel, ein Gesalbter vom Herrn aller Herren, der größer sei, als alle Propheten der Vorzeit. Er wurde Herr über ihre Person und über ihr fürstliches Vermögen, wohnte von nun an beständig in ihrem Palais und schwamm in einem Meere von Seligkeit und Entzücken, welches alle seine Sinne berauschte und ihm schon Scepter und Krone vorgaukelte.

Unter so günstigen Umständen schritt nun Bruder Martin nebst seinen jesuitischen Gesellen und Handlangern auf das Ziel der Welterlösung los und entwarf in der verschleierten Gesellschaft, die aus geheimen Templern und Verwandten bestanden zu haben scheint, die Reichsordnung für das projecirte Herzogthum Jerusalem. Darin sollte Müller Herzog und Prophet sein, wie weiland Melchisedek König und Priester von Salem zugleich war, und als Emissär der Gesellschaft in die Welt gehen, wenn die Zeit dazu gekommen sei. – Er solle den Namen „Müller“ in der profanen Welt ablegen und dafür „Proli“ heißen. Dieses Wort heißt übersetzt „Sohn Gottes“ und kommt entweder her vom lateinischen proles (der Nachkomme, was dann hier ganz besonders den Größten aller Nachkommen von Juda und David würde zu bedeuten haben) oder, was am wahrscheinlichsten ist, vom syro-chaldäischen baroli, übersetzt: Sohn Gottes, welches Wort zusammengezogen Broli und durch Veränderung des B in P Proli gezeichnet wurde. Wir wollen ihn daher unter diesem Namen forthin aufführen, weil er sich ohnedies einige Jahre später officiell denselben durch Regierungsbeschluß hat beilegen lassen. Merkwürdig aber ist es, daß in dieser geheimen Gesellschaft geglaubt worden ist, Proli sei durch Geburt und Abstammung zum Gründer des tausendjährigen Reiches und zum Propheten darin bestimmt, seine Seele sei auch nicht mit der irdischen Hülle erzeugt und geboren (zu Kostheim), sondern sie sei vielmehr im Anbeginn der Schöpfung vorhanden gewesen, von Adam durch Fortwanderung auf Abraham, von diesem auf Moses, von diesem auf David, von da auf Christum und zuletzt in Proli’s Hülle übergegangen, wo sie durch und durch geheiligt und geläutert zur Erlösung der Welt gesendet worden sei. Daher wurden seinem Herzogstitel die Worte beigefügt: „vom Stamme Juda und aus der Wurzel David,“ damit anzudeuten, daß er weit mehr sei, als „von Gottes Gnaden“, daß der Stammbaum seiner Seele vielmehr auf den Uranfang aller Dinge zurückdatire.

Das Modell zur neuen Ordnung des tausendjährigen Reichs wurde vom ursprünglichen Paradiesesstande hergenommen, wie solcher vor dem Sündenfalle war. Da habe man von Polizei, von Obrigkeiten und Königen, von Kirchen und ordinirten Geistlichen, von Adeligen und Bürgerlichen, von regulirtem Militär mit Bajonneten und Kanonen, von Börsenspiel und Actienschwindel, von Ritterschaft und Hörigkeit, sowie von sonstigen Standesunterschieden nichts gewußt. Von solchen Dingen sollte das neue Reich Erlösung bringen und Befreiung von allem Druck und allen Gewalten auf Erden. Drei Stücke aber sollten vorzugsweise in Kraft und Wirksamkeit stehen: einmal Gütergemeinschaft wie bei einer großen Familie, so daß Niemand so arm sei, daß er Noth litte, und Niemand so reich, daß er Ueberfluß hätte; – ferner Freiheit für beide Geschlechter mit einander umzugehen, je nachdem sie für einander fühlen, ohne daß sie durch ein festes kirchliches Eheband verknüpft sein müßten; – und endlich Gleichheit aller Stände, ohne Geburtsvorzüge und Rangordnungen, Titel und Würden, Orden und Wappen. Unter diesem Banner sollten alle Völker der Erde zu einem einzigen versammelt werden, zu dessen Haupt und Prophet Proli von Anbeginn berufen sei.

Vorläufig handelte es sich darum, die Auserwählten um den Propheten zu sammeln, und dieses konnte mit den grandiosen Geldern der frommen Miß H. nicht schwer fallen. Proli fand viele Anhänger für sein projectirtes Reich und richtete in dem Palais der Miß eine Hauscapelle ein, worin zwei Mal des Tages Betstunde gehalten wurde. Da erschien Proli als Fürst und Prophet mit allen Insignien seiner angeblichen göttlichen Sendung. Der Jesuit übernahm das Amt eines Oberpriesters und trug dafür Sorge, daß eine Anzahl Priesterinnen, an deren Spitze die fromme Miß stand, stets im Gefolge des Propheten waren. Mit den Betstunden wechselten periodische Festlichkeiten ab, die ganz darauf berechnet waren, die Adepten und Priesterinnen des himmlischen Reiches auf Zion in einen Freudentaumel zu versetzen, um nach dem Rathe des jesuitischen Mephistopheles ihre Seelen ganz zu besitzen. Unter diesen Festlichkeiten ragen besonders die Bälle hervor, die in einem Landhause der Miß nach der Weise des Paradiesesstandes abgehalten wurden. Dabei sah man an einem Tempel von himmlischem Glanz und Pomp die Worte flammen: „Freiheit allen Welten!“ In der Mitte saßen auf Thronen der fürstliche Seher, die Miß und der Oberpriester umringt von Nymphen, deren lieblicher Stimmenklang die irdische Sphäre zu einer himmlischen zu verzaubern vermochte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_331.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2017)