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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

feuchten Blick auf den Verstorbenen hielt sie Frau Hellwig die Rechte hin.

„Was wollten Sie hier, Tante?“ fragte die Wittwe kurz, indem sie die Bewegung der kleinen Dame völlig ignorirte.

„Ihn segnen!“ lautete die milde Antwort.

„Der Segen einer Ungläubigen hat keine Macht.“

„Gott hört ihn – Seine ewige Weisheit und Liebe wägt nicht zwischen der armseligen Form – wenn er aus treuem Herzen kommt –“

„Und aus schuldbeladener Seele!“ ergänzte Frau Hellwig in beißendem Hohn.

Die alte Dame richtete sich hoch auf.

„Richtet nicht,“ begann sie und hob feierlich drohend den Zeigefinger – „doch nein,“ unterbrach sie sich mit unbeschreiblicher Milde und blickte auf den Todten, „auch nicht ein Wort mehr soll Deinen heiligen Frieden stören. … Leb’ wohl, Fritz!“

Sie ging langsamen Schrittes zurück in den Hofraum und verschwand hinter einer Thür, die Felicitas bis dahin stets verschlossen gefunden hatte.

„Nun, das war doch stark von der alten Mamsell!“ zischelte Friederike, die von der Küchenthür aus den Vorgang beobachtet hatte.

Frau Hellwig zuckte schweigend die Achseln und legte den Kranz zu Füßen der Leiche. Noch war sie nicht Herr ihrer inneren Erregung. So ungeübt die Züge dieser Frau im Ausdruck weiblicher Milde und Sanftmuth waren, so unbeweglich und wandellos sie auch in ihrer eisernen Strenge erschienen, in Haß und Verachtung wurden sie unheimlich lebendig – wer einmal das schlimme Lächeln gesehen hatte, das in solchen Momenten ihre Mundwinkel tief herabzog, der traute der Ruhe dieses Gesichts nicht mehr. Sie bog sich über den Verstorbenen, anscheinend, um etwas an dem Arrangement zu ändern; ihre Hand stieß dabei an das Bouquet der alten Dame – es rollte über den Rand des Sarges und fiel zu Felicitas’ Füßen nieder.

Draußen schlug es drei. Mehrere Geistliche im Ornat traten in die Hausflur; auch die Herren kamen aus dem Wohnzimmer, und ihnen folgte Nathanael neben einer hochaufgeschossenen, schmächtigen Jünglingsgestalt. Die Wittwe hatte ihrem Sohn Johannes die Todesnachricht telegraphisch mitgetheilt, und heute Morgen war er gekommen, um der Begräbnißfeierlichkeit beizuwohnen. Die kleine Felicitas vergaß für einen Augenblick ihr Leid und sah mit der ganzen Neugier des neunjährigen Kindes zu ihm empor, welcher der Liebling des Vaters gewesen war. … Weinte er wohl hinter der schmalen, mageren, aber wohlgepflegten Hand, die er beim Anblick des Dahingeschiedenen über seine Augen gelegt hatte? … Nein, es rollte keine Thräne herab, und ein ungeübtes Auge, wie das des Kindes, konnte außer einer ungewöhnlichen Blässe auch sonst kein Merkmal der Erschütterung an dem ernsten Gesicht bemerken.

Nathanael stand neben ihm. Er vergoß viele Thränen, aber sein Kummer hinderte ihn nicht, den Bruder leise flüsternd anzustoßen, als er Felicitas in ihrem Schlupfwinkel entdeckte. Johannes’ Blick folgte der Richtung des brüderlichen Zeigefingers. Zum ersten Mal hefteten sich diese Augen auf das Gesicht des Kindes – es waren schreckliche Augen, ernst, finster, ohne das Licht des Wohlwollens und der inneren Wärme. In der Bibel war ein Bild des Evangelisten, des Lieblingsschülers Jesu, ein sanftes, schönes Gesicht mit fast weiblich weichen Linien – „das ist der Johannes am Rhein!“ hatte sie stets behauptet, und der Onkel hatte lächelnd dazu genickt. … Sie hatten nichts miteinander gemein, jene lieblichen, von hellem Gelock umrahmten Züge und dieser Kopf mit den schlichten, kurzgeschnittenen Haaren und dem tiefernsten, blassen, unregelmäßigen Profil.

„Geh’ fort, Kind, Du bist hier im Wege!“ gebot er streng, als er sah, daß man Anstalten machte, den Sarg zu schließen. Felicitas verließ beschämt und erschrocken, als habe sie Strafe verdient, den Winkel und schlich, ungesehen von den Anderen, in ihres Pflegevaters ehemaliges Zimmer.

Jetzt weinte sie bitterlich. … Ihm war sie nicht im Wege gewesen! Sie fühlte seine fieberhafte Hand wieder auf ihrem Scheitel und hörte seine gute, schwache Stimme wie in den letzten Tagen heiser flüstern: „Komm’, Fee, mein Kind – ich hab’ es so gern, wenn Du bei mir bist!“ …

Horch, was war das für ein Hämmern draußen? Es scholl mißtönig durch den hochgewölbten Raum, wo doch die vielen Menschen kaum zu flüstern wagten. Felicitas hob verstohlen den grünen Vorhang und sah hinaus in die Flur. … Schrecklich! Die Gestalt des Onkels war verschwunden; dort der schwarze Deckel lag auf seinem lieben Gesicht und hielt ihn für immer unerbittlich fest in der ausgestreckten Stellung. Wenn er nur ein wenig die Hand hob, stieß sie überall an harte, festzusammengefügte Breter … und dort klopfte der Mann abermals und rüttelte an dem Deckel, ob er auch fest säße, ob ihn nicht die Hand da drin zurückstoßen könne, – da drin, in der tiefen Dunkelheit des engen Kastens, da drin, wo man nicht athmen konnte, wo man so furchtbar allein war … die Kleine schrie laut auf vor Entsetzen.

Aller Augen richteten sich verwundert auf das Fenster, aber Felicitas sah nur die zwei großen, grauen, deren Blick sie vorhin so tief erschreckt hatte. Er blickte strafend herüber; sie verließ das Fenster und flüchtete sich hinter den großen, dunklen Vorhang, der das Zimmer in zwei Hälften theilte. Dort kauerte sie sich nieder und blickte furchtsam nach der Thür, wo er gewiß eintreten und sie scheltend hinausführen würde.

In ihrem Versteck sah sie nicht, wie draußen die Träger den Sarg auf die Schultern nahmen, wie der Onkel sein Haus verließ für immer. Sie sah nicht den langen, schwarzen, unheimlichen Zug, der dem Verstorbenen folgte, wie der letzte Schatten auf dem nun vollendeten Lebenswege. … Dort an der Ecke hob ein Luftzug alle die prächtigen, weißen Atlasbänder, die am Sarg niederhingen – sie flatterten hoch auf; war es der letzte Gruß des Geschiedenen für das verlassene Kind, das eine zärtlich besorgte Mutter dem trüben Sumpf der väterlichen Laufbahn entrissen hatte, um es unwissentlich an einen öden, unwirthbaren Strand zu werfen?


(Fortsetzung folgt.)




Der Nordbahnhof in Wien.
Mit Abbildung.


Die Krönung des Königs und der Königin von Ungarn hat so manchem Sohn des Vaterlandes, den der Strom der Bewegung in die Ferne geschwemmt, den Weg in die Heimath wieder gebahnt; auch einen unserer nahen Verwandten rief die endlich ertheilte Amnestie aus der Fremde und in unsere Arme zurück. Aus dem tiefsten Ungarn eilten wir nach Wien, um den lieben Amnestirten auf dem Bahnhof zu überraschen und dem daherschnaubenden feuerspeienden Ungethüm zu entreißen. Daß er im Monat Mai in Wien eintreffen würde, wußten wir, aber an welchem Tage und mit welchem Zuge, hatte uns der Wildfang nicht bekannt gemacht. Wir hatten demzufolge volle vierzehn Tage Zeit, uns in dem neuen Wien mit seinem lebhaften Völkchen, das wie die Ameisen in ewiger Thätigkeit und Bewegung neben und gegen einander läuft, herum zu tummeln.

Acht Jahre hatten wir Wien nicht gesehen. Wo ist sie hingekommen, die alte Kaiserstadt mit ihren grauen Mauern, Thürmen, Basteien, Stadtgräben und Hütten, in denen ewig heitere und harmlose Menschen schalteten und walteten? Wo früher bescheidene Häuser standen, erheben sich stolze Paläste, und mit den Mauern, Thürmen und Basteien fiel die Unbefangenheit und das Vertrauen früherer Tage. Man will sie dem Volke wiedergeben, die festen Mauern mit ihren Thürmen, Schießscharten und drohenden Feuerschlünden; die Stadt kann man befestigen, aber das Vertrauen der Bürger, das der Sturm der Zeit erschüttert, befestigt man mit allen Kanonen nicht mehr. Nur der heitere, lachende, übersprudelnde Humor des Volkes ist geblieben. Er ist die ewige Lampe, die viele Jahrhunderte in der politischen Finsterniß leuchtete, und kein Metternich, kein Bach und kein Benedek hat sie auszublasen vermocht. Fidele Brüder und Schwestern, Fiaker, Kappelbuben und Schusterjungen jodeln, witzeln, foppen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_342.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2017)