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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

zeigt, telegraphirt zunächst jeden ersten Schlag der Stunde in die verschiedensten Theile Londons, ganz besonders in das Hauptbureau der elektrischen und internationalen Telegraphen-Compagnie, wo ein merkwürdiges Instrument, der sogenannte Chronophor, diese Meldung blitzschnell nach den verschiedensten Theilen des Landes zuckt. Dieses Instrument hat eine solche Zauberkraft, daß es alle aus dem Bureau auslaufenden Telegraphendrähte mitten in ihrer gewöhnlichen Arbeit augenblicklich unterbrechen und den von Greenwich erhaltenen Zeitschlag sofort nach allen Enden des Königreichs telegraphiren kann. Dies geschieht ohne alle menschliche Zuthat durch bloße mechanische Mittel. Die ausgedehnteste Vertheilung des Greenwicher Zeitsignals findet alle Tage um zehn Uhr Vormittags statt, wo viele Hunderte von Eisenbahnen etc. wie mit einem einzigen Blitz in derselben Secunde bis in die nördlichsten Einöden Schottlands die Nachricht erhalten, daß eben in Greenwich die berühmte Normaluhr den ersten von den zehn Schlägen der Stunde gethan hat. Die anderen Uhren werden dann sofort bis auf die Secunde gestellt und auch die Kirchenuhren in den betreffenden Städten und der Nachbarschaft, so wie Tausende von Taschenuhren erhalten danach einen verhältnismäßigen Schub.

Außerdem sorgen die Sternwarten von Liverpool, Edinburgh und Glasgow auf ihre eigene Weise, aber in genauer Uebereinstimmung mit Greenwich für Verbreitung und Einhaltung der richtigen Zeit in diesen Städten und den benachbarten Gegenden. Hier ist besonders die elektrische Controle der verschiedensten Uhren von den Sternwarten aus bemerkenswerth und jedenfalls von großer Wichtigkeit für Deutschland, wenn es sich ermannen und vereinigen sollte, seine Zeit richtiger zu messen und besser zu benutzen. Diese elektrisch-controlirten Uhren unterscheiden sich von gewöhnlichen Pendeluhren in ihrer Construction gar nicht und haben statt der üblichen Scheibe am Secundenpendel eine Rolle übersponnenen und isolirten Draht, in welchen mit jeder Secunde von einer Normaluhr der Sternwarte ein galvanischer Strom fließt. Während dieses Augenblickes, und nicht länger, wird der Draht jedesmal magnetisch. Ein neben dem Pendel angebrachter immerwährender Eisenmagnet wirkt dadurch auf die Schwingungen desselben so regulirend, daß der Pendel zu jeder Schwingung genau nur eine Secunde braucht. Durch diese lebendige Verbindung mit der betreffenden Normaluhr wird jede andere, wenn sie einmal gehörig eingerichtet ist, ebenfalls zu einer Normaluhr, auf die man sich jederzeit bis auf die Secunde verlassen kann. Dadurch ist besonders die große Rathhausuhr in Liverpool wegen ihrer seit Jahren untrügerischen Richtigkeit, ihres weithin leuchtenden Gesichts und ihrer fernhintönenden Glockenschläge berühmt geworden. In ähnlicher Weise werden viele Eisenbahn- und Kirchenuhren Liverpools, Edinburghs und Glasgows bis in die Segel- und Dampfschiffsregionen am Meere und auf dem stets belebten Clyde-Flusse regulirt, und in Edinburgh besteht außerdem eine geniale Einrichtung, nach welcher in dem Augenblicke, wo der große Ball auf der Greenwich-Sternwarte fällt, allemal eine Kanone von selbst losgeht. Dicht neben der Kanone befindet sich eine elektrisch controlirte Uhr, welche dieselbe immer auf die Secunde richtig abfeuert, indem sie ein Gewicht auf den Zünder fallen läßt. Diese Uhr wird auf die angegebene Weise elektromagnetisch von der astronomischen Normaluhr der Sternwarte aus controlirt. Ebensolche Uhrenkanonen gehen allemal punkt ein Uhr in Newcastle und Shields los und werden aus hundertmeiliger Entfernung von der Sternwarte zu Greenwich aus allemal in der richtigen Secunde vermittels des galvanischen Stromes und eines sogenannten chemischen Zünders mit der größten Sicherheit und Pünktlichkeit abgefeuert. Der Donner derselben pflanzt sich in weite Ferne fort und mahnt jedesmal Millionen von Menschen an die Richtigkeit und Wichtigkeit der Zeit.

Man nimmt es dabei mit dieser donnernden Mahnung so genau, daß man den Leuten, welche sie in der Ferne hören, den Rath giebt, für jede englische Meile Entfernung vier und eine halbe Secunde (so viel Zeit braucht der Schall für jede Meile) an ihrer Uhr hinzuzurechnen. Dadurch haben sich die Leute bereits gewöhnt, es mit der Zeit und der Benutzung derselben überhaupt genau zu nehmen. Dies ist ein wirthschaftlicher und zugleich sittlicher Vortheil, von welchem in Deutschland nur erst sehr wenige Menschen eine richtige Vorstellung haben. Man kennt und liebt diese täglich pünktlich wiederkehrenden lauten Mahnungen der friedlichen und belebenden Kanonen, deren viele Tausende von Collegen vielleicht einmal in späteren Jahrhunderten ähnliche bürgerliche und nützliche Anstellungen finden werden. Nur manchmal findet sich in diesen englischen Städten ein Fremder oder Matrose ein, der nicht weiß, was dieser täglich wiederkehrende Kanonenschuß bedeutet. So ging einmal die Zeitkanone von Newcastle los, als just ein Matrose über die Brücke unterhalb derselben schritt. Er erschrak furchtbar vor dem Donner derselben dicht über ihm. „Was war das?“ fragte er ganz erstaunt. „Es schlug eben ein Uhr,“ war die Antwort. „Ein Uhr?“ rief der Matrose. „Gott sei Dank, daß ich nicht um zwölf Uhr gekommen bin!“

Die vollkommenste und riesigste Zeitkanone und Normaluhr donnert ihre Stundenschläge, auch die Viertel und Hälften, mit unübertroffener Pünktlichkeit von dem Victoriathurme des Parlamentsgebäudes herunter. Sie gilt nicht nur für das riesigste, sondern auch das vollkommenste Uhrmacherkunstwerk und verläßt sich für ihre secundengenaue Pünktlichkeit weder auf astronomische, noch elektrische Controle, sondern auf ihr eigenes Räder- und Federwerk. In telegraphischer Verbindung mit der Sternwarte zu Greenwich steht sie nur deshalb, um diesem Hauptbureau der Normal-Zeitmessung von selbst die Regelmäßigkeit ihres Ganges anzuzeigen. Von da aus wird sie genau beobachtet und ihr nie erlaubt, mehr als zwei Secunden von der wahren Mittelzeit abzuweichen. Ueber die Grenzen dieser Erlaubniß ist sie nach einem officiellen Berichte der königlichen Sternwarte noch nie hinausgegangen und während einer Woche niemals nur um eine Secunde zurückgeblieben oder vorgegangen. Wenn wir bedenken, was eine Secunde ist und daß dieses Riesenwerk sich wochenlang bis auf diesen Zeittheil richtig fortbewegt, so haben wir wohl Grund, sie als das größte Meisterstück horologischer Kunst anzuerkennen. Das Uhrwerk steckt in einem Rahmen fünfzehn und einen halben Fuß lang und vier Fuß sieben Zoll breit; der Pendel, der immer grade zwei Secunden zu einer Schwingung braucht, wiegt siebenhundert Pfund, und die vier, nach entgegengesetzten Himmelsrichtungen, auch des Nachts weithin leuchtenden Gesichter oder Zifferblätter haben jedes einen Durchmesser von zweiundzwanzig und einem halben Fuß. Ein starker Mann hat im Schweiße seines Angesichts jedesmal eine volle Tagesarbeit, die Uhr aufzuziehen. Die Bevölkerung Londons hat in diesem Riesenwerke Tag und Nacht fortwährend für Augen und Ohren die zuverlässigsten, weithin leuchtenden oder donnernden Normal-Chronometer. Die große Glocke (Big Bell) donnert die Stundenschläge mit einer so furchtbaren Gewalt in alle Richtungen der Windrose, daß der ungeheure massive Thurm in allen Fugen zittert und selbst die benachbarten Häuser unten oft Gläser und Teller klirren hören.

Da es nun auch in allen Theilen Londons, auf Hunderten von über- und unterirdischen Eisenbahnstationen, in der Bank und Börse, in kaufmännischen Bureaux, an den Schaufenstern von Uhrmachern und durch ganz England hindurch bis nach den äußersten Spitzen eine sehr große Menge solcher einheitlichen Normaluhren giebt, welche von der Sternwarte zu Greenwich aus durch die angedeuteten Mittel in pünktlichster Harmonie erhalten werden, so ist man überall im Lande in Bezug auf Geschäft und die ununterbrochen hin und hereilenden Dampfzüge zu Wasser und zu Lande, auf und unter der Erde der Zeit und ihrer Benutzung bis auf die Secunde sicher und erzielt dadurch Ersparnisse, die sich nach vielen Tausenden von Pfunden berechnen lassen und welche uns wegen der Willkür und Anarchie unserer Uhren und der dadurch gepflegten oder oft unvermeidlich gewordenen Unpünktlichkeit auf eine barbarische Weise verloren gehen.

Dies sollte uns eine ernste Mahnung sein, es auch in Deutschland mit der Zeit genau zu nehmen und von den Sternwarten aus Einrichtungen zu treffen, durch welche auf allen unseren Eisenbahnhöfen, in Bureaux, Fabriken etc. eine einheitliche Zeitmessung gesichert würde. Diese zeitgemessene Einheit ist eine wirthschaftliche Nothwendigkeit und zugleich eine gute Vorbereitung zu der schon längst erstrebten Einheit in Münze, Maß und Gewicht, welcher die politische, mercantile und sociale Harmonie des deutschen Volkes hoffentlich bald folgen wird, zumal wenn es sich jeder anständige und gebildete Mann in seiner eigenen Sphäre ernstlich angelegen sein läßt, locale, persönliche, kleinstädtische und kleinstaatliche Besonderheiten aufzugeben und sein Herz und seinen Gesichtskreis für die großen, gemeinsamen Ideen und Bestrebungen des kosmopolitischen deutschen Volkes zu erweitern und zu erwärmen.

H. B.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_351.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)