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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Kleine gekommen war, die Furcht vor jener unbewegten, grausam kalten Stimme und den unerbittlichen, grauen Augen war doch noch größer. Sie konnte unmöglich in das Bereich der halboffenen Thür treten – ihre’ kleinen Füße standen wie eingewurzelt auf den Steinplatten.

„Ich gebe Dir vollkommen Recht, Mama,“ sagte Johannes drinnen, indem er stehen blieb; „das kleine, lästige Geschöpf wäre am besten in irgend einer braven Handwerkerfamilie aufgehoben. Aber dieser unvollendete Brief hier ist für mich so maßgebend wie ein rechtskräftiges Testament… Einmal sagt der Papa, daß er das Kind um keinen Preis aus dem Schutz seines Hauses entlassen werde – es sei denn, daß es der Vater selbst zurückfordere – und hier mit den Worten: ‚– ich würde deshalb auch unbedingt die Sorge um das mir anvertraute Kind in Deine Hände legen –‘ macht er mich unwiderleglich zum Vollstrecker seines Willens… Es kommt mir durchaus nicht zu, an der Handlungsweise meines Vaters irgendwie zu mäkeln, aber wenn er gewußt hätte, wie unsagbar zuwider mir die Menschenclasse ist, aus der das Kind stammt – er würde mich mit dieser Vormundschaft verschont haben.“

„Du weißt nicht, was Du von mir verlangst, Johannes!“ entgegnete die Wittwe im Ton tiefsten Verdrusses. „Fünf lange Jahre habe ich diesen Auswürfling, dies gottverlassene Wesen stillschweigend neben mir dulden müssen – ich kann es nicht länger!“

„Nun, dann bleibt uns kein anderer Ausweg, als ein Aufruf an den Vater des Kindes.“

„Ja, da kannst Du rufen!“ erwiderte Frau Hellwig mit einem kurzen, höhnischen Auflachen. „Der dankt Gott, daß er den Brodesser los ist! Doctor Böhm sagt mir, so viel er wisse, habe der Mann zu Anfang ein einziges Mal von Hamburg aus geschrieben – seit der Zeit nicht wieder.“

„Als gute Christin wirst Du übrigens auch nicht zugeben, liebe Mama, daß das Kind dahin zurückkehrt, wo seine Seele verloren geht –“

„Sie ist so wie so verloren!“

„Nein, Mama! Wenn ich auch nicht leugnen will, daß der Leichtsinn in diesem Blut stecken muß, so glaube ich doch auch fest an den Segen einer guten Erziehung.“

„Du meinst also, wir bezahlen das schwere Geld noch so und so viel Jahre länger für ein Geschöpf, das uns auf der Gotteswelt nichts angeht? – Sie hat Unterricht im Französischen, im Zeichnen –“

„Ei behüte, das fällt mir nicht ein!“ unterbrach Johannes die Aufzählung – zum ersten Mal erhielt diese monotone Stimme eine etwas lebhaftere Klangfarbe. „Das fällt mir nicht ein,“ wiederholte er. „Mir ist diese moderne weibliche Erziehung ohnehin eins Gräuel. … Solche Frauen wie Dich, die, echt christlichen Sinnes und in wahrhafter Weiblichkeit, nie die ihnen gesteckten Grenzen überschreiten, die wird man in Kurzem suchen müssen. … Nein, das Alles hat von jetzt ab ein Ende! Erziehe das Mädchen häuslich, zu dem, was einst seine Bestimmung sein wird – zur Dienstbarkeit. … Ich lege die Angelegenheit völlig und unbesorgt in Deine Hände. Mit Deinem starken Willen, Deinem Christenthum –“

Hier wurde die Thür plötzlich weiter aufgerissen, und Nathanael, der sich bei dem Zwiegespräch langweilen mochte, sprang heraus. Felicitas drückte sich gegen die Wand; aber er sah sie doch und stürzte wie ein Stoßvogel auf die Zitternde zu.

„Ja, verstecke Dich nur, das hilft Dir nichts!“ rief er und preßte ihr zartes Handgelenk beim Weiterzerren so heftig, daß sie aufschrie. „Jetzt kommst Du mit und sagst der Mama gleich den Text der Predigt! Gelt, das kannst Du nicht? Du warst nicht auf den Schulbänkchen, ich hab’ genau aufgepaßt. … Und wie siehst Du denn aus? … Nein, Mama, sieh Dir nur einmal dies Kleid an!“

Mit diesen Worten zog er die widerstrebende Kleine an die Thür.

„Komm’ herein, Kind!“ gebot Johannes, der mitten im Zimmer stand und den Brief seines Vaters noch in der Hand hielt.

Felicitas trat zögernd über die Schwelle. Sie sah einen Moment an der hohen, schmalen Gestalt empor, die vor ihr stand. Da lag kein Stäubchen auf dem ausgesucht feinen, schwarzen Anzug; das Weißzeug leuchtete in blendender Frische; nicht ein Härchen auf der Stirn krümmte sich gegen die Hand, die unablässig, fast ängstlich darüber hinstrich – da war Alles peinlich geordnet und sauber. Er blickte mit einer Art von Abscheu auf den Kleidersaum des Kindes.

„Wo hast Du Dir das geholt?“ fragte er und zeigte nach der Stelle, die seinen Blick auf sich zog.

Die Kleine sah scheu hinab – das sah freilich schlimm aus. Gras und Wege draußen waren noch thaunaß gewesen; sie hatte beim Niederwerfen am Grab nicht daran gedacht, daß solche auffallende Spuren an dem schwarzen Kleid zurückbleiben könnten. … Sie stand schweigend mit gesenkten Augen da.

„Nun, keine Antwort? … Du siehst aus wie das böse Gewissen selbst – Du warst nicht in der Kirche, wie?“

„Nein,“ sagte die Kleine aufrichtig.

„Und wo warst Du?“

Sie schwieg. Sie hätte sich lieber todtschlagen lassen, ehe der Muttername vor diesen Ohren über ihre Lippen gekommen wäre.

„Ich will Dir’s sagen, Johannes,“ entgegnete Nathanael an ihrer Stelle; „sie war draußen in unserem Garten und hat Obst genascht – so macht sie’s immer.“

Felicitas warf ihm einen funkelnden Blick zu, aber sie öffnete die Lippen nicht.

„Antworte,“ gebot Johannes, „hat Nathanael Recht?“

„Nein; er hat gelogen, wie er immer lügt!“ entgegnete das Kind fest.

Johannes streckte in diesem Augenblick ruhig den Arm aus, um Nathanael zurückzuhalten, der wüthend auf seine Anklägerin losstürzen wollte.

„Rühr’ sie nicht an, Nathanael!“ gebot auch Frau Hellwig dem Knaben. Sie hatte bis dahin schweigend im Lehnstuhl des Onkels am Fenster gesessen. Jetzt erhob sie sich – Hu, was warf die große Frau für einen düsteren Schatten in das Zimmer!

„Du wirst mir glauben, Johannes,“ wendete sie sich an ihren Sohn, „wenn ich Dir versichere, daß Nathanael niemals die Unwahrheit sagt. Er ist fromm und lebt in der Furcht des Herrn, wie selten ein Kind – ich habe ihn behütet und geleitet, das wird Dir genügen. … Es hat noch gefehlt, daß sich dies erbärmliche Geschöpf zwischen die Geschwister stellt, wie es bereits zwischen den Eltern der Fall gewesen ist. … Ist es nicht an sich unverzeihlich, daß sie, statt in die Kirche zu gehen, sich an anderen Orten herumtreibt? – mag sie nun gewesen sein, wo sie will!“

Ihre Augen glitten mit tödtlicher Kälte über die kleine Gestalt.

„Wo ist das neue Tuch, das Du heute Morgen bekommen hast?“ fragte sie plötzlich.

Felicitas fuhr erschreckt mit den Händen nach den Schultern – o Himmel, es war verschwunden, es lag sicher draußen auf dem Gottesacker! Sie fühlte recht gut, daß sie sich einer großen Unachtsamkeit schuldig gemacht habe – sie war tief beschämt; ihre gesenkten Augen füllten sich mit Thränen, und die Bitte um Verzeihung drängte sich auf ihre Lippen.

„Nun, was sagst Du dazu, Johannes? „fragte Frau Hellwig mit schneidender Stimme. „Ich schenke ihr das Tuch vor wenigen Stunden, und an ihrem Gesicht wirst Du sehen, daß es bereits verloren ist. … Ich möchte wissen, wie viel diese Garderobe Deinem seligen Vater das Jahr über gekostet hat. … Gieb sie auf, sag’ ich Dir! Da ist Hopfen und Malz verloren – Du wirst nie ausrotten können, was von einer leichtfertigen, liederlichen Mutter aufgeerbt ist!“

In diesem Augenblick ging eine schreckliche Veränderung in Felicitas’ Aeußerem vor. Eine tiefe Scharlachröthe ergoß sich über das ganze Gesicht und den lilienweißen Hals bis unter den Ausschnitt des groben, schwarzen Wollkleides. Ihre dunklen Augen, in denen noch die Thränen der Reue funkelten, blickten sprühend empor zu dem Gesicht der Frau Hellwig. Jene ängstliche Scheu vor der Frau, die fünf Jahre lang auf dem kleinen Herzen gelastet und ihr stets die Lippen verschlossen hatte, war verschwunden. Alles, was seit gestern ihre kindlichen Nerven in die furchtbarste Spannung versetzt hatte, es trat plötzlich überwältigend in den Vordergrund und nahm ihr den letzten Rest von Selbstbeherrschung – sie war außer sich.

„Sagen Sie nichts über mein armes Mütterchen, ich leide es nicht!“ rief sie; ihre sonst so weiche Stimme klang fast gellend. „Es hat Ihnen nichts zu Leide gethan! … Wir sollen nie Böses von den Todten sprechen – hat der Onkel immer gesagt, denn

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_356.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)