Seite:Die Gartenlaube (1867) 358.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

sie können sich nicht vertheidigen – Sie thun es aber doch, und das ist schlecht, ganz schlecht!“

„Siehst Du die kleine Furie, Johannes?“ rief Frau Hellwig höhnisch. „Das ist das Resultat der freisinnigen Erziehung Deines Vaters! Das ist ‚das feenhafte Geschöpfchen‘, wie er das Mädchen in dem Briefe da nennt!“

„Sie hat Recht, wenn sie ihre Mutter vertheidigt,“ sagte Johannes halblaut mit ernstem Blick; „aber die Art und Weise, wie sie es thut, ist eine ungeberdige, abscheuliche. … Wie kannst Du Dich unterstehen, in so ungebührlicher Weise zu dieser Dame zu reden?“ wandte er sich zu Felicitas, und ein schwacher Schimmer von Roth flog über sein bleiches Gesicht. „Weißt Du nicht, daß Du verhungern mußt, wenn sie Dir kein Brod giebt? und daß draußen das Straßenpflaster Dein Kopfkissen sein wird, wenn sie Dich aus dem Hause stößt?“

„Ich will ihr Brod nicht!“ preßte das Kind hervor. „Sie ist eine böse, böse Frau – sie hat so schreckliche Augen. … Ich will nicht hier bleiben in Eurem Hause, wo gelogen wird und wo man sich den ganzen Tag fürchten muß vor der schlechten Behandlung – lieber will ich gleich unter die dunkle Erde zu meiner Mutter, lieber will ich verhungern –“

Sie konnte nicht weiter sprechen; Johannes hatte ihren Arm gefaßt, seine mageren Finger drückten sich wie eiserne Klammern in das Fleisch – er schüttelte sie einige Mal heftig.

„Komm’ zu Dir, komm’ zur Besinnung, abscheuliches Kind!“ rief er. „Pfui, ein Mädchen, und so zügellos! Bei dem unverzeihlichen Hang zu Leichtsinn und Liederlichkeit auch noch diese maßlose Heftigkeit. … Ich sehe ein, hier ist viel versehen worden,“ wandte er sich an seine Mutter, „aber unter Deiner Zucht, Mama, wird das anders werden.“

Er ließ den Arm der Kleinen nicht los und führte sie unsanft aus dem Zimmer hinüber in die Gesindestube.

„Von heute an habe ich über Dich zu gebieten – merke Dir das!“ sagte er rauh; „und wenn ich auch fern bin, ich werde Dich doch exemplarisch zu strafen wissen, sobald ich erfahre, daß Du, meiner Mutter nicht in allen Stücken ohne Widerrede gehorchst. … Für Dein heutiges Benehmen hast Du auf längere Zeit Hausarrest, um so mehr, als Du von der Freiheit einen so schlechten Gebrauch machst. Du betrittst den Garten ohne ganz specielle Erlaubniß meiner Mutter nicht wieder; ebenso wenig gehst Du auf die Straße, die Wege nach der Bürgerschule ausgenommen, die Du von nun an besuchen wirst; und hier in der Gesindestube magst Du essen und Dich Tags über aufhalten, bis Du bessere Sitten zeigst. … Hast Du mich verstanden?“

Die Kleine wandte schweigend das Gesicht ab, und er verließ die Stube.


9.

Nachmittags trank die Familie Hellwig den Kaffee draußen im Garten. Friederike hatte ihren kattunenen, flanellgefütterten Sonntagsmantel über die Schultern geworfen, die schwarzseidene, wattirte Staatsmütze aufgesetzt und war zuerst in die Kirche und dann zu einer „Frau Muhme“ auf Besuch gegangen. Heinrich und Felicitas waren allein in dem großen, kirchenstillen Hause. Ersterer war längst heimlicherweise draußen auf dem Gottesacker gewesen und hatte das verhängnißvolle Tuch heimgeholt – es lag nun gesäubert und regelrecht zusammengelegt im Kasten.

Der ehrliche Bursche hatte die vormittägige Scene von der Küche aus mit angehört und zum Theil auch gesehen; er war sehr in Versuchung gewesen, hervorzuspringen und mit seinen derben Fäusten den Sohn des Hauses ebenso zu schütteln, wie die zarte Gestalt des aufrührerischen Kindes hin und her geschüttelt wurde. Jetzt saß er da in der Gesindestube und schnitzelte an seinem defecten Ausgehstock herum, wobei er leise und zwar sehr ungeschickt und unmelodisch pfiff. Er war war aber auch gar nicht bei der Sache; seine Blicke huschten rastlos und verstohlen hinüber nach dem schweigenden Kinde. … Das war gar nicht mehr das Gesicht der kleinen Felicitas! Sie saß dort wie ein gefangener Vogel, aber wie ein Vogel, dem die Wildheit in der Brust brennt und der voll unversöhnlichen Grolles der Hände denkt, die ihn gefesselt haben. … Auf ihren Knieen lag der Robinson, den Heinrich auf eigene Gefahr hin von Nathanael’s Bücherbret geholt hatte, aber sie warf keinen Blick hinein. Der Einsame hatte es gut auf seiner Insel, da, gab es doch keine bösen Menschen, die seine Mutter leichtsinnig und liederlich schalten; da lag der funkelnde Sonnenschein auf den Palmenkronen, auf den grünen Wogen des fetten Wiesengrases – und hier brach das Gotteslicht gedämpft, als trübe Dämmerung durch die engvergitterten Fenster, und nirgends, weder draußen in der schmalen Gasse, noch hier im ganzen Hause, erquickte ein grünes Blatt das Auge. … Ja, drin im Wohnzimmer, da stand freilich ein Asklepiasstock im Fenster – die einzige Blume, die Frau Hellwig pflegte, aber Felicitas konnte diese regelmäßigen, wie aus kaltem Porcellan geformten Blüthenbüschel, die starren, harten Blätter nicht leiden, die stocksteif und ungerührt da hingen, mochte auch der Luftzug durchstreifen, so viel er wollte – was gab es denn Schöneres, als draußen die leichtbeweglichen, grünen Zungen an Büschen und Bäumen mit ihrem unaufhörlichen Rauschen und Flüstern?

Die Kleine sprang plötzlich auf. Droben auf dem Dachboden, da konnte man weit hinaus in die Gegend sehen, da war sonnige Luft – wie ein Schatten glitt sie die gewundene steinerne Haupttreppe hinauf.

Das alte Kaufmannshaus war eigentlich nach gewissen Begriffen degradirt worden. Vor langen Zeiten war es ein Edelsitz gewesen. Es hatte auch noch etwas Ehrgeiziges in seiner Physiognomie – wenn auch nicht in dem Maße, wie die Thürme, die Alles unter sich lassen und, wenn es ginge, am liebsten auch den Himmel als alleiniges Eigenthum auf ihre Spitze spießen möchten – aber es zeigte doch hier und da dies Emporstreben in dem Thurmansatz des Erkers und vor Allem in den mächtigen Schornsteinen, die sich in jenen Zeiten so nöthig machten, wo noch die Wildbraten in ihrer natürlichen Größe und Urwüchsigkeit auf den Bratspießen adeliger Küchen steckten. … Das blaue Blut, das die Herzen der ehemaligen ritterlichen Bewohner klopfen gemacht, war längst versiecht, ja, in den letzten Stadien war es ihm ergangen, wie dem alten Hause auch – es war degradirt worden.

Die vordere, nach dem Marktplatz gewendete Fronte des Hauses hatte sich allmählich in etwas modernisirt, die Hintergebäude dagegen, drei gewaltige Flügel, standen noch in keuscher Unberührtheit, wie sie aus der Hand ihres Schöpfers hervorgegangen waren. Da gab es noch jene langen, hallenden Gänge mit schiefen Wänden und tief ausgetretenem Estrich, in denen selbst bei strahlendem Mittagssonnenschein eine traumähnliche Dämmerung webt und die es einer sagenhaften Ahnfrau so leicht machen, in grauer Schleppe, mit verblichenem Antlitz und schattenhaft gekreuzten Händen umherzuspuken. Da waren noch jene unvorhergesehenen, unter dem leisesten Tritt kreischenden Hintertreppchen, die plötzlich am Ende eines Corridors auftauchen, um drunten vor irgend einer unheimlichen, siebenfach verriegelten Thür zu münden – jene abgelegenen, scheinbar zwecklosen Ecken mit einem einsamen Fenster, durch dessen runde, bleigefaßte Scheiben fahle Lichtsäulen auf den zerbröckelnden Backsteinfußboden fallen. Der Staub, der hier auf die Köpfe der Vorüberwandelnden herabrieselte, war historisch; er hatte als jugendliche Holzfaser irgend eines Balkens oder als neuer Mörtel die hochgehenden Wogen des blauen Blutes mit angesehen.

(Fortsetzung folgt.)




Im Golfe von Neapel.
Bild und Wort von P. Thumann.


Um uns auf einige Tage dem hirnbetäubenden und ermüdenden Geräusche Neapels zu entziehen, beschlossen wir einen längern Ausflug nach Capri zu machen, um von dort über Sorrent zurückzukehren. Waren unsere bisherigen Ausflüge in der Umgegend Neapels auch stets glücklich, heiter und genußbringend ausgefallen, so störten doch die von Morgen bis Abend an die Ohren schlagenden Räubergeschichten, darunter die damals auch von der Gartenlaube erzählte Aufhebung eines englischen Photographen bei

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_358.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2017)