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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Welttheilen herbeiholt, so ist am auffallendsten, daß von allopathischen wie von homöopathischen Autoritäten bei ganz derselben Krankheit eine Unmasse der verschiedenartigsten Arzneien als heilsam empfohlen wird, während wiederum ein und dasselbe allopathische oder homöopathische Mittel bei den allerverschiedenartigsten Krankheiten heilsam sein soll. Es fehlt nicht mehr viel, um dahin zu kommen, daß jedes Mittel alle Krankheiten heilt und jede Krankheit durch alle Mittel zu heilen ist, so daß es bei dem stets zunehmenden Heilmaterial schließlich zur Vereinfachung der Arzneimittellehre hinreichend sein wird, blos anzugeben, welche Krankheit ein Mittel nicht heilt oder welches Mittel bei den betreffenden Krankheiten nicht heilsam ist. Und was der Triumph der Heilkunst ist, so existiren gerade gegen die unheilbarsten Krankheiten die allermeisten und kräftigsten Mittel. Man höre über den Arzneigebrauch eine medicinische Autorität, den Geh. Med.-Rath Wunderlich; er schreibt: „Es giebt keine Krankheitsform, die nicht ohne sogenannte Medicamente geheilt werden kann und bei welcher nicht dieselben durch die tausend anderen Hülfsmittel, welche dem rationellen Arzte zu Gebote stehen, ersetzt werden könnten, und in der Mehrzahl der Fälle ist die Verordnung von Medicamenten geradezu Nebensache, in einer nicht kleinen Zahl entschieden nutzlos und bloße Concession, welche bei dem Aberglauben des Patienten und zur Befestigung seines Vertrauens oft unerläßlich ist.“

Sehr lehrreich ist’s auch, die Wirkungsgeschichte verschiedener Arzneistoffe zu verfolgen. Die meisten derselben hatten beim Beginne ihrer Laufbahn die Fähigkeit, Wundercuren zu verrichten, ja wahrhaft göttliche Wirkungen zu thun und alle früheren gegen dieselben Krankheiten angewandten Mittel ganz und gar entbehrlich zu machen. Sobald sie aber ihre Jugendkraft verloren und eine Zeit lang in den Büchsen und Bullen der Apotheken zugebracht hatten, wurden sie zur verlegenen Waare und wollten die Wirkung, die sie anfangs in so bewundernswerthem Grade zeigten, durchaus nicht mehr äußern. Daher kommt es denn auch, daß die Apotheken hauptsächlich Stapelplätze für alte zur Ruhe gesetzte Arzneien sind, die nur durch den Herrn Apothekenrevisor vor dem Verschimmeln gerettet und durch das Examen über Arzneimittellehre auf kurze Zeit dem Gedächtniß der Mediciner eingepaukt werden.

Das fortwährende Auftauchen neuer Heilmethoden und die stete Vermehrung des Heilmaterials, – was übrigens nach und nach eine solche Unsicherheit und Willkür im Heilkünsteln erzeugt hat, daß eigentlich gar keine Heilgesetze mehr gelten und Jeder thun kann, was er will, zumal da auch bei der unsinnigsten Behandlung einer Krankheit der Heilkünstler eine Autorität für sein Treiben citiren kann, – es beweist doch recht deutlich, daß die früheren Mittel und Methoden nichts oder nicht viel getaugt haben. Noch stutziger muß man aber werden, wenn man sieht, wie zu ein und derselben Zeit für ganz dieselben Krankheiten so ganz verschiedenartige Heilmethoden existiren, daß, wenn die eine die richtige und zweckmäßige wäre, die andern nothwendig unheilbringend sein müßten. – Betrachtet man ferner das Curiren, selbst wissenschaftlich gebildeter Heilkünstler, so erstaunt man, mit wie wenig Lieblingsheilmitteln der eine Arzt alle Krankheiten zu heben sucht, während ein anderer im Jahre mehrmals bei ganz derselben Krankheit sein Heilmaterial wechselt. Von ganz demselben Mittel sieht der Eine große, der Andere gar keine Erfolge, und was der Eine bei einer Krankheit, die sich naturgemäß in ihren Erscheinungen von Zeit zu Zeit ändert, diesem Mittel zuschreibt, schreibt der Andere jenem zu, obschon in der Regel weder das eine noch das andere Mittel Einfluß auf jene Umänderung hatte. Leider kommt es bisweilen auch vor, daß ein Arzt sich für ein einziges Mittel in einem solchen Grade fanatisirt, daß er fast jedes Uebel damit zu heben trachtet. So bestreichen z. B. Jod-Maniaci neuerlich fast bei jedem innern Leiden (selbst bei verdorbenem Magen) die äußere Haut über dem Sitze des Uebels mit Jodtinctur und machen dem Kranken ganz unnützer Weise sehr oft heftige Schmerzen und Hautentzündung. – Spaßhaft ist es, das Gebahren mancher, ja sogar vieler Aerzte von wissenschaftlicher Bildung (also Allopathen) zu beobachten, wenn sie selbst von Krankheit heimgesucht werden. Die, welche bei ihren Patienten die wirksamsten Arzneien als ganz unentbehrlich ohne Zögern verordnen, haben nicht die Courage bei ihrem ganz ähnlichen Leiden dieselben Mittel selbst zu schlucken. Ja es giebt deren, die, wenn sie sich auch noch so schwer krank fühlen, doch durchaus nicht von einem Collegen genau untersucht und über ihren Zustand unterrichtet sein wollen, obschon sie in ihrer Praxis auf eifriges Untersuchen und rechtzeitiges Coupiren der Krankheit dringen. Traurig ist es aber, mit ansehen zu müssen, wie gar nicht selten bei Krankheiten, deren Wesen dem Heilkünstler ganz unbekannt ist, von diesem gerade die wirksamsten Arzneien auf gut Glück hin durchprobirt werden.

Sehen wir uns schließlich die curirende Menschheit und ihre Heilerfolge in der Nähe an, so können wir nicht wegleugnen, daß die unwissendsten Charlatane mit ihrem blödsinnigen Hokuspokus mit ziemlich demselben Erfolge Krankheiten behandeln, wie die gelehrtesten Doctoren, Hof-, Sanitäts- und Medicinalräthe. Daher kommt es denn, daß die Homöopathen mit ihren Nichtsen, der unstudirte Sanitätsrath und vormalige Postsecretär Lutze mit seinem homöopathischen Lebensmagnetismus, der selige Schuster Lampe und seine Nachfolgerin mit dem Kräutertranke, die Frau Graf mit ihrem Abführmittel, Herr Hoff mit seinem Malzextracte, Herr Daubitz mit seinem Liqueur, irgend ein saurer Gurken- und marinirter Heringshändler mit seinen Kaltwassereinwickelungen, die Benedictiner-Mönche der Abtei von Fécamp mit ihrer Benedictine, Herr Baunscheidt mit seinem Lebenswecker, Herr Momma mit seinem Dynamom, das Hallische Waisenhaus mit seinen Goldtropfen, Lebenspulver und Lebensbalsam, aus der Ferne curirende Quacksalber mit und ohne Doctordiplom etc., etc., daß sie alle, obschon sie nur mit nichtsnutzigem Zeuge auf die abergläubische Dummheit kranker Menschen speculiren, doch ihre Lobhudeler haben und öffentlich für ihre Heilungen Danke empfangen.

Nun, Leser! Wenn Du Dir Deinen gesunden Menschenverstand noch nicht ganz abgewöhnt hast und Dir gesagt wurde, daß von jeher das Verhältniß der Genesenden und Sterbenden bei den verschiedenartigsten Behandlungsweisen unter den Kranken im großen Ganzen so ziemlich dasselbe blieb und daß unwissende Laien durch den blödsinnigsten Unsinn und die allertollsten Gaukeleien, durch Beten, Besprechen, Bestreichen und Anhauchen Kranke herstellen; wenn Dir ferner versichert wird, daß auch die schwersten Krankheiten ohne allen Arzneigebrauch heilen können und daß gar nicht selten von Aerzten aufgegebene, scheinbar dem Tode verfallene Kranke ganz von selbst wieder gesund werden, – sollte Dir denn da wirklich nicht die Frage einfallen: dürfte die Heilung der Krankheiten nicht etwa von ganz andern Ursachen abhängig sein, als von den medicinischen Lehrsätzen und ihren sich stets widersprechenden Heilmitteln und Heilmethoden? – Und so verhält sich’s denn auch. Schon Hippokrates sprach es (vor mehr als zweitausend Jahren) aus: „Die Natur ist es, welche die Krankheiten heilt.“ Eine solche Heilung kommt aber dadurch zu Stande, daß jede krankhafte Veränderung in unserm Körper nach ganz bestimmten organischen Gesetzen solche Processe nach sich zieht, durch welche jene Veränderung entweder vollständig oder nur theilweise, bald schneller, bald langsamer entfernt wird (d. s. die sogenannten Naturheilungsprocesse). Freilich tritt nicht immer Heilung in Folge jener secundären oder reactiven Processe ein, leider ziehen sie oft auch den Tod oder doch bleibende Entartungen (organische Fehler) nach sich. Die günstigen Resultate, welche bei Krankheiten die unverwüstliche Natur so häufig trotz des unsinnigsten Curirens hervorbringt, schreiben die Heilkünstler immer nur sich selbst und ihren Mitteln und die Charlatane ihrem Hokuspokus zu. Diese Resultate sind es auch, die jeden Unsinn in der Heilkünstelei aufkommen lassen. Man wolle doch endlich einmal merken, daß es keine noch so gefährliche, noch so zerstörende Krankheit giebt, die nicht unter günstigen Bedingungen und zwar ohne alle Arznei heilen könnte. Diese Bedingungen aufzusuchen, herbeizuführen und durch die verschiedenartigsten diätetischen Hülfsmittel (zu denen Luft, Licht, Nahrung, Wärme, Kälte, Wasser, Ruhe, Bewegung etc. gehören) zu fördern, das ist, abgesehen von der Verhütung von Krankheiten, die Aufgabe eines rationellen Arztes (des Arztes der Zukunft), nicht aber die, auf einem bestimmten Arzneimittel hartnäckig bei einer bestimmten Krankheit zu bestehen, oder an allen möglichen Mitteln aus allen Classen der organischen und unorganischen Natur herumzurathen, oder gar alle Krankheiten nach einer und derselben Schablone (wie z. B. die Kaltwasser-Quacksalber) zu behandeln. Zu einem rationellen Arzte paßt nun aber keine alte Frau, kein Schuster und Dütchenkrämer, und dergleichen, sondern nur ein in der medicinischen Wissenschaft gehörig unterrichteter Mann. Wenn das Wirken des Arztes wirklich ein segensreiches werden

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 367. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_367.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)