Seite:Die Gartenlaube (1867) 370.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Ohr als das des harmlosen, unwissenden Kindes würde auch eher alles Andere, als diese Harmonien mit der Orgel in Verbindung gebracht haben – die Ouverture zum Don Juan wurde meisterhaft auf dem Clavier gespielt.

Felicitas schob einen wackligen Tisch unter das Fenster und stieg hinauf. Ah, was war das! … Freilich mit der geträumten Ausschau in die weite Gotteswelt war es hier nichts; vier Dächer bildeten ein festgeschlossenes Quadrat, von denen das gegenüberliegende die anderen überragte und dem Blick jede Fernsicht verwehrte, aber gerade dies Dach-vis-à-vis war für die zwei erstaunten, weitgeöffneten Kinderaugen ein Wunder, wie es die schönsten Märchenbücher nicht wunderbarer erzählen konnten. Dort auf der hohen, doch sanft geneigten Schrägseite gab es nicht etwa Ziegel, wie sie die anderen Dächer schwarzbraun, schmutzig und bemoost zeigten – nein, es war förmlich überschüttet mit Blumen, mit Astern und Dahlien, welche ihre bunten Häupter hoch droben in den Lüften mit derselben Sicherheit wiegten, wie drunten, dicht an der starken Muttererde. So weit ein pflegender menschlicher Arm von der am unteren Rand des Daches hängenden Galerie aus reichen konnte, stiegen die Blumenreihen empor, dann aber schloß sich ihnen ein in allen Nüancen des Roth spielendes Blättergewirr an, fast wie ein Mantel, der sich um die Schultern einer glänzenden Schönheit legt – die wilde Weinrebe reckte und streckte sich bis hinauf zum First; selbst auf die Nachbardächer krochen die Ranken noch mit ihren leuchtenden, gefingerten Blättern und den schwarzblauen Trauben. Die Galerie hatte die ganze Länge des Daches und hing so luftig und leicht da, als sei sie hingeweht, und doch trug die Brüstung ihres Geländers schwere Kästen voll Erde, aus denen dicke Resedabüschel quollen und Hunderte von Monatsrosen ihre lachenden Köpfchen steckten.

Ein, weißer, ziemlich plumper Gartenstuhl neben einem runden Tischchen, auf welchem ein Porcellan-Kaffeegeschirr stand, bewies unwiderleglich, daß Geschöpfe von Fleisch und Bein hier oben hausten; gleichwohl behielt die ursprüngliche Vermuthung des Kindes etwas für sich, nach welcher dort der kleine Vorbau, den eine Glasthür von der Galerie abschloß, das Hüttchen der Blumenfee sein mußte. Man sah weder Dach noch Mauern; es war Alles überwuchert von großblätterigem, schottischem Epheu; die Capuzinerkresse rankte sich hinauf, verstreute droben über die grüne Kuppel ihre gespornten Blüthenkelche mit den feurig orangegelben Sammetblättern und hing sie muthwillig schaukelnd über die Glasthür. Diese Thür klaffte ein wenig, und aus ihr quollen die Töne, die das Kind an’s Fenster gelockt hatten.

Ein Blick hinunter in den Raum, den die vier Hintergebäude umschlossen, ließ plötzlich eine Ahnung in der kleinen Felicitas aufdämmern. Da drunten krakelte und krähte es um die Wette – es war der Geflügelhof. Felicitas hatte ihn noch nie gesehen; denn aus Furcht, daß eines der scharrenden Geschöpfe in den Vorderhof, oder wohl gar in die Hausflur dringen könne, trug Friederike den Thürschlüssel stets in der Tasche. Wie oft aber war sie mit zornigem Gesicht in die Küche gekommen und hatte zu Heinrich hinübergescholten: „die Alte da oben gießt wieder einmal ihr nichtsnutziges Gras, daß die Rinnen überlaufen!“ … Ach, das nichtsnutzige Gras waren die Tausend süßer Blumengesichtchen da drüben, und das Wesen, das sie pflegte und behütete, war – die alte Mamsell, die ja auch in diesem Augenblick wieder den Sonntagnachmittag „entheiligte durch unheilige Lieder und lustige Weisen.“

Diese Gedanken waren kaum in dem Köpfchen aufgetaucht, als auch schon die kleinen Füße auf der Fensterbrüstung standen. Die ganze Elasticität der Kinderseele, die Leid und Kummer über etwas Neuem für einen Moment völlig vergessen kann, machte sich auch hier geltend. … Das Kind konnte ja klettern wie ein Eichhörnchen, und über die Dächer hinzulaufen, war eine Kleinigkeit. Da unten auf den zwei an den Dächern hängenden Rinnen ließ es sich jedenfalls prächtig marschiren; sie sahen zwar etwas bemoost und wackelig aus, und dort in der Ecke, wo sie zusammenstießen, hingen beide schief, allein sie zerbrachen jedenfalls noch lange, lange nicht und ließen sich ja gar nicht vergleichen mit dem dünnen Seil, auf welchem Felicitas noch viel kleinere Mädchen, als sie selbst war, hatte tanzen sehen. Sie schlüpfte zum Fenster hinaus, und nach zwei Schritten über das abschüssige Dach stand sie in der Rinne. Es ächzte und knackte widerwillig unter den Füßchen, die tapfer vorwärts trippelten – rechts nicht der mindeste Halt und links eine gähnende Tiefe von vier Stockwerken – wenn das die Mutteraugen gesehen hätten! – aber es ging vortrefflich. Noch ein Hinaufklettern auf das bedeutend höhere Dach, dann ein Sprung über das Geländer, und das Kind stand mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen mitten unter den Blumen und sah über die anderen Gebäude hinaus in die weite, weite Welt, auf die ein purpurglühender Abendhimmel niederstrahlte.

Auf dem runden Tischchen lagen auch verschiedene Zeitungen, und auf einer derselben las das Kind im Vorüberschreiten lächelnd den Titel: „Die Gartenlaube“. Eine Gartenlaube, ja, die paßte freilich prächtig hierher, wo es so hell und sonnig war und wo eine so reine, frische Luft wehte!

Und nun stand das kleine Mädchen da und blickte schüchtern durch die Glasscheiben, die vielleicht noch nie ein Kindergesicht wiedergespiegelt hatten. … Wuchsen denn die Epheuzweige durch das Dach und rankten sich da drinnen in dem großen Zimmer weiter? Von der Wandbekleidung konnte man nichts sehen, sie war völlig überstrickt von Gezweig, aber in kleinen Zwischenräumen traten Postamente aus der Wand hervor, auf denen große Gipsbüsten standen – eine merkwürdige Versammlung ernster, bewegungsloser Köpfe, die sich leuchtend und geisterhaft abhoben von dem kräftigen Grün der Blätterwand. Sie ließen es sich schweigend gefallen, daß die Epheuranken Allotria trieben und sich hier quer um die Brust des Einen, und dort als Kranz um eines Anderen ernste Stirne schlangen. Die Muthwilligen machten es ja mit den Fenstern nicht besser; sie hingen wie eine grüne Wolke verdunkelnd über den Vorhängen, und doch waren diese zwei Fenster zwei prächtige Landschaftsbilder, sie ließen draußen die Straßendächer weit unter sich und faßten da drüben den herbstlich bunten Wald auf dem Bergrücken und die fahlen Streifen der Stoppelfelder in ihren Rahmen.

Unter den Fenstern stand ein Flügel. Die alte Mamsell, genau so gekleidet wie gestern, saß davor und ihre zarten Hände griffen mit gewaltiger Kraft in die Tasten. Das Gesicht sah etwas verändert aus; sie trug eine Brille, und ihre gestern so schneebleichen Wangen waren geröthet.

Die kleine Felicitas war leise eingetreten und stand in dem Bogen, welchen der Vorbau bildete. … Fühlte die alte Dame die Nähe eines menschlichen Wesens, oder hatte sie ein Geräusch gehört – sie brach plötzlich mitten in einem rauschenden Accord ab, und ihre großen Augen richteten sich sofort über die Brille hinweg auf das Kind. Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch die schwächliche Gestalt der Einsamen, ein leiser Schrei entfloh ihren Lippen; sie nahm mit der zitternden Rechten die Brille ab und erhob sich, während sie sich auf das Instrument stützte.

„Wie kommst Du hierher, mein Kind?“ fragte sie endlich mit unsicherer Stimme, die jedoch trotz des Schreckens sanft und mild blieb.

„Ueber die Dächer,“ versetzte das ängstlich gewordene kleine Mädchen beklommen und zeigte mit der Hand zurück nach dem Hof.

„Ueber die Dächer? – Das ist unmöglich. Komm’ her, zeige mir, wie Du gegangen bist.“ Sie faßte die Hand des Kindes und trat mit ihm auf die Galerie. Felicitas deutete auf das Mansardenfenster und nach den Rinnen. Die alte Dame schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht.

„Ach, erschrecken Sie ja nicht!“ sagte Felicitas mit ihrer lieblich unschuldigen Stimme. „Es ging wirklich ganz gut. Ich kann klettern wie ein Junge, und Doctor Böhm sagt immer, ich sei ein Flederwisch und hätte keine Knochen.“

Die alte Mamsell ließ die Hände vom Gesicht fallen und lächelte – es lag noch so viel Anmuth in diesem Lächeln, das zwei Reihen sehr schöner, weißer Zähne sehen ließ. Sie führte die Kleine in das Zimmer zurück und setzte sich in einen Lehnstuhl.

„Du bist die kleine Fee, gelt?“ sagte sie, indem sie Felicitas an ihre Kniee heranzog. „Ich weiß es, wenn Du auch nicht auf rosa Gazewolken zu mir hereingeflogen bist. … Dein alter Freund Heinrich hat mir heute Mittag von Dir erzählt.“

Bei Heinrich’s Namen kam die ganze Wucht des Leides wieder über das Kind. Wie heute Morgen stieg eine glühende Röthe in die Wangen, und Groll und Weh zogen jene herben Linien um den kleinen Mund, die über Nacht den Ausdruck des Kindergesichts zu einem völlig anderen gemacht hatten. … Den Augen der alten Mamsell entging diese plötzliche Veränderung nicht. Sie

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_370.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)