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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

trat die Häßlichkeit des fahlen, aufgedunsenen Gesichtchens nur um so grotesker hervor, und der stets höchst elegante Anzug war auch selten geeignet, die unförmliche Taille und die aufgetriebenen Gelenke des Kindes zu verbergen. Allein bei allem Contrast in der äußeren Erscheinung waren Beide doch Mutter und Kind, und um des letzteren willen waren sie nach Thüringen gekommen.

Innerhalb der letztverflossenen neun Jahre nämlich hatte ein Ingenieur seine Wünschelruthe ziemlich nahe dem Weichbild der Stadt X. spielen lassen; der moderne Mosesstab hatte dem Boden einen bitteren Quell entlockt, der an der Luft, wenn auch nicht zu Gold und Silber, so doch zu sehr schätzenswerthen Salzkrystallen erhärtete. Das war ein Fingerzeig für die Bewohner von X. Sie etablirten ein Soolbad, das im Verein mit dem ausgezeichneten Renommée der Thüringer Luft sehr bald Hülfesuchende aus aller Herren Länder herbeizog.

Die junge Dame war auch in die Stadt gekommen, um ihr Kind in der Salzfluth zu baden, und zwar auf Anrathen des Professors Johannes Hellwig in Bonn… Ja, die Frau da drunten hinter dem Asklepiasstock hatte viel für ihren Sohn gethan! Sie hatte es durchgesetzt, daß er frühzeitig unter das Regiment des strenggläubigen Verwandten am Rhein gekommen war; sie hatte es nie geduldet, daß er während seines siebenjährigen Fernseins auch nur ein einziges Mal auf Ferien nach Hause kommen durfte; sie hatte jeden Morgen pünktlich und regelrecht seinen Namen auf dem Betstuhl genannt und war nie müde geworden, die Zahl und Beschaffenheit seiner Hemden von der Ferne aus streng zu controliren – und da war er nun auch ein berühmter Mann geworden.

Es würde übrigens dem jungen Professor bei all’ seiner Berühmtheit und Wohlerzogenheit schwerlich gelungen sein, einen seiner Patienten in der geschonten Erkerstube seiner Mutter unterzubringen, wären nicht seine beiden Schützlinge Tochter und Enkelin jenes strenggläubigen Verwandten am Rhein gewesen, auf welchen Frau Hellwig große Stücke hielt. Nebenbei hatte auch die schöne, junge Frau den Vorzug eines hübschen Titels – sie war die Wittwe eines Regierungsrathes in Bonn. Es konnte der Welt gegenüber ganz und gar nichts schaden, wenigstens eine kleine Regierungsräthin in der Familie zu haben, da Herr Hellwig sich stets starrköpfig geweigert hatte, seine Gattin zu einer Frau Commissionsräthin oder dergleichen zu machen.

Frau Hellwig saß am Fenster auf der Estrade. Man hätte meinen können, die Zeit sei auch spurlos an dem feinen, schwarzen Wollkleide, an Kragen und Manschetten vorübergegangen; bis auf die kleine Nadel, die den Kragen unter dem Kinn zusammenhielt, war der Anzug genau derselbe, wie wir ihn am ersten Abend an der großen Frau kennen gelernt haben. Nur erschien die Büste voller; die engen Aermel umschlossen drall die starken Oberarme, und der Schneider hatte, vielleicht heimlicherweise, den Rock faltenreicher um die plumpe, sehr ungraciöse Taille gereiht… Ihre großen weißen Hände lagen mit dem Strickzeug feiernd im Schooße – sie hatte in diesem Augenblick Wichtigeres zu thun.

An der Thür, in sehr ehrerbietiger Entfernung, stand ein Mann; seine schmale Gestalt steckte in einem abgeschabten Rock, und die Hand, die er öfter beim Sprechen hob, war voller Schwielen. Er sprach leise und stockend – war es doch so unheimlich still im Zimmer; nur das Ticken der Wanduhr begleitete seinen Vortrag. Aus dem Mund der gestrengen Frau aber kam kein ermuthigendes Wort, ja, es schien, als fehle dieser regungslosen Gestalt sogar der Athemzug, als könne der starre, unbewegliche Blick stets und immer nur das eine Ziel haben – das ängstliche, blasse Gesicht des Mannes, der endlich erschöpft schwieg und sich mit seinem kattunenen Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte.

„Sie sind an die Unrechte gekommen, Meister Thienemann,“ sagte Frau Hellwig nach einer abermaligen Pause kalt. „Ich zersplittere mein Geld nicht in so kleine Capitalien.“

„Ach, Madame Hellwig, so ist’s ja auch gar nicht gemeint; ich werde doch nicht so unbescheiden sein!“ entgegnete der Mann lebhaft und trat einen Schritt näher. „Aber Sie sind bekannt als eine wohlthätige Dame, denn Sie sammeln ja Jahr aus, Jahr ein für die Armen und stehen so oft im Wochenblatt mit Lotterien und dergleichen, und da wollte ich nur bitten, mir für ein halbes Jahr gegen Zinsen das Capitälchen von fünfundzwanzig Thalern aus dem Gesammelten vorzustrecken.“

Frau Hellwig lächelte – der Mann wußte nicht, daß dies ein Todesurtheil für seine Hoffnung war.

„Ich könnte beinahe denken, es sei nicht ganz richtig bei Ihnen, Meister Thienemann – diese Zumuthung ist wirklich neu!“ sagte sie beißend. „Allein ich weiß ja, daß, Sie sich um die Bestrebungen der Gläubigen für die heilige Kirche nicht kümmern, und deshalb will ich Ihnen sagen, daß von den dreihundert Thalern, die gegenwärtig disponibel in meinen Händen sind, nicht ein Heller hier in der Stadt bleibt. Ich habe es für die Mission gesammelt – es ist heiliges Geld, bestimmt zu einem Gott wohlgefälligen Werke, nicht aber, um Leute zu unterstützen, die arbeiten können.“

„Madame Hellwig, an Fleiß lass’ ich’s nicht fehlen!“ rief der Mann mit halberstickter Stimme. „Aber die Krankheit hat mich in’s Elend gebracht. … Du lieber Gott, wie noch besseres Zeiten für mich waren, da hab’ ich über Feierabend Kleinigkeiten gearbeitet und hab’ sie in Ihre Lotterien gegeben, weil ich dachte, sie kämen unseren Armen zu Gute, und nun geht das Geld hinaus in die weite Welt, und bei uns giebt’s doch auch Viele, die keinen Schuh an den Füßen und im Winter kein Scheit Holz auf dem Boden haben.“

„Ich verbitte mir alle Anzüglichkeiten! … Wir thun übrigens hier auch Gutes, aber mit Auswahl, Meister Thienemann. … Solche Männer, die im Handwerkerverein Vorträge voller Irrlehren mit anhören, bekommen natürlich nichts. Sie thäten auch besser, bei Ihrer Hobelbank zu stehen, als daß Sie in die Sterne und in die Steine gucken und behaupten, es sei da auch Vieles anders, als die heilige Schrift aussage. … Ja, ja, dergleichen gotteslästerliche Reden kommen uns schon zu Ohren und wir merken sie uns fleißig für vorkommende Fälle. … Sie kennen nun meine Ansicht und haben bei mir gar nichts zu hoffen!“

Frau Hellwig wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus.

„Lieber Gott, was muß man sich doch Alles sagen lassen, wenn man in Noth ist!“ seufzte der Mann. „Das verdanke ich meiner Frau; sie hat nicht geruht, bis ich in dies Haus gegangen bin.“

Er sah noch einmal nach dem zweiten Fenster des Zimmers, und als ihm auch von dort her weder Hülfe noch ein tröstendes Wort kam, ging er zur Thür hinaus. Der letzte Blick des armen Handwerkers hatte der Regierungsräthin gegolten, die Frau Hellwig gegenübersaß. War je eine weibliche Erscheinung geeignet, eine frohe Hoffnung in dem Herzen Hülfsbedürftiger zu erwecken, so war es jene rosige Gestalt im duftigen, fleckenlos weißen Kleide. Die weichen Linien des Profils, der[WS 1] Glorienschein der hellen Locken über der Stirn, die blauen Augen, das Alles machte den Gesammteindruck eines Engelskopfes – für den aufmerksamen Beobachter jedoch den eines gemeißelten; denn während mehr als einmal das Roth der Entrüstung über Frau Hellwig’s Stirn geflogen war, und der Bittende so beweglich in Stimme und Geberden seine sorgenvolle Angst an den Tag gelegt hatte, war von jenem lieblichen Oval auch nicht einen Augenblick der Ausdruck lächelnder Ruhe gewichen. Der schöne Busen hob und senkte sich in gleichmäßigen Athemzügen; die halbgestickte Rose unter ihren Fingern hatte sich während der kleinen Scene um ein Blatt vermehrt, und das strengste Auge würde an den sorgfältig abgezählten Kreuzstichen auch nicht den geringsten Makel entdeckt haben.

„Du hast Dich doch nicht geärgert, Tantchen?“ fragte sie aufblickend mit lieblich schmeichelnder Stimme, als der Meister das Zimmer verlassen hatte. „Mein seliger Mann stand auch mit diesen Fortschrittlern stets auf sehr gespanntem Fuß, und das Vereinswesen war ihm ein Gräuel. … Ah, sieh’ da, Caroline!“

Bei diesem Ausruf winkte sie nach der Küchenthür. Dort war schon längst, noch während der Anwesenheit des Tischlermeisters, ein junges Mädchen leise und geräuschlos eingetreten. … Wer vor vierzehn Jahren die schöne junge Frau des Taschenspielers vor den Gewehrläufen der Soldaten hatte stehen sehen, der mußte unwillkürlich erschrecken bei dieser wiedererstandenen Erscheinung. Es waren dieselben Körperformen, wenn auch zarter und mädchenhafter und hier in einen groben, dunklen Stoff gehüllt, während jenes unglückliche Weib der gleißende Schimmer theatralischen Pompes umgeben hatte. Es waren dieselben tadellosen Linien des Kopfes mit der perlmutterweißen, schmalen Stirn und den unmerklich herabgesenkten Mundwinkeln, die dem Gesicht einen hinreißenden Ausdruck leiser Schwermuth verliehen. Bei jener Unglücklichen hatte der thränenvolle Blick aus dunkelgrauen Augensternen diesen Ausdruck vollendet; das junge Mädchen dagegen hob

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_372.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)