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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

ist, man ließe sich so allerhand Dummheiten vormachen. Aber wenn ich Ihnen sage, daß dort in dem kleinen Hause – sehen Sie dort, das mit dem Strohdach und Backofen – schon hundert und aber hundert Menschen gewesen sind, und nicht etwa nur geringe Leute, nein, auch vornehme Stadtherren und gnädige Fräuleins, da muß man glauben, daß an der Sache was ist. Und was sie redet, mag noch gehen, aber, gnädiger Herr, die Krämpfe, wenn sie die Krämpfe und schrecklichen Anfälle kriegt und die Augen verdreht und die Fäuste ballt, da muß man sagen, daß das was Geheimes und Uebernatürliches ist. Und dabei kann sie nicht lesen und nicht schreiben und spricht wie ein Doctor, und so feierlich, daß Einem die Gänsehaut über den Buckel läuft. Na, wir werden uns wieder sprechen – jetzt muß ich meine Leute einholen.“

Nach fünf Minuten stand ich vor dem kleinen Hause mit dem Strohdache, aus dessen Innerem ein Gesumme drang, dazwischen eine laute, scharfe Stimme in abgemessenen Pausen. Das Haus an und für sich war schon merkwürdig genug, ob seiner Kleine und gänzlichen Verfallenheit. Ein Bogengang aus Weinbergspfählen und Faßreifen construirt, mit den Ueberresten vertrockneter Bohnenranken geschmückt, bildete eine Art Vorhalle. Die Thür war nur angelehnt. Ein kleines Mädchen, das Controle über die Passanten zu führen schien, war sichtlich über mein Erscheinen betreten und flüsterte mir leise zu: „Sie können nicht mehr ‘rein, ‘s ist schon zu voll.“ Sie bei Seite schiebend, und ein blankes Fünfgroschenstück, das in solchen Fällen nie die gewünschte Wirkung verfehlt, ihr in die Hand drückend, war Eins – und ich stand in der Stube.

Ich bedurfte einiger Zeit, um mich aus dem Wust von Staub, Dunst, Halbdunkel und Publicum herauszufinden, der in dem engen, die äußerste Armuth zur Schau tragenden Raume herrschte. Am Tische links saß ein dicker Junge mit großem Kopfe; er notirte von Zeit zu Zeit Einiges und schien eine Art Protokoll zu führen. Ihm gegenüber lehnte eine halb blödsinnige Frauensperson an der Wand und starrte theilnahmlos, die Hände im Schooß gefaltet, vor sich hin. Sie ward von untergeschobenen Kissen gestützt, so gebrochen war ihr Körper, und das Bettgestell, auf dem sie kniete, war aus Kisten und Kasten zusammen gebaut und mit elenden Laken überhangen. Vor diesem dürftigen Lager aber saß eine kräftige Frau von einigen fünfzig Jahren, mit derben bäurischen Zügen und krausem, ungekämmtem Haar. Es war dies die Sibylle, oder wie man sie in der Umgegend zu benennen pflegt: „die Schlafende“! Die Predigt, mit der sie ihre Vorstellungen einzuführen gewohnt ist, war bereits vorüber, und ich trat eben in dem Moment ein, als sie ihre Visionen bekam und in Zuckungen verfiel, die mir als genau einstudirte Krampfexercitien erschienen.

Der Anblick dieses Gebahrens, so widerlich er für jedes gebildete Auge sein mußte, verfehlte jedoch seine Wirkung auf die Umstehenden nicht, die allerdings nur aus armen Landleuten bestanden, von denen Einige, wie ich später hörte, einen Marsch von neun Stunden gemacht hatten, um für eine kranke Schwester, ein aufgegebenes Kind, einen seit Jahren siechen Vater oder Bruder Hülfe bei der Schlafenden zu suchen. Die Medicamente, die sie verordnete, bestanden allerdings aus den gewöhnlichsten und unschädlichsten Kräutern, wie Wegebreit, Schafgarbe und dergleichen. Der Protokollant, Gotthold geheißen, schrieb nun den Leuten die verordneten Mittel auf und bekam dann zwei, fünf und zehn Groschen, manchmal aber auch nur einen verbindlichsten Dank, den der Schreiber eben so geschäftsmäßig entgegennahm, wie die klingende Münze, während er dabei gelegentlich einen tüchtigen Biß in ein Käsebrod that. Den rathholenden Leuten sah man indeß die tiefe Ehrfurcht an, mit der sie die Sibylle und ihre Aussprüche, wie den Schreiberjungen betrachteten, und ich hätte einem Unberufenen nicht rathen wollen, hier eine unvorsichtige Bemerkung einfließen zu lassen, weshalb ich es auch sehr angezeigt fand, aus meiner reservirten Stellung nicht herauszutreten.

Nachdem die Wahrsagerin sich „ausgekrampft“ hatte, verfiel sie, nicht ohne schauspielerisches Talent, in ihren Schlaf und schnarchte zuletzt. Dann überkam sie wieder ein Zucken durch den ganzen Körper, und sie begann endlich zu dem vor ihr stehenden Mann ungefähr so: „Ich weiß, Deine Alte hat Schmerzen im Leibe, ist dies so?“

„Ja, die Kuh hat sie beim Melken gestoßen.“

„Sie hat aber auch noch was Anderes an sich, ich weiß auch das; Der da oben hat mir’s gesagt in der letzten Nacht, weil ich nicht schlafen konnte und nur an meine Mitmenschen dachte!“

„Ja, sie hat außerdem noch was Rheuma.“

„Da nimm –“ und nun nannte sie eine Menge bekannter Kräuter her, die „Gotthold“ sogleich verzeichnete und dem Clienten gegen Verabreichung eines Geldstücks das Papier über den Tisch hinschob. Der Client zog sich, wie vor den Kopf gestoßen, zurück, die Schlafende erwachte peu-à-peu, sah wildblickend um sich (Alles nicht schlecht gemacht) und ein anderes Schlachtopfer trat vor, wobei sich ziemlich genau dieselbe Procedur wiederholte.

Ich hielt es zuletzt an der Zeit mich eben so geräuschlos zu entfernen, wie ich gekommen war, und ruhte in der nächsten Mühle von den genossenen Strapazen eine halbe Stunde aus. Dem Müller, der mir ein vernünftiger Mann schien, konnte ich nicht umhin zu bekennen, wie ich verwundert sei, daß solch’ empörender Schwindel, der nur auf die Dummheit und die Börse der armen Leute speculire, in unserer Zeit und in einem so cultivirten Lande noch möglich sei; wie es den Behörden unbekannt bleiben könne, daß Hunderte armer, unwissender Leute hier um ihr Bischen Geld und Verstand zugleich kämen; wie dieses Zauberwesen nicht allein den Ort, sondern auch die Umgegend demoralisire und bei Vernünftigdenkenden in Mißcredit bringe. „Will Niemand davon Notiz nehmen,“ fügte ich etwas erregt hinzu, „nun, so ist es wenigstens Pflicht der Presse, die öffentliche Aufmerksamkeit auf derartige Krebsschäden zu lenken.“

„Der Herr sind wohl von einer Zeitung?“ frug der Müller schlau lächelnd.

„Kann sein, Freund,“ entgegnete ich, indem ich in die dargereichte Hand einschlug, und trat darauf meinen Rückweg an.

Ich schließe dieses Thema ohne alle Betrachtungen über Somnambule und Hellsehende, wozu sich unsere Sibylle unstreitig gerechnet wissen will und von den „Gläubigen“ gerechnet wird. Aber Denen gegenüber, die etwa die „überirdische Begabung“ dieser Dame nicht in Zweifel gezogen wissen wollen, wage ich die Frage aufzuwerfen: Ist es möglich, daß Jemand, der somnambul oder hellsehend ist, diesen Zustand so zu schulen und zu commandiren vermag, daß er, wie obige Frau, jeden Sonntag, Dienstag und Freitag ad libitum davon Gebrauch machen kann? Läßt sich eine krankhafte Erscheinung so dressiren? Zuletzt erfuhr ich übrigens noch, daß die Schlafende bereits mehrfach eingezogen und bestraft worden sei – aber, „was hilft’s,“ sagte bei dergleichen Fällen jener alte Gärtner, „wenn man das Ungeziefer einfängt und dann wieder laufen läßt – man muß es unschädlich machen!“




Die Biene.[1]


Du littest nicht die Biene Dir im Zimmer,
Die müßigsurrende; Du ließest sie
Hinaus zur Arbeit, zu den Ihren hin,
Und fröhlich flog sie fort! – Da war es still.

5
Surrt jetzt die Biene wieder mir im Zimmer,

Die von den blüh’nden Trauben vor dem Fenster
Sich in die grüne Dunkelheit verirrt,
Da muß sie bei mir weilen, bei mir surren!

Ich meine: Du bist sie, die Fleißige,

10
Die wiederkehrt zu wirken, zu den Ihren,

Zu mir! Ich höre selig ihr Gesurr;
Sie ruht auf meiner Hand; sie sticht mich nicht,
Und endlich laß ich weinend sie hinaus
In alle Welt, wie Dich in alle Welt,

15
Und wieder ist es still, so still im Herzen.
  1. Aus Leopold Schefer’s nachgelassenen Gedichten. Von dem Sänger des Laienbreviers sind unter dem Titel: „Für Haus und Herz. Letzte Klänge von Leopold Schefer. Herausgegeben von Rudolf Gottschall“ nachgelassene Gedichte erschienen, die sich durch Tiefe der Empfindungen und Gedanken, wie durch Originalität gleichmäßig auszeichnen. Besonders in den „Klage- und Trostliedern am Grabe der Lieben“, in welchen der Dichter seinen erschütternden Schmerz über den Verlust der heißgeliebten Lebensgefährtin ausspricht, findet sich eine Tiefe der Empfindung und eine Gewalt des Ausdrucks, welche jedes Herz ergreifen müssen.
    D. Red.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_375.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)