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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

No. 25.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


11.

Heinrich schloß die Hausthür, und Felicitas stieg die Treppe hinauf. Der schmale Gang mit seiner dumpfen, eingeschlossenen Luft, der sich da oben seitwärts abzweigte, wie lieb und traut umfing er das junge Mädchen, das eilig hindurch schlüpfte! Dann kam ein stiller, abgelegener Vorplatz; auf schiefe Wände, ein plumpes, wurmzerfressenes Treppengeländer, das unten aus unheimlicher Dämmerung emporstieg, und auf eine uralte, mit steifgemalten Tulpen und ziegelrothen Rosen bedeckte Thür fiel hier ein falber Lichtschein, den bouteillengrüne Gläser hereinwarfen. Felicitas zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete geräuschlos die Thür, hinter welcher eine schmale, dunkle Treppe nach der Mansarde führte.

Das junge Mädchen hatte den halsbrechenden Weg über die Dächer nur ein einziges Mal machen müssen, von jenem Moment an war ihr der Eintritt in die abgeschiedene Klause der alten Mamsell unverwehrt. Während der ersten Jahre hatten sich ihre Besuche auf den Sonntag beschränkt; sie war dann in Heinrich’s Begleitung hinaufgegangen. Nach ihrer Confirmation jedoch hatte ihr die alte Mamsell den Schlüssel zu der gemalten Thür übergeben, und seitdem benutzte sie jeden freien Augenblick, um hinaufzuschlüpfen… Sie führte sonach ein Doppelleben. Es war nicht nur äußerlich, daß sie dabei Höhe und Tiefe berührte, zwischen trüber Dämmerung und klarem Sonnenlicht wechselte – ihre Seele machte dieselbe Wandlung durch, und allmählich war sie so erstarkt, daß zuletzt alle Schatten, alles Trübe der unteren Regionen hinter ihr blieben, sobald sie die schmale, dunkle Treppe hinaufstieg. … Unten handhabte sie Bügeleisen und Kochlöffel; ihre sogenannte Erholungszeit mußte sie ausfüllen mit Stickereien, deren Ertrag zu wohlthätigen Zwecken bestimmt war, wie wir bereits gesehen haben, und außer der Bibel und einem Gebetbuch wurde ihr jede Lectüre streng verweigert. In der Mansarde dagegen erschlossen sich ihr die Wunder des menschlichen Geistes. Sie lernte mit wahrer Begierde, und das Wissen der räthselhaften Einsamen da droben war wie ein unerschöpflicher Quell, wie ein geschliffener Diamant, dem nach jeder Richtung hin Funken entsprühen… Außer Heinrich wußte Niemand im Hause um diesen Verkehr, die leiseste Ahnung Seitens der Frau Hellwig würde ihm natürlicherweise sofort den Todesstoß versetzt haben. Trotzdem hatte die alte Mamsell dem Kinde stets eingeschärft, streng die Wahrheit zu sagen, wenn es je darum befragt werden sollte. Dazu kam es indeß niemals; Heinrich wachte treulich, er stand auf der Lauer und hatte Augen und Ohren offen.

Die dunkle Treppe war erklommen. Felicitas blieb horchend vor einer Thür stehen, schob einen kleinen Schieber an derselben seitwärts und blickte lächelnd hinein. Da drin ging es toll zu – es war ein seltsames Gemengsel von Singen, Piepen und Schreien. Inmitten des Raumes erhoben sich zwei Tannen; die Wände entlang liefen Bosquets, wie sie ein Garten nicht frischer aufweisen konnte, und auf dem Gezweig hauste ein lustiges Vogelgesindel. Das war das Lebendige, das sich die alte Mamsell in ihre stille Einsiedelei heraufgeholt hatte. Die kleinen, melodischen Kehlen sangen zwar immer die nämlichen Weisen, aber dafür hatten sie auch nicht jene unselige Wandlung der Menschenzunge, die heute „Hosianna“ und morgen „Kreuzige“ ruft.

Felicitas schloß den Schieber und öffnete eine zweite Thür. Der Leser hat bereits vor Jahren einen Blick in diesen epheuumsponnenen Raum geworfen, er kennt die Versammlung ernster Köpfe, die sich an den Wänden hinreiht, aber er weiß nicht, daß sie in innigem Zusammenhang stehen mit jenen großen, in rothen Maroquin gebundenen Büchern, welche dort in einem altväterischen Glasschrank aufgeschichtet liegen… Es ist eine gewaltige Fluth, die von jenen Stirnen ausgegangen – wer sie zu entfesseln versteht, der kennt keine Einsamkeit, kein Verlassensein… Die großen Tonmeister verschiedener Zeiten waren es, welche in Bild und Werken das Asyl der alten Mamsell theilten, und wie sich die Epheuranken vermittelnd und unparteiisch um alle Büsten schlangen, ebenso vorurtheilslos begeisterte sich die einsame Clavierspielerin an der alt-italienischen, wie an der deutschen Musik. Der Glasschrank barg aber auch noch Schätze, die einen Autographensammler in Ekstase hätten versetzen können. Manuscripte und Handschriften jener gewaltigen Männer, die meisten von seltenem Werthe, lagen in Mappen hinter den Scheiben. Diese Sammlung war in früheren Jahren zusammengetragen worden, wo, wie die alte Mamsell lächelnd meinte, ihr Blut noch feurig durch die Adern gerollt sei und hinter den Wünschen noch die Energie gestanden habe – manches vergilbte Blatt war mit bedeutenden Opfern und seltener Ausdauer errungen worden.

Felicitas fand die alte Mamsell in einem Zimmer hinter der Schlafstube. Sie kauerte auf einem Fußbänkchen vor einem geöffneten Schranke, und um sie her auf Stühlen und Fußboden lagen Rollen weißer Leinwand, Flanell und eine Menge jener kleinen Gegenstände, die das Menschenkind sofort nach seinem ersten Schrei beansprucht. Die alte Dame wandte den Kopf nach der Eintretenden. Ihre feinen Züge hatten sich merkwürdig verändert, und wenn sie auch jetzt eben lebhafte Freude ausdrückten, so

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_385.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2019)