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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

von Gotha heimlich nachgelaufen, aus Liebe und Sorge für mich. Meine Angehörigen in der Ferne besuchten mich gestern dort, um sich von mir zu verabschieden. Bei ihrer Wegfahrt befand sich der Knabe unter ihnen, saß zwischen Vater und Mutter. Wer kann sich aber mein Entsetzen vorstellen, als ich auf der Höhe dort, beim Sammeln und Antreten, den Knaben hinter einem Gepäckwagen hervorkommen sah, vor Schmutz kaum zu erkennen! Er warf sich in meine Arme, vor meine Kniee und bat flehentlich, ihn da zu behalten. ‚Laß’ mich bei Dir, Bruder Eduard, stoße mich nicht weg! Ich habe keine Ruhe, und jagst Du mich hier fort, so komme ich dort wieder!‘ Dies waren und sind seine Worte, und wollte ich auf ihn einschlagen oder ihn mit Gewalt entfernen lassen, es würde mir zu nichts fruchten, er würde entspringen und mir von Neuem nachlaufen. Aber es darf nicht sein, denn ein Unfall des Knaben könnte unsere Eltern mit Herzeleid in die Grube bringen. Rathen, helfen Sie! Was ist zu thun? Ich bitte Sie um Gotteswillen, nehmen Sie sich seiner an; behalten Sie ihn hier, bis Alles vorüber! Der Knabe ist in seiner Sorge um mich fähig, hinter mir her und geradezu in den Tod zu laufen. Was kennt oder achtet ein Kind die Gefahr! die brüderliche Liebe macht ihn ganz gleichgültig gegen Alles. Bitte, mein theurer Herr, ich flehe um Ihren Beistand!“

Die Angst des guten Bruders, ebenso sehr die Liebe des Knaben, bewegten mich tief; unmöglich konnte ich mein Herz solch’ flehentlicher Bitte verschließen und andererseits durfte der Jüngere sich nicht unnütz opfern. Ich hatte meinen Entschluß gefaßt. Als der Officier mir den Knaben zugeführt, hoch aufgeschossen und mit einem Auge, in welchem eine ganze Welt voll Liebe thronte, ergriff ich freundlich seine Hand und sprach zu ihm: „Friedrich, so heißt Du ja wohl, Dein guter Bruder hat Dich mir bis heute Abend anvertraut, dann will er Dich selbst wieder abholen. Du kannst nicht mit ihm ziehen, das erlaubt weder Kriegsbrauch noch Kriegsgesetz, das würden Officiere und Cameraden nicht zugeben. In die Schlacht ziehen nur Männer und nicht Knaben; aber willst Du den Ort und die Gegend sehen, wo Dein Bruder kämpfen wird, so werde ich Dich nach jenem Thurme führen, von dessen Höhe Du das Schlachtfeld überschauen kannst. Und zu Deiner Sicherheit und Belehrung will ich selbst mit hinaufsteigen und Dir zur Seite bleiben; meine zwei Enkel hier, Otto und Willy, sollen uns begleiten. Ermanne, fasse Dich, wir meinen es gut mit Dir und Deinem lieben Bruder und mit allen unseren Befreiern; wir beten für sie und Du wirst sehen, Gott wird sie nicht verlassen.“

Beide Brüder umschlangen sich in der zärtlichsten Umarmung, der ältere aber riß sich endlich los, küßte noch einmal den beinahe ohnmächtigen Friedrich und legte ihn in meine Arme. „Lassen Sie ihn nicht von sich,“ flüsterte er; „hüten Sie ihn wie Ihren Augapfel, sonst verschwindet er Ihnen unter den Händen!“ Ich winkte, ergriff den Willenlosen und führte ihn in Begleitung der andern Kinder in meine Wohnung. – „Still’ gestanden! Gewehr auf! Marsch!“ hörte ich noch commandiren, und als wir oben an das Fenster traten, war der Platz bereits leer. Ich führte meinen Schützling in Mitte der beiden Knaben bald darauf nach dem Thurm, denn alle drei hatten unten keine Ruhe. Als wir oben angelangt waren und einen Blick nach Morgen warfen: ha, da lag das ganze Schlachtfeld bis in seine fernsten Flügel zur Linken und Rechten vor uns.

Ich bot dem jungen Friedrich das mitgebrachte Fernrohr und er verfolgte mit ängstlicher Hast den Zug seiner Coburger Landsleute, ihren Vormarsch und ihre Aufstellung zur Bedeckung der preußischen Batterien auf dem nahen Jüdenhügel.

Auf einmal schrie einer der Knaben: „Großpapa, jetzt muß eine Kanonenkugel in unsere Reiterei am Jüdenhügel eingeschlagen sein. Sieh’ nur, eine Menge Pferde springen herrenlos umher. Du lieber Gott, es betrifft fast lauter Landwehrleute. Da ist ‘was Schlimmes passirt; siehe, die ganze Reiterei sammt den Coburgern zieht sich weg und stellt sich hinter dem Jüdenhügel auf!“

„Um so ruhiger und getroster können wir deshalb sein,“ fügte ich möglichst unbefangen hinzu; denn die Gesichter der Kinder lagen voll Schrecken und Betrübniß. „Ihr seht, die Anführer verstehen ihr Handwerk und suchen ihre Leute zu schonen.“ Aber auf den jungen Friedrich schienen diese Tröstungen geringen Eindruck zu machen. Unverwandt sah er mit dem Glase in die Ferne, seine Hände zitterten, sein Antlitz war erdfahl.

So wogte der Kampf hin und her, und wenn man nicht gewußt hätte, daß es um Leben und Tod ging, dieses Schauspiel und herrliche Panorama wäre wahrhaft bezaubernd gewesen; aber das glänzende Bild hatte einen schaurigen Hintergrund und der Tod hielt auf diesen gesegneten Fluren eine reiche Ernte.

Der laute Ruf von der Straße nach Wein, Essig, Wasser, nach Hülfe, enthüllte mehr und mehr die Schrecken des Kampfgewühls. Auch mich trieb Hülferuf und Angstschrei vom Thurme hernieder, nachdem ich die Kinder in sichere Obhut des eigenen Schwiegersohnes übergeben. Wer beschreibt aber meine Bestürzung, als ich nach kurzer Zeit den Thurm von Neuem bestieg und unter den Anwesenden den jungen Friedrich vermißte, auch Niemand über sein Verschwinden Auskunft geben konnte. Alt und Jung waren dermaßen mit dem Anblick und Laufe der Schlacht beschäftigt, daß alles Andere vergessen schien. Wie eifrig ich jeden Winkel des alten finsteren Thurmes durchspähte, so laut ich den Namen Friedrich rief, der Flüchtling war und blieb wie von der Erde verschwunden. Ich ahnte, wohin er geflohen: in das nahe Schlachtgewühl zu seinem Bruder. Es bekümmerte mich sehr und ich machte mir Vorwürfe, aber es war zu spät.

Ich übergehe den Lauf und Ausgang der Schlacht, es gehört dieses Bild in einen andern Rahmen. – Am andern Tage früh kam ein Bote aus dem nächst gelegenen Lazarethe und erbat dort meine Gegenwart. „Unter unsern Verwundeten ist ein Officier,“ sprach der Mann, „der Sie kennt und sprechen möchte; er läßt Sie um Ihren Besuch bitten.“ Ein nothwendiges Geschäft im Hause hielt mich zurück und ich schickte deshalb meinen Schwiegersohn mit dessen zweien Knaben, um das Anliegen des Officiers zu erforschen; aber wie groß waren mein Erstaunen und Bedauern, als sie mit einem Verwundeten zurückkamen, den zwei Landwehrmänner mehr trugen als führten. Und wer war der Arme? Es war der schöne Jägerofficier von dem Coburger Bataillon, von einer Vollkugel an der Schläfe gestreift und dadurch niedergeworfen. Und wer schlich hinter ihm her, blaß, erschöpft und matt bis zum Umsinken? Unser Ausreißer, der junge Friedrich. – Ohne für jetzt weiter etwas zu fragen, denn der Officier war fast ganz bewußtlos, entkleideten wir ihn und brachten ihn zu Bette. Der herbei gerufene Hausarzt untersuchte seinen Zustand und erklärte: „Starke Hirn- und Rückenmarkerschütterung! Eisumschläge auf Kopf und Nacken und die größte Ruhe!“ – Sofort wurden die nöthigen Vorbereitungen getroffen und Friedrich blieb mit unsern Knaben zur Pflege an dem Bette des Schwerathmenden; Alle Versuche und Vorstellungen, den ganz erschöpften Friedrich zu eigner Schonung und Ruhe zu bringen, blieben erfolglos. Er wich und wankte nicht und ließ sich eine kleine Erfrischung fast nur mit Gewalt aufnöthigen. Den ganzen langen Sommertag und auch während der Nacht blieb der treue Hüter in seinem Samariterdienste. Erst gegen Morgen, als des Kranken Athem ruhiger wurde und Schlaf eintrat, ließ er sich von uns erbitten, ein Stündchen zu ruhen. Seine Erschöpfung war so groß, daß er in einen wahrhaft todtenähnlichen Schlaf versank. Wir ließen beide Brüder ungestört, Ruhe und Schlaf war das beste Heilmittel.

Als Friedrich endlich erwachte, war es bereits Abend und es fing an zu dunkeln. Hastig sprang er in die Höhe, das ängstliche Auge blickte nach dem Kranken. Und o Freude und Wonne! die Blicke desselben zeigten klares Bewußtsein; er lächelte seinem Bruder zu, hob die Hand und drohte mit dem Finger.

Der freudig erregte Knabe kniete am Bette des Kranken nieder, ergriff seine beiden Hände und küßte sie unter Thränen. „O bitte, bitte, nur ein einziges Wort,“ flüsterte er dem Bruder zu. Dieser aber war in sichtbarer Rührung; seine Augen standen voll Thränen, die Lippen zitterten, unfähig eines jeden Wortes. Endlich legte sich der Sturm seiner Gefühle; er streichelte und klopfte dem Knieenden die Wangen, spielte mit dessen Haare und beruhigte sich mehr und mehr.

Aber seine Augen schlossen sich bald wieder, der Kopf fiel zurück, er schlummerte ein. „Mein lieber Friedrich, fürchte nichts,“ sprach ich tröstend zu dem Knaben, als ich seine ängstlichen Blicke sah; „das ist der Schlaf wiederkehrender Gesundheit. Ueberzeuge Dich selbst: Athem und Pulsschlag gehen ruhig.“ – Der Knabe lebte von jetzt an immer mehr auf und ließ sich sogar zeitweise von seinen jungen Freunden Otto und Willy bei der Krankenpflege ablösen. –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_411.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)