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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

in dem des rechten Wagenfensters, und unter letzterer im Vordergrunde, auf einem Hügelhang aus Buchenwipfeln emporsteigend, der Streitthurm und die Giebel und Zinnen einer Burg, grau im grünen Walde.

„Die Marienburg!“ sagte mein Begleiter, mich anstoßend.

Ein Pfiff der Locomotive, und „Nordstemmen!“ rief der Schaffner, indem er die Wagenthür öffnete.

Ein Bahnhofsgebäude in romanischem Stil nahm uns auf (in Hannover fand ich überhaupt Vieles gothisch oder romanisch gebaut), und ein paar Minuten später waren wir raschen Ganges auf dem Fahrwege, der sich durch Getreidefelder und ein hübsches Wäldchen nach der Burg hinschlängelt. Die beiden grünen Gensd’armen, welche die Reisenden auf dem Bahnhofe empfingen, hatten uns unbefragt und unbehindert passiren lassen. Jetzt sahen wir, uns umblickend, daß der eine uns eiligen Schrittes nachkam.

„Wollen die Herren nach der Burg?“

„Wenn wir dürfen, ja.“

„Haben Sie dort was zu thun?“

„Nichts, als uns das Schloß zu besehen, die Aussicht zu betrachten und im Wirthshaus darüber ein Glas Bier zu trinken.“

„Im Wirthshaus da oben giebt’s jetzt nichts mehr, und in die Burg selbst dürfen Sie nur, wenn Sie Legitimation haben.“

Wir hatten nur Visitenkarten und auf unsere Namen lautende Billets in die Kunstausstellung und den zoologischen Garten in Hannover.

„Das gilt nicht als Legitimation, und so werden Sie nur bis unten an den Berg dürfen. Uebrigens werden Sie noch zweimal angehalten werden.“

Damit verließ uns der Wächter des Gesetzes, um nach dem Bahnhof zurückzukehren. Wir aber setzten unsern Weg fort, ich ein wenig mit dem Gefühl, mit dem ich mich 1864 auf der Chaussee zwischen Eckernförde und Schleswig über die preußische Vorpostenkette hinausgewagt hatte. Wie damals war es unsicheres Terrain, auf dem wir uns bewegten. Wie damals hatte ich ein vortreffliches Gewissen, aber wie damals konnte doch ein unbequemes Abenteuer passiren. Indeß wollten wir nicht vergebens gekommen sein, und ein paar Stunden Verlegenheit unter Verdacht, der sich bald als unbegründet herausstellen mußte, hatten eben nicht viel zu bedeuten.

Wir durchschritten das noch vor uns liegende Wäldchen. Immer deutlicher und stattlicher trat die Burg mit ihren Einzelnheiten hervor, ein grauer Sandsteinbau aus rothen Substructionsmauern, Thürme und Thürmchen mit schwarzen Dächern, Erker und Ausbauten mit Spitzbogenfenstern. Links an der Chaussee, kurz vor der Brücke, die hier über die Leine nach dem Fuße des Burgbergs (er hieß früher der Schulenburger Berg) führt, einzelne Pfähle, dem Anschein nach einer zerstörten oder beabsichtigten Telegraphenleitung angehörig. Drüben überm Wasser rechts die böse Kalkhütte mit dunkler Rauchsäule, die man vergebens wegzukaufen versucht hatte.

Ueber die Brücke geschritten, hatten wir die Wahl, ob wir auf dem breiten Fahrwege rechts oder auf dem Fußwege, der sich links durch den Park, in den man den Wald um das Schloß verwandelt hat, zu letzterem hinaufschlängelt, weiter gehen sollten. Ein guter Genius in Gestalt eines alten Herrn mit einem Ordensbändchen, den wir um Rath fragten, rieth zu dem Fußpfade. Wir würden, meinte er, wohl noch einem Gensd’arm begegnen, aber die Burg zu besehen aus nächster Nähe, werde man uns nicht wehren.

Und so geschah es denn auch. Durch reizendes Waldesdunkel mit schimmernden grünen Lichtern wandelten wir weiter. Alles war still, nirgends einer der Cherubs in der Pickelhaube, die wir erwartet. Drei Handwerksburschen kamen seitwärts von uns auf einem andern Parkwege herauf. Endlich blickten die Wände und Fenster des Schlosses in geringer Entfernung zu unserer Linken durch die Stämme und Wipfel des Waldes, und bald nachher waren wir vor der Brücke, die über den Burggraben zu dem hintern Haupteingange des Baues führt. Ein rother Hofdiener mit breiten Goldlitzen über der Brust, Kniehosen und Gamaschen, ein Ausreiter in Uniform, ein paar Civilröcke, anscheinend gleichfalls zum Hofhalt gehörig, standen am Thore und verhandelten mit den Handwerksburschen, die Fechtens halber hier erschienen waren. Aus den kleinen Fenstern der Wohnungen über der Brücke lauschten die Köpfe von jungen Zofen herab, wie mir vorkam, neugierig, zu wissen, wer die Herren seien, die unaufgehalten in das verbotene Paradies und bis an ihr verzaubertes Schloß vorgedrungen. Möglich auch, daß sie prosaischer dachten und uns für Polizei in Incognito hielten.

Wir umschritten das Schloß auf der linken, der hinteren und der rechten Seite, weideten uns ein Weilchen an der schönen Aussicht, die man auf dem Zimmerplatz zur Rechten hinab auf das Leinethal mit seiner glänzenden Flußschlange und seinen rothen Dörfern, auf den Höhenzug des Deister, die schroffe Senkung bei Alfeld und die Hildesheimer Berge hat, und wieder störte uns keiner der gefürchteten Gensd’armen in unsern Betrachtungen. Zuletzt fragten wir an der Brücke, ob es erlaubt sei, in den Hof zu treten. Es war erlaubt, und wir machten Gebrauch davon. Die famosen Siebenunddreißig des neuen Pariser Welfenjournals sind also nicht die grausamen Cerberusse, die man sich unter ihnen vorstellt, und von einer hermetischen Absperrung der Königin und ihres Hofstaates von der Außenwelt ohne polizeiliche Legitimation ist nicht die Rede. Wir hätten jeder ein Dutzend hochverrätherischer Briefe in das Schloß bringen können. Wie Vieles von fern gesehen sich gefährlicher ausnimmt, als es ist, so auch hier.

Die Marienburg ist ein stattliches Gebäude aus grauen und gelblichen Sandsteinquadern auf einem Boden, auf welchem hin und wieder, besonders am linken Flügel, rother Sandstein zu Tage tritt. Das Ganze ist zweistöckig und vielfach gegliedert und umschließt einen Hof, der eine Tiefe von etwa dreißig und eine Breite von ungefähr achtzig Schritt hat. Die Front hat in der Mitte einen Ausbau mit Spitzbogenfenstern und rechts und links einen Eckthurm, von denen der erstere, für die Bibliothek bestimmt, zur Zeit noch der Bedachung entbehrt. Aus der linken Seitenfront tritt eine Capelle heraus, an die rechte schließt sich ein noch im Bau begriffenes Orangeriehaus – wie das Ganze in gothischem Stil gehalten – an. Tritt man über die Brücke und durch das mit den Wappen der Welfen und des Hauses Sachsen in Steinhauerarbeit geschmückte Hauptthor in den Hof, so steht man einem mächtigen, viereckigen, mit schmalen Spitzbogenfenstern versehenen Streitthurm gegenüber, aus dessen Mitte oben ein runder, in eine Zinnenkrone endender Thurm emporstrebt, während sich aus den vier Ecken kleinere Thürmchen erheben. Der große Thurm enthält eine Empfangshalle und die Treppen nach den obern Stockwerken. Die erste Etage der Vorderfront wird von der Königin bewohnt, die zweite war für den König bestimmt, eine Reihe von Zimmern auf dem linken Flügel für die Prinzessinnen, andere auf dem rechten, wenn ich recht verstand, für den Prinzen. Die Gebäude, welche hinten nach dem Walde hinaus den Hof abschließen, enthalten unten Ställe und Wirthschaftsräume, oben Gemächer für die Dienerschaft. Das Dach, welches vorn mit Thürmchen überbaute Mansardenfenster hat, ist mit schwarzen Ziegeln, die Thürme, so weit sie ein Dach haben, sind mit Schiefer gedeckt. Die Fenster des Hauptgebäudes sind mit Ausnahme derer an den Erkern, welche sich zu Spitzbogen erheben, Quadrate. Der Abhang vor der Hauptfronte wird von hübschen Kieswegen durchschlängelt, die von allerlei Wald- und Gartensträuchern eingefaßt werden. Die drei andern Seiten der Umgebung des Schlosses beschatten die Wipfel des Waldes, der den Berg ursprünglich bedeckte.

Rufe ich mir das Bild des Ganzen in’s Gedächtniß zurück, so macht es außen den Eindruck der Solidität und der Wohnlichkeit zugleich. Im Hofe aber und zumal vor dem dicken Streitthurm, der durch seine Massigkeit alles Uebrige drückt, fühlt man sich unbehaglich und wie vor einem Gefängniß.

Wir hatten genug gesehen und gingen nun den Fahrweg zurück, der von der Brücke zuerst schnurgerade durch den Wald nach dem Felde hinausführt und sich dann um die Flanke des Berges zur Leine hinabwindet. Am Saume des Waldes saß rechts über der Straße im Gebüsch eine junge Dame, die ihren Geist aus einem Buche speiste. Als sie unser ansichtig wurde, wandte sie sich seitwärts und dann wieder uns zu, wobei sie – mir schien’s bedeutsam – lächelte. Auch ich sah zur Seite, und siehe, da stand er, etwa zwanzig Schritt von der studirenden Dame, der Cherub in der Pickelhaube, der uns hätte zurückweisen sollen, als wir hinaufstiegen. Er war sogar mit einem Gewehr bewaffnet und hatte sehr drohend Posto gefaßt auf einer Erhöhung am Waldessaume, wo er den Fuhrweg überblicken konnte; aber das Gefährliche seiner Erscheinung war gemildert durch drei Frauenzimmer, die ihm die Langeweile des einsamen Wachestehens zu versüßen schienen, und so behielten wir guten Muth.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_423.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2017)