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beklagen!“ Und schließlich war er ja gar nicht einmal zu bedauern – warum legte er die Hände entsagend in den Schooß, statt mit männlicher Thatkraft um den hohen Preis zu ringen?

„Nun, Felicitas, haben Sie keine Entgegnung?“ fragte er. „oder fühlen Sie sich abermals gekränkt durch meine Erklärung, die ich nicht umgehen konnte?“

„Nein,“ entgegnete sie kalt. „Das ist Ihre specielle Ansicht – es liegt mir nichts ferner, als der Wunsch, sie geändert zu sehen. … Sie werden hingegen auch mir den Glauben nicht nehmen können, daß es brave vorurtheilslose Menschen giebt, die das ehrliche Herz und treue Wollen auch in einer Taschenspielerstochter anerkennen. … Was soll ich Ihnen noch antworten? Wir würden doch nie zu einem Ende kommen. … Sie stehen auf dem Standpunkt der sogenannten Vornehmen, die sich selbst mit Ketten anbinden, damit sie um Gotteswillen nicht herunterfallen, und ich gehöre in die von Ihrer Kaste mißachtete Classe der Freidenkenden. … Sie selber sagen, unsere Lebenswege gehen binnen Kurzem auseinander auf Nimmerwiedersehen – noch strenger geschieden aber sind wir innen. … Haben Sie noch einen Befehl in Bezug auf die Kranke für mich?“

Er schüttelte den Kopf, und ehe er noch ein Wort zu sagen vermochte, hatte sie das Zimmer verlassen.


17.

Aennchens Genesung schritt rasch vorwärts; gleichwohl wurde Felicitas ihres Wärteramtes noch nicht enthoben. Die Kleine, sonst ein stilles, geduldiges Kind, wurde heftig und aufgeregt, sobald das junge Mädchen das Zimmer verließ; es blieb mithin der Regierungsräthin nichts übrig, als Felicitas zu bitten, so lange bei dem Kind zu bleiben, bis es vollkommen hergestellt sei. Die junge Wittwe that dies ohne Zweifel mit um so leichterem Herzen, als der Professor sich im Krankenzimmer fast gar nicht mehr aufhielt. Er kam jeden Morgen, um nach der Kleinen zu sehen, aber diese Besuche währten kaum drei Minuten. Manchmal nahm er das Kind auf den Arm und trug es einige Mal drunten im sonnigen, geschützten Vorderhof auf und ab – sonst wurde er wenig im Hause gesehen. Es war, als habe ihn plötzlich eine wahre Leidenschaft für den Garten erfaßt; seine Tageseintheilung war eine ganz andere geworden; er arbeitete früh nicht mehr in seinem Zimmer – wer ihn sprechen wollte, wurde hinaus in den Garten geschickt. Frau Hellwig fügte sich seltsamerweise der Marotte, wie sie diesen Umschlag nannte, und richtete es zur großen Genugthuung der Regierungsräthin so ein, daß nun auch die Hauptmahlzeiten meist im Gartenhaus gehalten wurden. Das alte Kaufmannshaus war dadurch zu Zeiten wieder stiller als je; man kam oft vor zehn Uhr Abends nicht nach Hause. Es geschah aber auch manchmal, daß der Professor allein und früher zurückkehrte. Dann hörte ihn Felicitas langsam die Treppe heraufkommen; sonderbarerweise wiederholte sich dabei stets etwas Eigenthümliches – er ging nämlich consequent einige Schritte wie mechanisch nach dem Krankenzimmer hin, dann blieb er plötzlich mitten im Vorsaal stehen, als besinne er sich, und rascher als vorher stieg er schließlich in den zweiten Stock hinauf. Sein Zimmer lag über der Krankenstube – an solchen Abenden saß er nicht über seinen Büchern – stundenlang ging er ruhelos droben auf und ab; diese einsame Wanderung hatte stets etwas Aufregendes für Felicitas – sie brachte dieselbe in Einklang mit jenem nächtlichen Geständniß.

Um acht Uhr Abends war Aennchen gewöhnlich eingeschlafen; dann nahm Rosa Felicitas’ Platz am Bett des Kindes ein, und nun kamen auch Erholungsstunden für das junge Mädchen – sie ging hinauf in die Mansarde. Tante Cordula’s neuliche Körperschwäche und Todesahnung schien glücklich überwunden; sie war heiterer als je und konnte froh wie ein Kind von der nahen Zeit plaudern, wo sie Felicitas ganz bei sich haben würde. Sie wartete gewöhnlich mit dem Abendbrod auf das junge Mädchen. Dann stand der sorgfältig arrangirte Theetisch im Vorbau; für irgend ein Lieblingsgebäck Felicitas’ war stets gesorgt, und ein ganzes Paquet neu eingelaufener Zeitungen wartete auf die jugendliche Vorleserin. In diesen knapp zugemessenen, gemüthlichen Stunden versank Alles, was in jüngster Zeit Felicitas’ Herz – oft zu ihrer eigenen Verwunderung – bedrückte und quälte. Sie sprach nie über ihre Begegnisse im Vorderhause, die alte Mamsell; ihrer Gewohnheit treu, regte sie auch durchaus nicht zu irgend einer Mittheilung an, und so traten leicht Felicitas’ augenblickliche, ihr selbst räthselhafte innere Zerwürfnisse in den Hintergrund.

An einem schönen, sonnigen Nachmittag saß Felicitas allein bei Aennchen; im ganzen Hause herrschte förmliche Kirchenstille – Frau Hellwig und die Regierungsräthin waren ausgegangen, um Besuche zu machen, und der Professor hielt sich ohne Zweifel im Garten auf; denn im zweiten Stock wurde nicht ein Lebenszeichen laut… Die Kleine hatte lange gespielt, nun legte sie sich müde zurück und sagte bittend: „Liedchen singen, Caroline!“

Das Kind hörte Felicitas leidenschaftlich gern singen. Das junge Mädchen hatte eine Altstimme. Ihre Stimme hatte jenen Klang, der wie ein tiefer, voller Glockenschlag ohne hörbare Vorbereitung sich gleichsam aus der Brust löst – jene Färbung, wie sie auch dem Cello eigen; der Ton, der ohne irgendwelche faßbare, scharfe Kante in der Luft verschwimmt, trägt einen Hauch leiser Schwermuth, den Ausdruck unergründlicher Gedankentiefe. Die alte Mamsell mit ihrem seltenen musikalischen Verständniß und der großartigen Ausbildung, die ihr eigenes Talent einst durch tüchtige Meister erhalten, hatte dieses köstliche Material vortrefflich geschult – Felicitas sang namentlich deutsche Lieder in wahrhaft classischer Weise… Sie hatte gefunden, daß sie die Aufregung des Kindes stets beschwichtigte, wenn sie in leisen Tönen irgend eine getragene Melodie anhob; später ließ sie ihre Stimme auch gewaltiger ausströmen – begreiflicherweise jedoch nie, wenn sie feindliche Ohren in der Nähe wußte.

„Du junges Grün, du frisches Gras“, dies tiefsinnige Schumann’sche Lied klang jetzt durch das stille Krankenzimmer mit so keusch beherrschtem Ausdruck, wie er nur aus einer reinen Mädchenseele kommen kann. Felicitas sang die erste Strophe weich, in ergreifender Einfachheit und mit zurückgehaltener Kraft; aber mit Beginn der Worte: „Was treibt mich von den Menschen fort, mein Leid, das hebt kein Menschenwort“, da brauste die mächtige Stimme auf, wie Orgelklang – in diesem Augenblick wurde droben im Zimmer des Professors ein Stuhl nicht gerückt, sondern fortgeschleudert – rasche Schritte eilten nach der Thür, und schrill und heftig wie Sturmläuten scholl plötzlich eine Klingel durch das menschenleere Haus. Es war das erste Mal, daß im Studirzimmer des zweiten Stockes der Glockenzug in Bewegung gesetzt wurde. Friederike eilte athemlos die zwei Treppen hinauf, und Felicitas schwieg tödtlich erschrocken. Nach wenig Augenblicken polterte die alte Köchin wieder herab und trat in das Krankenzimmer.

„Der Herr Professor läßt Dir sagen, Du solltest nicht mehr singen – er könnte nicht arbeiten,“ rapportirte sie in ihrer rauhen, rücksichtslosen Weise. „Er war kreideweiß und konnte kaum sprechen vor Aerger… Was machst Du denn aber auch für dumme Sachen? Hab’ ich doch mein Lebtage so ‘was nicht gehört – Du singst ja accurat wie ein Mannsbild, und – daß Gott erbarm – das Lied! – ein reines Nachtwächterlied! .. Ich weiß nicht, was Du für ein Mädchen bist! Ich hab’ auch singen können, wie ich noch jung war! Und was gab’s damals für Lieder – schöne Lieder ‚Freut Euch des Leben‘ und ‚Guter Mond, Du gehst so stille‘. … Laß das ein ander Mal gut sein, Caroline – das kannst Du nicht! … Ja, und Du sollst das Kind ein Bischen in den Hof tragen und herumfahren, hat der Herr Professor gesagt.“

Felicitas verbarg ihr glühendes Gesicht in den Händen – es war ihr, als habe sie einen vernichtenden, moralischen Schlag erhalten – wie tief beschämt und gedemüthigt fühlte sie sich in diesem Augenblick! So muthig sie sein konnte, wenn es galt, ihre Ueberzeugung zu vertheidigen und ihren Gegnern die Wahrheit ungeschminkt in das Gesicht zu sagen, so scheu und ängstlich verschlossen war sie in Bezug auf ihre Talente und Kenntnisse. Schon der Gedanke, daß ihre Stimme bis zu fremden Ohren dringen könne, schnürte ihr den Hals zu und machte sie sofort verstummen, irgend Jemand aber gar lästig damit zu werden, das hätte sie nicht einmal auszudenken vermocht. Und nun war es wirklich geschehen; man hielt sie für aufdringlich, der Verdacht lastete auf ihr, als habe sie sich bemerkbar machen wollen, und dafür war sie auf die schonungsloseste Weise gestraft und beschämt worden – das war nicht zu ertragen! Die gröbsten Ungerechtigkeiten und Mißhandlungen Seitens der Frau Hellwig hatten ihr nie eine Thräne zu entlocken vermocht – jetzt aber weinte sie bitterlich.

(Fortsetzung folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_436.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)