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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

„So, da wüßt‘ ich ja, was morgen passirt,“ sagte er dann ruhig. „Ich habe er aber doch noch Zeit, meine Angelegenheiten zu ordnen.“

Seine Mitgefangenen umdrängten ihn theilnahmsvoll. Er drückte ihnen der Reihe nach die Hände und sagte:

„Liebe Freunde, ihr tröstet mich in meinen letzten Stunden. Das ist ja wie beim Tode des Sokrates; nur ist es uns leider nicht gestattet, uns philosophisch mitsammen zu unterhalten, bis der Schierlingsbecher kommt.“

Kaum hatte er so gesprochen, als ein Schließer eintrat, um den muthigen Mann in die „Vorhalle des Todes“ hinabzuholen.

Auch an Romantik in des Wortes verwegenster Bedeutung hat es in der Conciergerie nicht gefehlt, wie nachstehende Novelle zeigen mag. Vier Gefangene, der General la Marlière, der Conventsdeputirte Bunel, Beugnot und ein Oberst, welcher als Adjutant des Grafen d’Estaing den Unabhängigkeitskrieg der Amerikaner mitgemacht hatte, pflegten sich Abends bei dem Zweiten der Genannten zu einer Whistpartie zu vereinigen. Der arme Bailly, der Präsident der Nationalversammlung von 1789 glorreichen Andenkens, fand sich ebenfalls regelmäßig ein, zur Stunde, wo das Whist einer ernsteren Unterhaltung Platz gemacht hatte. Diese Unterhaltung drehte sich gewöhnlich um philosophische Fragen, um metaphysische Probleme und schwindelte sich demnach folgerichtig mehr und mehr in das Gebiet des Mysticismus hinauf. Der Oberst gab sich als einen Hauptmystiker. Er behauptete, die Schranken des „Möglichen“ wären nur durch die Unwissenheit der Menschen so enge gezogen. Seit Pythagoras und Aristoteles hätten sich diese Schranken schon sehr beträchtlich erweitert und die Zukunft würde dieselben unendlich weiter hinausrücken. Das Christenthum klagte er geradezu an, den Aufschwung der Geister gebrochen zu haben, und lobte daher die Schläge, welche die Revolution gegen dasselbe führte. Seine Religion war der Pantheismus und er glaubte, daß es eine unzählbare Anzahl beseelter Wesen gäbe, welche für unsere Sinne nicht wahrnehmbar wären; sowie, daß der Mensch noch weit von der Stelle entfernt sei, welche er im Weltganzen einnehmen sollte und könnte. Bunel, welcher lange in Indien gelebt und den Brahmanismus studirt hatte, stimmte diesen Ansichten bei. Der General la Marlière dagegen hielt standhaft an den Lehren seines Meisters Voltaire fest. Er meinte demnach, es gäbe nichts Ungewisseres als das, was man in diesem oder jenem Jahrhundert die Wahrheit zu nennen beliebe; er glaubte, daß die Ideen der Menschheit in jeder Epoche eine andere Form annähmen, aber ihrem Wesen nach in einem Cirkel sich bewegten, über welchen sie niemals hinauskämen.

„Ich will ein Beispiel aufstellen,“ fügte er hinzu. „Unlängst hat der Bischof von Paris (Gobel) in offener Conventssitzung seine Religion unter großem Beifall abgeschworen. Nun wohl, wir sind dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts nahe und es ist sehr unwahrscheinlich, daß Einer von uns das neunzehnte erleben wird. Aber ich prophezeie, das neunzehnte wird nicht zu Ende gehen, ohne daß die Franzosen mitansehen werden, wie Processionen von Mönchen die Straßen von Paris durchziehen.“ (Das war sehr richtig weis- und wahrgesagt! Schon die zwanziger Jahre unseres Jahrhundert brachten, wie Jedermann weiß, die Erfüllung.) Bailly seinerseits vertheidigte eifrig den Glauben an eine unendliche Vervollkommnungsfähigkeit der Menschheit. „Der gegenwärtig wüthende Sturm,“ sagte er, „beweist nichts dagegen. Im Gegentheil! Denn er weht wohl viele Blätter von den Bäumen, entwurzelt sogar viele Bäume, aber er fegt auch eine Masse alten Unflaths fort und der gereinigte Boden kann edle, bislang unbekannte Früchte zeitigen.“

Eines Abends, als das Gespräch um den Magnetismus, Somnambulismus und dergleichen mystische Dinge mehr sich gedreht hatte, sagte der General zuletzt zu dem Oberst:

„Sie glauben also an Mesmer, Cagliostro und tutti quanti?“

„Gewiß,“ erwiderte der Gefragte kaltblütig.

„Ei, ich wäre doch sehr begierig, vor meinem Tode einmal die Darstellung einer Scene von Hellsichtigkeit (une réprésentation d’une scène voyante) mitanzusehen.“

„Das macht sich an dem Orte, wo wir uns befinden, nicht so leicht; indessen will ich thun, was ich kann.“

Der Oberst hielt sein Versprechen und wußte sich nach und nach den nöthigen Apparat zu verschaffen. Eine Hellseherin aufzutreiben und in die Conciergerie einzuschmuggeln gelang nicht, aber man konnte dieselbe im Nothfall durch einen Knaben von zwölf bis vierzehn Jahren ersetzen; nur durfte derselbe nicht im Zeichen des Bogenschützen, der Zwillinge oder der Jungfrau geboren und mußte von zweifelloser Unschuld sein. Ein solcher Knabe ward in dem Sohn eines der Schließer entdeckt und der Oberst richtete die Zelle Bunel’s zu dem somnambulistischen Experimente her. Alles ist und wird à la Cagliostro gemacht und der Knabe (die sogenannte „Waise“) kniet vor der mit Wasser gefüllten Glaskugel.

„General,“ sagt der Oberst in seiner Rolle als Beschwörer, „geben Sie in der Vergangenheit oder in der Zukunft eine Thatsache an, welche Sie kennen zu lernen verlangen.“

„Den Urtheilsspruch, welcher mich erwartet.“

„General, wählen Sie einen andern Gegenstand; ich wäre in Verzweiflung, wenn die Antwort schlimm lautete.“

„Ich bestehe darauf und gebe Ihnen die Versicherung, daß die Antwort, laute sie so oder so, mich durchaus nicht erschrecken wird.“

„Dann wollen wir auf die Beschwörung verzichten und an unsere Whistpartie gehen.“

„Was, Sie bekennen sich geschlagen, bevor Sie begonnen haben? Ich wußte wohl, daß das Alles nur eine Kinderei sei.“

„Sie wollen es also schlechterdings, General? Nun wohl, ich beginne.“

Nach einer halben Stunde eifriger magnetischer Manipulationen von Seiten des Beschwörers war dieser und war der Knabe über und über mit Schweiß bedeckt, während die drei Zuschauer ihrerseits eine unerträgliche Beklemmung empfanden. Endlich gerieth das Wasser in der Glaskugel in sichtbare Bewegung und der Knabe rief aus:

„Ich sehe!“

„Was?“

„Zwei Männer, die sich raufen.“

„Wer sind sie?“

„Ich weiß nicht.“

„Wer sind sie?“

„Ich weiß nicht.“

„Wer sind sie?“

„Ach Gott! Ein Nationalgardist und ein Officier mit einem Generalshut.“

„Welcher ist der Stärkere?“

„O, mein Gott! Der Nationalgardist wirft den Officier zu Boden und schlägt ihm den Kopf ab.“

Dies gesagt, fiel der Knabe ohnmächtig zu Boden.

Bunel und Beugnot waren bestürzt, la Marlière zitterte am ganzen Leibe. Die beiden Ersteren bemühten sich, dem Letzteren einzureden, es sei doch wohl zwischen dem Urtheilsspruch, der ihm bevorstand, und dem Kampfe zwischen einem Nationalgardisten und einem Officier kein Zusammenhang denkbar. Der General blieb still und seine beiden Mitzuschauer bereuten es bitter, dieser Beschwörungsscene angewohnt zu haben. Dieselbe fand am 20. December 1793 statt. Am Abend des 21. kam dem General die Vorladung vor das Tribunal zu, am 23. wurde er verurtheilt und noch an demselben Tage hingerichtet. Samson aber that an diesem Tage seinen schrecklichen Dienst in der Uniform eines Grenadiers der Nationalgarde… Beugnot versichert hoch und heilig, daß der Oberst durch und durch ein Mann von Ehre gewesen, dem gar nicht zuzutrauen, daß er einen frevelhaften Spaß gemacht habe, demzufolge die ganze Beschwörungsscene nur eine zwischen ihm und der „Waise“ verabredete Mystification gewesen wäre. Von der Glaubwürdigkeit dieser Versicherung mag Jeder halten, was er mag. Ich meinerseits will mit dieser Novelle nur bewiesen haben, daß gerade zur Zeit, als der Atheismus auf den Straßen und in den Kirchen von Paris seine scandalvollen Orgien feierte, in den Gefängnissen die Mystik spectakelte. Die traurige Komödie der Weltgeschichte bewegt sich ja überall und allzeit in grellen Gegensätzen vorwärts oder – im Kreise herum.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_440.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)