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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Thür der Vogelstube klaffte, ein wildes Geschrei scholl heraus. Wie war diese Thür sonst gehütet worden, damit kein Flüchtling entschlüpfe! Jetzt ging das junge Mädchen vorüber, ohne die Hand zu bewegen – mochten diese verlassenen Geschöpfe ihre Nahrung unter Gottes freiem Himmel suchen, sie hatten ja keine Pflegerin mehr.

Sie trat in die große Wohnstube; aus dem anstoßenden Schlafcabinet scholl das unbiegsame, eintönige Organ der Frau Hellwig herein in den Raum, der seit vielen Jahren nur die Sprache der Musik oder den seltenen Wohllaut einer unsäglich milden, seelenvollen Frauenstimme gehört hatte. Die große Frau las eines jener sogenannten alten Kernlieder, welche, für die Anschauungen eines noch auf niederer Bildungsstufe verharrenden Volksgeistes gedichtet, in ihrem leitenden Gedanken, ihrer Ausdrucksweise den Zweck als Vermittler zwischen dem Himmel und der Menschenseele für unsere Zeit völlig verloren haben. Diese grobzugehauenen, von gemein sinnlichen Ausdrücken strotzenden Verse vor den Ohren einer Sterbenden, die ihr ganzes Leben lang dem wahrhaft Schönen gehuldigt, die ihrer Gottesverehrung nur Ausdruck gegeben hatte in dem, was von seinem Geist ausgegangen: in der Poesie, in den himmlischen Melodien gottbegnadeter Meister!

Geräuschlos wie ein Schatten glitt Felicitas in das Sterbezimmer. Frau Hellwig las weiter, ohne sie zu bemerken. … Dort, unter den weißen Gardinen des Bettes, die sich leise wie Flügel in dem Luftzug des geöffneten Fensters hoben und senkten, als seien sie bereit, die scheidende Seele zu empfangen und hinaufzutragen, lag ein aschgraues Gesicht… O, wie grausam ist der Tod, daß er das, was wir auf Erden nicht wiedersehen sollen, vor unseren Augen erst noch so furchtbar entstellt, daß wir mit unwillkürlichem Grauen und Entsetzen in Züge blicken müssen, in denen wir gewohnt waren, die traute Sprache der Liebe, eines uns innig verwandten Geistes zu lesen!

Festgeschlossen waren die tief herabgesunkenen Lider dort noch nicht. Die Augäpfel irrten rastlos hin und her, ein leises Röcheln begleitete die schweren Athemzüge; in kurzen Unterbrechungen hob sich wie zum Schlag ausholend der rechte Arm und ließ dann die wachsbleichen, gekrümmten Finger kraftlos auf die Decke niedersinken… Welch’ ein furchtbarer Anblick für das junge Mädchen, dem dort der letzte Liebesstrahl in seinem armen Leben erlosch! – Felicitas trat an das Bett. Mit maßlosem Erstaunen hob Frau Hellwig die Augen von ihrem Gesangbuch und starrte in das todtenbleiche, thränenlose Gesicht, das sich da über das Bett neigte.

„Was willst denn Du hier, unverschämtes Geschöpf?“ fragte sie laut und rücksichtslos; ihre große Hand hob sich und deutete gebieterisch nach der Thür.

Felicitas antwortete nicht, aber die Unterbrechung der eintönigen Vorlesung schien Eindruck auf die Sterbende zu machen. Sie suchte ihren verschleierten Blick zu fixiren – er fiel auf Felicitas. In diesem Strahl lag ein freudiges Erkennen; ihre Lippen bewegten sich, anfänglich freilich ohne Erfolg – es lag eine namenlose Angst in diesem Streben, sich verständlich zu machen; und siehe, die willenskräftige Seele siegte in der That und zwang den halberstorbenen Mechanismus des Körpers noch einmal zum Dienst. „Gericht holen!“ klang es eigenthümlich gurgelnd, aber deutlich von ihren Lippen.

Das junge Mädchen verließ sofort das Zimmer – hier war keine Minute zu verlieren. Sie flog durch den Vorsaal, allein in diesem Augenblicke, als sie an der Vogelstube vorüberkam, wurde die Thür derselben weiter aufgerissen – Felicitas fühlte sich rückwärts von gewaltigen Fäusten gepackt, ein furchtbarer Stoß schleuderte sie mitten in die Stube, während hinter ihr die Thür zugeschlagen und von außen verschlossen wurde. Ein wahrhaft höllischer Lärm umtobte sie drinnen; die Vögel flatterten erschreckt mit sinnverwirrendem Gekreisch durcheinander. Felicitas war zu Boden gestürzt; im Vorwärtstaumeln hatte sie eine der inmitten des Raumes stehenden Tannen ergriffen und mit niedergerissen… Was war geschehen? … Sie richtete sich empor und warf das in vollen Strähnen über ihr Gesicht fallende Haar zurück. Sie hatte Niemand gesehen, keinen Schritt gehört, und doch hatte ein Mensch hinter ihr gestanden und sich mit dämonischer Gewalt ihrer bemächtigt in einem Moment, wo es galt den letzten Willen einer Sterbenden auszuführen, wo sie mit jeder Minute Verzug die schrecklichste Verantwortung auf ihre Seele nahm.

Sie stürzte nach der Thür, aber die war fest verschlossen; ihr Pochen und Rütteln ging unter in dem entsetzlichen Geschrei, das sich abermals erhob. Die aufgeregten Thiere kreisten über ihrem Haupt, fuhren wie sinnlos gegen die Wände und beruhigten sich auch dann noch nicht, als das Mädchen in stiller Verzweiflung die Arme sinken ließ… Wer sollte ihr denn auch öffnen? Die Hände, die sie hier hereingestoßen hatten, sicher nicht! – Sie kannte diesen eisernen Griff nur zu gut – es waren dieselben Hände, die eben noch das Gesangbuch gehalten; sie hatten es fortgeworfen, um einen Gewaltstreich auszuführen, und nun saß das schreckliche Weib wieder am Sterbebett und las mit eintöniger, unbewegter Stimme weiter; sie ließ es erbarmungslos geschehen, daß die Sterbende mit übermenschlicher Willenskraft den Todeskampf verlängerte, in dem Wahn, noch einmal, und sei es auch nur für Secunden, hienieden nöthig zu sein… Arme Tante Cordula! Sie schied aus der Welt, die sie einsam durchwandelt hatte, mit einer bitteren Täuschung – die letzten Eindrücke, die ihre Seele mit hinwegnahm, waren der religiöse Fanatismus in Gestalt jener verabscheuten Frau und die sprüchwörtlich gewordene menschliche Undankbarkeit, deren sich Felicitas scheinbar schuldig machte. Dieser Gedanke trieb dem jungen Mädchen das Blut siedend nach dem Kopfe. Sie lief außer sich auf und ab und pochte mit erneuter Kraft abermals an die Thür – vergebens… Warum war sie eingesperrt? Sie solle das Gericht holen, hatte Tante Cordula geboten – galt es ein letztes Bekenntniß? Nein, nein, die alte Mamsell hatte nichts zu bekennen! Wenn sie die Last einer Schuld durch’s Leben hatte tragen müssen, so war es eine fremde gewesen, die sie erst da droben abwerfen durfte; denn das war Felicitas allmählich klar geworden: sie war unschuldige Mitwisserin, niemals aber Mitschuldige irgend eines verbrecherischen Geheimnisses gewesen… Sie hatte vielleicht über ihr Eigenthum verfügen wollen, und das war nun durch die Gewaltthätigkeit der großen Frau vereitelt. Wenn Tante Cordula ohne Testament starb, so fiel ihr ganzes Vermögen an das Haus Hellwig … wer weiß, wie viele Arme und Unglückliche in diesem Augenblick einer Unterstützung beraubt wurden, die sie vielleicht glücklich gemacht hätte für ihr ganzes Leben, während die Kaufmannsfamilie, deren Reichthum für sehr groß galt, durch die List einer Frau auf’s Neue ihre Kisten und Kästen füllte.

Felicitas trat an das Fenster und sah hinab auf die Nachbarhäuser. Sie spähte angstvoll nach einem Menschengesicht, das sie um Hülfe anrufen konnte, aber die Wohnungen lagen zu tief drunten, sie wurde weder gehört, noch gesehen… Wie klopften ihre Pulse in Seelenqual und fieberischer Aufregung! Sie warf sich auf den einzigen Stuhl, der im Zimmer stand, und brach in Thränen der Verzweiflung aus… Jetzt war es auf alle Fälle zu spät, auch wenn sie in diesem Augenblick noch frei wurde. Vielleicht waren die lieben Augen da drüben bereits gebrochen und das Herz stand still, das in seinen letzten Augenblicken mit gesteigerter Angst vergebens auf Felicitas’ Wiedererscheinen gehofft hatte. … Den allgemeinen Trost, daß die verklärte Seele nun wisse, woran ihr letzter Wunsch gescheitert sei, hatte dies junge, sehr scharf und logisch erwägende Mädchen nicht – es ist schwer zu denken, daß der menschliche Geist, der, wie alles Geschaffene, dem großen Gottesgedanken gemäß, zahllose Phasen bis zu seiner höchsten Vollkommenheit allmählich durchlaufen muß, nach der beschränkten irdischen Kurzsichtigkeit sofort die göttliche Eigenschaft der Allwissenheit annehmen und aus dem Jenseits herüber in das Handeln und Treiben der Erdbewohner, in die geheimsten Motive der Menschenbrust wie in ein aufgeschlagenes Buch blicken könne.

Sie mochte weit über zwei Stunden abwechselnd in dumpfem Hinbrüten und verzweiflungsvollen Anstrengungen, sich zu befreien, in ihrer Hast zugebracht haben. Ihre Umgebung war ihr geradezu entsetzlich geworden. Diese unvernünftigen Geschöpfe, einst ihre Lieblinge, die bei jeder rascheren Armbewegung ihr furienhaftes Gekreisch erhoben und umhertobten, wurden für ihre überreizte Phantasie zu wahren Spukgestalten – sie zitterte vor ihren eigenen Bewegungen. Dazu brach der Abend herein; es wurde dämmerig in dem unheimlichen Raum, der erste, wilde Schmerz um die Verlorene brannte in ihrer Brust – es war eine Situation zum Wahnsinnigwerden! Noch einmal lief sie nach der Thür – wie betäubt vor Ueberraschung blieb sie stehen, das Schloß wich ohne den geringsten Widerstand unter ihren Händen… Draußen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 454. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_454.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)