Seite:Die Gartenlaube (1867) 515.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Lippen, die unbedenklich, mit unglaublicher Sicherheit so furchtbare Anklagen aussprachen, verstummten unwillkürlich vor dieser Erscheinung.

„Eine Gottesleugnerin ist sie nie gewesen!“ sagte das junge Mädchen entschieden, und ihre Augen hafteten flammend auf dem Gesicht der Verleumderin. „Ja, sie war ein freier Geist! Sie forschte ohne Angst um ihr Seelenheil oder einen zerbrechlichen Glauben in Gottes Werken; denn sie wußte, daß da jeder Weg auf Ihn zurückführte. Der Conflict zwischen der Bibel und den Naturwissenschaften beirrte sie niemals. Ihre Ueberzeugung wurzelte nicht im Buchstaben, sondern in Gottes Schöpfung selbst, in ihrem eigenen Dasein und der himmlischen Gabe zu denken, in dem selbstständigen Wirken und Schaffen des unsterblichen Menschengeistes. … Sie ging nicht wie tausend Andere in die Kirche, um Gott im eleganten Hut und Seidenkleid anzubeten; aber wenn die Glocken läuteten, da stand auch sie in der Stille demüthig vor dem Höchsten, und ich zweifle, daß Ihm das Gebet Derer lieber ist, die stündlich seinen Namen anrufen und mit denselben Lippen den Namen des Nächsten ans Kreuz schlagen!“

Der junge Frank hatte sich unwillkürlich erhoben; er stützte seine Hand auf die Stuhllehne und blickte mit einem fast ungläubigen Ausdruck nach dem muthigen Mädchen hinüber.

„Sie haben die räthselhafte Frau gekannt?“ fragte er wie mit zurückgehaltenem Athem, als Felicitas schwieg.

„Ich habe täglich mit ihr verkehrt.“

„Das sind ja allerliebste Neuigkeiten!“ sagte die Regierungsräthin. Diese Bemerkung sollte ironisch klingen; aber die Stimme der jungen Frau hatte bedeutend an Sicherheit verloren, und eine auffallende Blässe bedeckte für einen Augenblick das schöne Gesicht. „Dann wissen Sie ohne Zweifel auch manches piquante Geschichtchen aus der Vergangenheit Ihrer verehrungswürdigen Bekanntschaft zu erzählen?“ frug sie in studirt nachlässigem Ton, während ihre Hand mit dem Kaffeelöffel spielte.

„Die Dame hat nie über ihr vergangenes Leben mit mir gesprochen,“ entgegnete Felicitas ruhig. Sie wußte, daß sie einen furchtbaren Sturm heraufbeschworen hatte – es galt jetzt, ihn besonnen, mit kühlem Blut erwarten.

„Wie schade!“ bedauerte die junge Wittwe, ironisch den Lockenkopf hin- und herwiegend – die blühende Farbe war bereits in ihre Wangen zurückgekehrt. „Ich bewundere übrigens Ihr vortreffliches Schauspielertalent, Caroline! Sie haben ja diese geheimen Zusammenkünfte reizend zu maskiren gewußt… Lieber Johannes, bereust Du auch jetzt noch Deine vermeintlich falsche Beurtheilung dieses Charakters?“

Der Professor war überrascht im Salon stehen geblieben, als das junge Mädchen auf der Schwelle erschien. Ihre vertheidigenden Worte, herb, geißelnd und doch schwungvoll, sprangen ihr förmlich von den Lippen – diesem scharf logischen Geist, der sich offenbar unausgesetzt übte, fehlte es doch nie am sofortigen, schlagenden Ausdruck. Die letzte beißende Frage der Regierungsräthin blieb unbeantwortet. Der Blick des Professors hing unverwandt an Felicitas – er lächelte, als er sie, bei aller Selbstbeherrschung, doch unter jenen Nadelstichen aufzucken sah.

„War das Ihr eigentliches Geheimniß?“ frug er hinüber.

„Ja,“ antwortete das junge Mädchen, und ihr ernstes Auge leuchtete auf – kam ihr doch, wunderbar genug, bei dem Klang dieser Stimme urplötzlich die Ueberzeugung, daß sie nicht allein stehen werde in dem unausbleiblichen Kampfe.

„Sie wollten später mit der alten Tante zusammenleben, und das war das Glück, das Sie erhofften?“ frug er weiter.

„Ja.“

Wäre die Regierungsräthin nicht zu lebhaft mit der ‚entlarvten Heuchlerin‘ auf der Thürschwelle beschäftigt gewesen, sie hätte erschrecken müssen über den vollen Glücksstrahl, der aus den Augen des Professors brach und sein tiefernstes Gesicht in nie gesehener Weise verklärte.

Fragen und Antworten waren bisher mit Blitzesschnelle erfolgt und hatten Frau Hellwig keine Zeit gelassen, sich von ihrer Ueberraschung zu erholen. Starr wie ein Steinbild lehnte sie in ihrem Stuhl; der Strickstrumpf war ihren Händen entglitten, und das schneeweiße Knäuel rollte unbeachtet bis in die Mitte des Salons.

„Das ist eine höchst interessante Entdeckung für mich!“ rief der Rechtsanwalt, indem er sich Felicitas rasch näherte. „Fürchten Sie ja nicht, daß auch ich in die muthmaßlichen Geheimnisse der Verstorbenen dringen will, das sei fern von mir! Aber vielleicht sind Sie im Stande, mir Anhaltspunkte zu geben bezüglich der unbegreiflichen Lücken im Nachlaß –“

Gott im Himmel, sie sollte über das fehlende Silber verhört werden! Sie fühlte, wie ein Beben ihren ganzen Körper durchlief, ihr Gesicht wurde weißer als Schnee – bestürzt schlug sie die Augen nieder; in diesem Moment war sie allerdings das vollendete Bild einer Schuldbewußten.

„Als leidenschaftlicher Musikfreund und Autographensammler bin ich eigentlich seit der Testamenteröffnung in einer gelinden Aufregung,“ fuhr der Rechtsanwalt fort, nachdem er, betroffen durch die auffallende Veränderung im Aeußeren des Mädchens, momentan gezögert hatte. „Das Testament erwähnt ausdrücklich eine Handschriftensammlung berühmter Componisten – wir suchen sie jedoch vergebens. Es wird von vielen Seiten behauptet, die Verstorbene habe an Geistesstörung gelitten, dieser Theil der Hinterlassenschaft sei ein Hirngespinnst, eine Chimäre. Haben Sie je eine solche Sammlung im Besitz der alten Dame gesehen?“

„Ja,“ sagte Felicitas aufathmend, aber auch zugleich tief erbittert über diese Behauptung. „Ich habe jedes Blatt gekannt.“

„War sie reichhaltig?“

„Sie umfaßte hauptsächlich alle Namen des vorigen Jahrhunderts.“

„Eine Bach’sche Oper – ich halte diese Bezeichnung für einen Irrthum – wird mehrfach in dem Testament erwähnt; können Sie sich nicht ohngefähr auf den Titel dieses Werkes besinnen?“ examinirte der Rechtsanwalt in höchster Spannung weiter.

„O ja,“ versetzte das junge Mädchen rasch. „Auch darin hat sich die Verstorbene nicht geirrt. Es war eine Operette. Johann Sebastian Bach hat sie für die Stadt X. componirt, und sie ist im alten Rathhaussaal aufgeführt worden. Der Titel lautet: ‚Die Klugheit der Obrigkeit in Anordnung des Bierbrauens.‘“

„Nicht möglich!“ rief der junge Mann, er prallte förmlich zurück im Uebermaß des Erstaunens. „Diese Composition, die für die musikalische Welt eine Art Mythe ist, sollte in der That existiren?“

„Es war sogar die von Bach eigenhändig geschriebene Partitur,“ fuhr Felicitas fort. „Er hatte sie einem gewissen Gotthelf von Hirschsprung geschenkt, und durch Erbschaft war sie später in die Hände der Verstorbenen gekommen.“

„Das sind ja unschätzbare Enthüllungen! – Und nun beschwöre ich Sie auch, mir zu sagen, wo diese Sammlung sich befindet.“

Da stand sie plötzlich vor einer Klippe. Empört darüber, daß nun auch noch Tante Cordula’s klarer Geist angezweifelt wurde, hatte sie Alles aufgeboten, die abscheuliche Verleumdung zu widerlegen. Im Vertheidigungseifer war ihr nicht eingefallen, zu welchem Ausgangspunkt ihre Beweisführungen nothwendig kommen mußten… Jetzt mußte sie auf diese peinliche Frage direct antworten … sollte sie geradezu lügen? Das war unmöglich!

„Soviel ich weiß, existirt sie nicht mehr,“ sagte sie leiser, als sie bisher gesprochen.

„Sie existirt nicht mehr? Damit wollen Sie doch wohl nur sagen, daß sie nicht mehr im Zusammenhang vorhanden ist?“

Felicitas schwieg. Sie wünschte sich Meilen weit fort aus dem Bereich dieses leidenschaftlichen Drängers.

„Oder wie!“ fuhr er bestürzt fort, „wäre sie in Wirklichkeit vernichtet? Dann müssen Sie mir auch erklären, wie das geschehen konnte.“

Das war eine qualvolle Lage. Dort saß die Frau, die durch ihre Aussage compromittirt wurde… Wie oft war in Augenblicken leidenschaftlicher Aufregung ein häßliches Rachegefühl gegen ihre herzlose Peinigerin in ihr aufgeflammt! Sie hatte dann gemeint, es müsse süß sein, dies abscheuliche Weib auch einmal leiden zu sehen… Jetzt stand sie vor einem solchen Moment – sie konnte die große Frau beschämen, sie einer ungesetzlichen That überführen… Wie wenig hatte sie sich selbst, den Adel ihrer Natur gekannt – sie war vollständig unfähig, sich zu rächen! … Verstohlen sah sie hinüber nach ihrer Feindin, ein wahrhaft tigerartiger Blick begegnete dem ihren – das beirrte sie nicht.

„Ich war nicht zugegen, als die Sammlung vernichtet worden ist, und kann deshalb auch nicht das Geringste aussagen,“ erklärte sie so fest und entschieden, daß man sofort erkennen mußte,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_515.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)