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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

in der sogenannten physikalischen Diagnostik geübter Arzt über die Natur des Leidens klar werden. So treten z. B. bei ein und demselben Lungenleiden bei dem einen Kranken am deutlichsten die Athmungsbeschwerden zu Tage, während bei einem andern, an derselben Lungenentartung Leidenden am auffälligsten die Störungen in der Herzthätigkeit und bei noch einem andern die der Magenverdauung etc. sind. Daher rührt ja die kindische Ansicht der Laien von einem Magenhusten und daher kommt es, daß manche Lungenkranke weit weniger über ihre Brust als über ihren Magen klagen.

2. Gar nicht selten bieten ganz verschiedene Krankheiten ganz dieselben Erscheinungen dar und nur die genaue Kenntniß des gesunden und kranken menschlichen Körpers läßt hierbei einen Irrthum, der zu einer sehr zweckwidrigen, ja gefährlichen Cur verleiten kann, vermeiden. Wenn z. B. bei Schwindel, Kopfschmerz, Ohrensausen, Flimmern vor den Augen, Ohnmacht und dergl. gegen Congestionen nach dem Kopfe (Blutüberfüllung im Gehirn) loscurirt würde, so könnte dies dem Kranken gar nicht selten sehr schlecht bekommen, da häufig alle jene Erscheinungen vom gerade entgegengesetztem Zustande des Gehirns, also von Blutarmuth herrühren[1].

3. Die Ursachen vieler beschwerlicher und selbst lebensgefährlicher Leiden sind häufig derartige, daß sie nur durch eine ganz genaue physikalische Untersuchung aufzufinden und, wenn aufgefunden, nicht selten durch eine passende örtliche Behandlung zu heben sind. Um aber eine solche, oft eine große manuelle Fertigkeit und Sinnesübung verlangende Untersuchung ordentlich anstellen zu können, dazu bedarf es, neben der gehörigen Kenntniß von den Einrichtungen im menschlichen Körper, eines jahrelangen Studiums am Krankenbette und Leichentische. Es ist nichts gefährlicher, als wenn z. B. bei Frauenkrankheiten, bei Leiden im Harn- und Geschlechtsapparate, bei sogenannten Hamorrhoidalübeln, bei leicht zu übersehenden Bruchschäden etc., Laiencurirerei und homöopathisches Nichts in Anwendung kommt.

4. Eine nicht kleine Zahl von Menschen haben, ohne daß sie es wissen, Entartungen in diesem oder jenem Organe, welche vom wissenschaftlich gebildeten Arzte bei genauer Untersuchung entdeckt und durch Angabe der passenden Lebensweise in Schranken gehalten werden können, während dieselben bei unzweckmäßiger Behandlung gar nicht selten zu einem sehr schlimmen Ende führen. So z. B. Gnade Gott Einem mit entarteten Blutgefäßwänden, wenn er in die Hände eines Kaltwasserfanatikers fällt; ein Schlagfluß ist ihm dann gewiß. Auch Die mit Tuberkeln in den Lungenspitzen – welche Entartung, wenn sie noch gering ist und den Kranken in seinem äußern Aussehen noch nicht auffällig heruntergebracht hat, sehr häufig auch von Aerzten übersehen und nicht diagnosticirt wird,[2] – sind gar nicht selten einem frühzeitigen Tode durch Lungenschwindsucht ausgesetzt, wenn sie von einem Unwissenden an sich herumdoctoren lassen. Die Purgirquacksalber und Kaltwasserärzte sind solchen Kranken am gefährlichsten.

5. Das Mikroskop und chemische Untersuchungen sind in manchen Fällen von Kranksein (z. B. bei Blut- und Harnveränderungen, Nierenleiden, Hautkrankheiten, Magen- und Darmaffectionen) ganz unentbehrliche Hülfsmittel zum Erkennen des Sitzes und des Wesens der Krankheit. Den Gebrauch dieser diagnostischen Hülfsmittel erlernt man nun aber nicht in der Schusterwerkstatt, in einer Postexpedition oder hinter dem Ladentische am sauren Gurken- und Heringsfasse. – Schon das Nichtauffinden von pflanzlichen und thierischen Schmarotzern (Parasiten), die, wenn auch nicht lebensgefährliche, so doch entsetzlich unangenehme Beschwerden veranlassen können, müßte eigentlich die Laienheilwirthschaft bei verständigen Menschen verächtlich machen. Nehmen wir z. B. die Krätzmilbe, den Kahl- und Erbgrindpilz, die Trichine etc. – das Vorhandensein aller dieser Schmarotzer muß durch das Mikroskop erst festgestellt werden, bevor man für ihre Vertilgung Etwas thun kann. – So kann die Krätze, welche von selbst nie heilt und zu ihrer Heilung durchaus der Tödtung der Krätzmilben durch örtlich wirkende Mittel bedarf, wenn sie nicht erkannt und richtig behandelt wird, nicht nur in einer Familie alle Mitglieder durch einen entsetzlich juckenden Ausschlag jahrelang peinigen, sondern sie kann auch bei längerer Dauer, in Folge der chronischen Störung der Hautthätigkeit, sowie in Folge der durch das Jucken und Kratzen unterhaltenen Nervenreizung und Schlaflosigkeit, eine solche Verschlechterung der Haut und des ganzen Ernährungszustandes erzeugen, daß förmliches Siechthum entsteht. Der curirende Laie und echte Homöopath sind demnach bei diesem Leiden ganz verwerfliche Heilkünstler.

Die Homöopathen, von denen doch auch einige die Tödtung der Milben und deren Brut durch äußere Mittel in allopathischer Form (Schmiercuren) für nothwendig erklären, behaupten, daß der innere Gebrauch des Schwefels (in der zweiten und selbst ersten Verreibung) die Krätze gründlich heilt und auch die übrigen Glieder einer Familie vor Ansteckung schützt. Herr Goullon (der allopathische Examinator im medicinischen Staatsexamen in Weimar) geht sogar so weit, daß er die örtliche Behandlung der Krätze eine unselige Heilart nennt, deren üble Folgen nicht ausbleiben werden und sich zum Theil jetzt schon an dem immer kränklicher und schwächer werdenden Geschlechte zeigen. Hr. Hirschel (in Dresden) sagt dagegen: die Krätze bedarf blos der äußern Behandlung mit milbentödtenden Mitteln; da man aber nicht stets bestimmen kann, ob die Milbe die Ursache, nicht vielleicht erst das Product der Krankheit ist, so kann man Schwefel auch innerlich geben. (Von welchen Krankheiten sind denn da die Läuse und Flöhe die Producte? Verf.) Hr. Cl. Müller (in Leipzig), nach welchem die schnelle Heilung der Krätze durch Einreibungen niemals bedenkliche Folgen bringt, will nach Tödtung der Milben ebenfalls noch den Schwefel innerlich angewendet wissen. Hr. Hering weiß dagegen, daß jede vertriebene Krätze eine andere Krankheit macht. Ein Hr. Dr. Attomyr curirt die Krätze mit dem Psoricum oder Krätzstoffe.[3]

6. Es giebt gewisse krankhafte Zustände und Beschwerden, wo man, und wenn man die Arzneistoffe auch noch so sehr haßt, doch zu deren Gebrauche gezwungen ist, natürlich nach vorhergegangener, durch genaue Untersuchung des Kranken erlangter Erkennung der Krankheit. Wie so segensreich z. B. kann ein allopathischer Arzt bei Schmerzkrankheiten mit Hülfe des Opium (Morphium innerlich oder unter die Haut gespritzt) wirken, während der echte Homöopath mit seinem Nichts auch nichts bewirken und der unverständige quacksalbernde Laie möglicherweise sogar sehr schaden kann. Wie hülflos die Homöopathen in Fällen dastehen, wo es gilt, lindernde Arzneien zur Hebung von Beschwerden anzuwenden, das zeigt sich auch recht deutlich beim Wechselfieber, wo die homöopathische Gabe des Chinin und anderer Arzneien auch gar nichts hilft. Und daher kommt es denn, daß manche Homöopathen in ihrer Privatpraxis bei wohlhabenden Leuten das Chinin zur schnellen Unterdrückung der Fieberanfälle in tüchtiger allopathischer Dose anwenden, während die Armen in den Kliniken und Polikliniken des Principes wegen der rein homöopathischen Behandlung unterworfen, für längere Zeit im Fieber erhalten und ihrer Arbeit entzogen werden. Und was ist dann das Finale? Die armen Leute gehen noch fiebernd, mit enorm angeschwollener Milz und wassersüchtigen Beinen zu einem Allopathen, werden aber im klinischen Journal als geheilt verzeichnet. Nun Leser! wie urtheilst Du denn über ein solches Gebahren von Heilkünstlern, durch welches der Arme des Principes wegen an seiner ihm so nöthigen Gesundheit geschädigt, auf den Reichen dagegen das Princip nicht angewendet wird? Pfui über solche gewissenlose Bastard-Homöopathen (wie sie von Hahnemann genannt werden)! –

7. Was die vernünftige diätetische Behandlung der Krankheiten betrifft, so verlangt diese erst recht nicht nur eine genaue Kenntniß der physiologischen und chemischen Vorgänge im gesunden menschlichen Körper, sondern auch ein richtiges Verständniß der verschiedenen heilsamen und gefährlichen Reactionsprocesse im kranken Körper. Denn es ist hierbei nöthig, die Bedingungen, unter denen die Naturheilungsprocesse die Krankheiten zur Gesundheit zurückführen, aufsuchen, herbeiführen und durch passende naturgemäße diätetische Hülfsmittel, und zwar je nach der Natur der Krankheit und

  1. WS: In der Vorlage ‚berrühren‘.
  2. Es ist dies insofern schlimm, als bei allgemeiner Wehrpflicht auch Tuberculöse mit zum Soldatendienste ausgehoben werden und recht leicht in Folge des anstrengenden Dienstes einen sogenannten Tuberkelnachschub erleiden können, der zu lebenslänglichem Siechthume oder zum Tode führen kann.
  3. Was das Psoricum für ein spaßiger Stoff ist, erzählt uns Herr Attomyr selbst. Er sowohl wie seine Tochter hatten von dem Mittel eingenommen, die letztere drei Körnchen von der einunddreißigsten Verdünnung und – nach drei Tagen fanden beide ihre Köpfe von sehr reger Bevölkerung belebt, zumal das Fräulein! Der Doctor war nun nicht länger im Zweifel, daß dasselbe Mittel auch das herbeigerufene Uebel vertreiben werde, und erhielt von einem Freunde, der es in seiner Praxis angewandt, bald die Bestätigung seiner Annahme.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_537.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)