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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

sich ereignen, daß ich Sie einen, auch zwei Tage nicht sehen dürfte, und dann stünde ein Dutzend naseweiser Mitschülerinnen um uns her und finge jedes Wort auf, das zwischen uns fiele; oder Frau von Berg, die strenge Vorsteherin, säße daneben und duldete nicht, daß ich auch nur einmal diese kleine Hand in der meinigen behielte. … Nein, ich muß zu jeder Stunde in dies liebe, trotzige Gesicht da sehen dürfen – ich muß wissen, daß da, wohin ich nach den Anstrengungen meines Berufes zurückkehre, meine Fee auf mich wartet und an mich denkt – ich muß am stillen, trauten Abend inmitten meiner vier Wände bitten dürfen: ‚Fee, ein Lied!‘ Das Alles aber kann nur geschehen, wenn – Sie mein Weib sind!“

Felicitas stieß einen Schrei aus und versuchte sich loszureißen; aber er hielt sie fest und zog sie näher an sich heran.

„Der Gedanke erschreckt Sie, Felicitas!“ sagte er tief erregt. „Ich will hoffen, daß es nur der Schreck des Unerwarteten ist und nicht Schlimmeres. … Ich sage mir ja selbst, daß es vielleicht langer Zeit bedürfen wird, ehe Sie mir das sein können, was ich ersehne – gerade bei Ihrem Charakter läßt sich eine so rasche Wandlung schwer annehmen, nach welcher der ‚verabscheute Todfeind‘ ein Gegenstand inniger Neigung werden soll. Aber ich will um Sie werben mit aller Ausdauer einer unvergänglichen Liebe; ich will warten – so schwer dies auch sein mag – bis Sie mir einst aus eigenem Antrieb sagen: ‚Ich will, Johannes!‘ … Ich weiß ja, welche Wunder im Menschenherzen vorgehen können. Ich floh aus der kleinen Stadt, um mir selbst und meinen furchtbaren inneren Kämpfen zu entrinnen, und da vollzog sich das Wunder erst recht! Der qualvollsten Sehnsucht gegenüber zerfielen diese Kämpfe in nichts, ich wußte nun, daß das, was ich vermessen und trotzig abschütteln wollte, meines Lebens Seligkeit werden würde… Fee, inmitten nichtssagenden Geschwätzes und koketter Gesichter schritt das einsame Mädchen mit der energischen Haltung und der weißen Stirn voll kraftvoller Gedanken unablässig neben mir her, über Berg und Thal – sie gehörte zu mir, sie war die andere Hälfte meines Lebens, ich sah ein, daß ich mich nicht von ihr losreißen könne, ohne mich innerlich zu verbluten! … Und nun ein einziges Wort der Beruhigung, Felicitas!“

Das junge Mädchen hatte allmählich ihre Hand aus der seinigen gezogen. Wie war es möglich, daß ihm, während er sprach, die Veränderung in ihrem Aeußern entgehen konnte! Die Brauen wie in heftigem, physischem Schmerz zusammengezogen, haftete ihr erloschener Blick längst am Boden, und die eiskalten Finger verschlangen sich krampfhaft ineinander.

„Beruhigung wollen Sie von mir?“ versetzte sie mit schwacher Stimme. „Vor einer Stunde haben Sie mir gesagt: ‚Das soll Ihr letzter Kampf gewesen sein,‘ und jetzt schleudern Sie mich mit eigener Hand in den entsetzlichsten, den die Menschenseele durchzumachen hat! … Was ist ein Kampf wider äußere Feinde gegen das Ringen mit sich selbst und den eigenen Wünschen?“ Sie hob die festverschlungenen Hände empor und warf wie in Verzweiflung den Kopf zurück. „Ich weiß nicht, was ich verbrochen habe, daß Gott mir diese unselige Liebe in’s Herz gelegt hat!“

„Fee!“

Der Professor breitete seine Arme aus, um sie an seine Brust zu ziehen, aber sie streckte ihm abwehrend die Hände entgegen, wenngleich ein Schimmer der Verklärung über ihr Gesicht flog. „Ja, ich liebe Sie – das sollen Sie wissen!“ wiederholte sie in Tönen, die zwischen Jauchzen und Thränen schwankten. „Ich würde schon in diesem Augenblick sagen können: ‚Ich will, Johannes!‘ aber diese Worte werden nie ausgesprochen werden!“

Er wich zurück, und Leichenblässe bedeckte sein Gesicht, er kannte „das Mädchen mit der energischen Haltung und der weißen Stirn voll kraftvoller Gedanken“ viel zu gut, um nicht zu wissen, daß sie mit diesem Ausspruch für ihn verloren sei.

„Sie sind geflohen aus X., und warum?“ hob sie fester an; sie richtete sich empor, und einer ihrer durchdringendsten Blicke traf die Augen, aus denen plötzlich alles Leben entwichen schien. „Ich will es Ihnen sagen. Ihre Liebe zu mir war ein Verbrechen gegen Ihre Familie, sie stieß alle Ihre wohlgepflegten Grundsätze um und mußte deshalb wie ein Unkraut aus Ihrem Herzen gerissen werden. Daß Sie von Ihrer Flucht nicht geheilt zurückgekehrt sind, ist nicht Ihre Schuld – Sie unterlagen derselben Macht, die auch mich zwingt, Sie gegen meine Grundsätze zu lieben… Wohl mag es ein erbitterter Kampf gewesen sein, bis alle die stolzen Kauf- und Handelsherren dem verachteten Spielerskind Platz gemacht haben – nichts in der Welt wird mich glauben machen, daß ich diesen Platz für meine ganze Lebenszeit behaupten werde! … Sie haben mir vor wenigen Wochen die unerschütterliche Ueberzeugung ausgesprochen, daß die Standesverschiedenheit in der Ehe sich unausbleiblich räche – dieses Princip haben Sie Gott weiß wie viele Jahre hindurch festgehalten, es kann unmöglich in sechs Wochen sich spurlos verflüchtigt haben, es ist nur übertüncht, es wird nur verleugnet – und selbst wenn es einer anderen Ueberzeugung gewichen wäre, was müßte Alles geschehen, um die Erinnerung an diesen Ausspruch in meiner Seele zu verlöschen!“

Sie schwieg einen Augenblick erschöpft. Der Professor hatte die Rechte auf die Augen gepreßt, und um seine Lippen zuckte es wie ein leichter Krampf. Jetzt ließ er die Hand sinken und sagte tonlos: „Ich habe die Vergangenheit gegen mich – aber Sie sind doch im Irrthum, Felicitas… O Gott, wie soll ich Ihnen das beweisen!“

„In den äußeren Verhältnissen hat sich nicht das Mindeste geändert,“ fuhr sie unerbittlich fort. „Es ist weder ein Flecken auf Ihre Familie gefallen, noch bin ich irgendwie meinem verachteten Standpunkt entrückt – meine Persönlichkeit ist es mithin allein, welche diese Umkehr bewirkt hat – es wäre vermessen und gewissenlos von mir, wollte ich den Moment benutzen, wo Sie die mit Ihnen festverwachsenen Principien mühsam niederhalten und nur Ihrer Liebe Gehör geben… Ich frage Sie auf’s Gewissen: Nicht wahr, Sie haben eine sehr hohe Meinung von der Vergangenheit Ihrer Familie? … Und haben Sie sich auch nur einen Augenblick einzureden vermocht, daß diese Vorfahren, die sämmtlich standesgemäß gewählt hatten, eine solche Mißheirath ihres Enkels billigen würden?“

„Felicitas, Sie sagen, Sie lieben mich, und sind fähig, mich so systematisch zu martern?“ rief er heftig.

Ihr Blick, der unverwandt auf seinem Gesicht geruht hatte, schmolz – wer hätte je in diesen stolzen, zurückweisenden Augen den Ausdruck unbeschreiblicher Zärtlichkeit gesucht, der sie jetzt beseelte! Sie nahm die Rechte des Professors in ihre beiden Hände.

„Als Sie mir vorhin das Leben an Ihrer Seite schilderten, da habe ich mehr gelitten, als sich aussprechen läßt,“ sagte sie in tiefster Bewegung, „es würden vielleicht hundert Andere an meiner Stelle die Augen vor der Zukunft verschließen und nach diesem augenblicklichen Glück greifen, aber so wie ich einmal bin, kann ich das nicht… Das, was lebenslänglich zwischen uns stehen wird, ist meine Furcht vor Ihrer Reue. Bei jedem finsteren Blick, bei jeder Falte auf Ihrer Stirn würde ich denken: ‚Jetzt ist der Augenblick da, wo er bedauert, wo er umkehrt zu seinen ursprünglichen Ansichten, wo er dich innerlich verstößt als die Ursache seines Abfalles!‘ Ich würde Sie unglücklich machen mit diesem Mißtrauen, das ich nicht besiegen könnte.“

„Das ist eine furchtbare Wiedervergeltung!“ sagte er dumpf und schmerzlich. „Uebrigens will ich dies Unglück getrost auf mich nehmen… Ich will Ihr Mißtrauen ohne Murren ertragen, so tief verwundend es auch ist – es muß ja doch einmal eine Zeit kommen, wo es hell zwischen uns wird… Felicitas, ich werde Ihnen eine Häuslichkeit schaffen, in der Ihnen so böse Gedanken gar nicht kommen können. Freilich wird es sich ereignen, daß ich manche Falte auf der Stirn, manch’ finsteren Blick mit nach Hause bringe – die sind unausbleiblich in meinem Wirkungskreise – aber dann ist ja eben meine Fee da, die sofort die Falten verwischt und den Blick aufhellt… Könnten Sie es wirklich über das Herz bringen, Ihre eigene Liebe zu zertreten und einen Mann, dem Sie das höchste Erdenglück zu geben vermögen, elend zu machen?“

Felicitas war allmählich nach der Thür zugeschritten, sie fühlte ihre moralische Kraft treulos werden dieser angstvollen Beredsamkeit gegenüber, und doch mußte sie fest bleiben gerade um seinetwillen.

„Wenn Sie mit mir in Abgeschiedenheit und Einsamkeit leben könnten, dann würde ich Ihnen willig folgen,“ entgegnete sie, während sie hastig das Thürschloß ergriff, als sei es ihr letzter Halt. „Glauben Sie nicht, daß ich die Welt selbst und ihr Urtheil scheue – sie urtheilt meist blind und einsichtslos – aber im Verkehr mit ihr fürchte ich eben den Feind in Ihnen selbst. Dort gilt eine ‚respectable‘ Herkunft sehr viel, und ich weiß, daß Sie darin mit der Welt harmoniren… Sie haben einen bedeutenden Familienstolz – wenn Sie ihm auch in diesem Augenblick

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_546.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)