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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

No. 36.

1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Der Professor sah der Regierungsräthin mit einem entschiedenen Ausdruck von lächelndem Hohn und tiefer Verachtung nach; dann betrachtete er einen Moment das plumpe Aeußere des Buches, während Felicitas’ Blick in namenloser Angst an den Fingern hing, die sich zwischen die Blätter legten und sie jeden Augenblick aufschlagen konnten. Ein Gemisch von sorgenvollem Sinnen und peinlicher Spannung lag in seinen Zügen – die letzten verhängnißvollen Worte der Regierungsräthin hatten ihn nicht eigentlich frappirt, er hatte offenbar diese Entwicklung des widerwärtigen Vorganges vermuthet; es handelte sich für ihn jedenfalls nur noch darum, welcher Art die geweissagte Schande sei. … Plötzlich sah er auf und in die flehenden braunen Augen des jungen Mädchens – welche Gewalt hatten doch diese Augen über den strengen Mann! Es war, als striche sofort eine sanfte Hand glättend über die finster gerunzelte Stirn, und um die Lippen zuckte es wie ein halbes Lächeln.

„Und nun werde ich auch über Sie Gericht halten!“ hob er an. „Sie haben mich schmählich hintergangen. Während Sie mir da droben mit einer Aufrichtigkeit gegenüberstehen, auf die ich hätte schwören wollen, tragen Sie ein Hellwig’sches Familiengeheimniß in der Tasche! … Was soll ich von Ihnen denken, Fee? … Sie können diese abscheuliche Falschheit nur wieder gut machen, wenn Sie ohne Rückhalt meine Fragen beantworten.“

„Ich will Alles sagen, was ich darf, aber dann bitte ich Sie, ach, ich bitte Sie inständigst, geben Sie mir das Buch zurück!“

„Ist das wirklich meine stolze, trotzige, unbeugsame Fee, die so süß bitten kann?“

Bei diesen Worten des Professors entfernte sich Heinrich unbemerkt und wohlweislich, aber er setzte sich wie zum Tod erschrocken auf die erste Treppenstufe nieder und griff an seinen grauen Kopf, ob er nach dem Gehörten wirklich noch an der alten Stelle sitze.

„Sie sind also heute lediglich in die Mansardenwohnung eingedrungen, um dies Buch zu holen?“ inquirirte der Professor.

„Ja.“

„Auf welchem Wege? – Ich fand alle Thüren fest verschlossen.“

„Ich bin über die Dächer gegangen,“ versetzte sie zögernd.

„Das heißt, durch die Bodenräume?“

Sie wurde dunkelroth. War sie auch befreit von dem Verdacht einer gemeinen Handlung, so trug dieselbe immerhin das tadelnswerthe Gepräge des Einbruchs.

„Nein,“ sagte sie gedrückt, „durch die Bodenräume führt kein Weg, ich bin aus einem der gegenüberliegenden Mansardenfenster gestiegen und über die Dächer gegangen.“

„Bei diesem furchtbaren Sturm?“ fuhr er erbleichend auf. „Felicitas, Sie sind entsetzlich in Ihren Consequenzen!“

„Es blieb mir keine Wahl!“ erwiderte sie bitter lächelnd.

„Und warum suchten Sie um jeden Preis in den Besitz des Buches zu gelangen?“

„Ich betrachtete es als ein heiliges Vermächtniß meiner Tante Cordula. Sie hatte mir gesagt, der kleine, graue Kasten – seinen Inhalt kannte ich nicht – müsse vor ihr sterben. Der Tod überraschte sie, und ich hatte die feste Ueberzeugung, daß der Kasten nicht vernichtet sei; zudem stand er in dem Geheimfach, welches das sämmtliche Silberzeug enthält, ich konnte dieses Versteck nicht angeben, ohne das Buch unbefugten Händen mit zu überliefern.“

„Armes, armes Kind, wie mögen Sie sich geängstigt haben! … Und nun ist all diese heroische Selbstverleugnung umsonst gewesen, das Buch ist doch in ‚unbefugten Händen‘!“

„O nein, Sie werden es mir zurückgeben!“ bat sie in Todesangst.

„Felicitas,“ sagte er ernst und gebieterisch, „Sie werden mir jetzt streng der Wahrheit gemäß zwei Fragen beantworten: Kennen Sie den Inhalt genau?“

„Zum Theil, seit heute.“

„Und compromittirt er Ihre alte Freundin?“

Sie schwieg unschlüssig. Vielleicht gab er ihr bei Bejahung dieser Frage das Buch behufs der Vernichtung zurück, aber dann beschimpfte sie Tante Cordula’s Andenken und bestätigte die abscheulichen Gerüchte von ihrer vermeintlichen Schuld.

„Es ist Ihrer unwürdig, daß Sie auf Ausflüchte sinnen, mag Ihre Absicht auch noch so gut und rein sein!“ unterbrach er das momentane Schweigen streng. „Sagen Sie einfach Ja oder Nein!“

„Nein.“

„Ich wußte es,“ murmelte er. „Und nun seien Sie verständig,“ mahnte er, „und fügen Sie sich in das Unabänderliche, ich werde das Buch lesen!“

Sie wurde blaß wie der Tod, aber auf’s Bitten verlegte sie sich nicht mehr. „Thun Sie das, wenn es sich mit Ihrer Ehre verträgt!“ stieß sie hervor; „Sie legen Hand an ein Geheimniß, das Sie nicht wissen sollen… In dem Augenblick, wo Sie das Buch aufschlagen, nehmen Sie den furchtbarsten, fortgesetzten Opfern eines ganzen Frauenlebens allen Werth!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 561. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_561.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)