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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Logenschließer bezahlt, zur Aufbewahrung übergiebt, kann überzeugt sein, selbe vor Beginn des letzten Actes auf den Schooß geworfen zu bekommen; es befremdet Niemand, wenn sich ein hemdärmeliger Arbeitsmann, in einem glänzenden Ausstattungsstücke, mitten unter Genien, Feen und Dämonen sehen läßt, wenn die Musiker im Orchester den Hut auf dem Kopfe behalten oder zehn derselben Romane und Zeitungen aus der Tasche ziehen und den Raum in ein Lesecabinet verwandeln; das Publicum preßt sich in die überaus schmalen Plätze, auf die Gefahr hin, das Verlassen derselben nur durch eine Amputation ermöglichen zu können. Wer je, und namentlich jetzt zur Ausstellungszeit, Paris besucht hat, wird mich gewiß nicht der geringsten Uebertreibung beschuldigen können. Jeder Fremde ist in diesem Augenblick in Paris eine offene Geldtasche, in die Jeder hineinzugreifen das volle Recht zu haben glaubt.

Freilich entschädigt diese Weltausstellung für alle Leiden, Erpressungen, Uebertheuerungen und Rücksichtslosigkeiten, die der Fremde zu dulden hat und die Hans Wachenhusen in zwei humoristischen Heftchen ungemein drastisch schildert. Keine Phantasie, keine Beschreibung kann ein Bild dieses Sieges der Civilisation geben! Darüber ist nur Eine Stimme; Stunden, Tage, ja Wochen fliegen dahin, und man muß sich gestehen, nur einen Bruchtheil des gewaltigen Ganzen gesehen zu haben!

Unter den zahllosen Schaustellungen, mit denen Paris in diesem Augenblick überfluthet ist, giebt es Chinesen – echte und falsche – Tiroler und deutsche Bänkelsänger, englische Tänzer, amerikanische Reiter, tunesische Musiker und eine Truppe „kaiserlicher Künstler des Taikun von Japan“. Letztere produciren sich jeden Abend unter rasenden Beifallstürmen im Cirque Napoleon und leisten überhaupt das Originellste und Unglaublichste, was je von Gauklern aller Nationen in Europa geleistet worden ist. Eine solche Verhöhnung aller Gesetze des Schwerpunktes ist noch nie dagewesen, und kaum dürfte der Versuch lohnen, ohne bildliche Darstellung eine anschauliche Schilderung dieser wunderbaren Productionen zu geben. Beim Eintritt befremden uns eine Menge absonderlich geformter Requisiten, deren Zweck uns unbegreiflich erscheint. Die Truppe erscheint und wirft die national-grotesken Gesichter mit den geschlitzten, listigen Aeuglein an die Erde, die halbgeschornen Schädel mit den festgeflochtenen, flach an den Kopf gebogenen Zöpfchen fast in die Erde grabend. Es sind ungefähr zwanzig Personen, Männer, Frauen und Kinder. Eines der letzteren, ein Knabe von neun bis zehn Jahren, hat die Brust mit verschiedenen Bändern und Medaillen, in Gold und Silber, bedeckt, als Zeichen, daß auch in seinem Vaterlande das wahre Verdienst nach Würden anerkannt und belohnt wird. Nachdem sich die ganze Gesellschaft auf die Kniee geworfen und dem Publicum die landesübliche Ehrfurcht kund gegeben, erheben sich Alle mit einem wiehernden Geschrei, nicht unähnlich den grellen Thierlauten, welche den Reisenden in Italien auf allen Wegen bei den verschiedenen Promenaden begleiten, zu denen das bekannte geduldige, langohrige Reitthier nöthig ist. In langgezogenen Tönen kreischt der Künstler nach jeder gelungenen Production im höchsten Discant ein schrilles E–eeh oder A–aah heraus, während seine Cameraden die halsbrecherischen Uebungen in hellen Fistellauten begleiten und den „Artisten“ zu ermuntern scheinen. Diese Conversation hat die Klangfarbe jener der Haremswächter in Constantinopel oder gewisser früherer Kirchensänger in katholischen Ländern. Auch das Hinausstrecken der flachen Hand unter lebhaftem Daraufschlagen auf dieselbe scheint eine künstlerische oder nationale Bedeutung zu haben.

Es gehört einige Uebung dazu, bei den fast gleichen Costümen und Physiognomien, Männlein und Weiblein, Knaben und Mädchen, von einander zu unterscheiden. Jeder oder Jede sieht dem oder der Andern zum Verwechseln ähnlich, Alle sprechen oder vielmehr kreischen gleich monoton, der Sprachschatz scheint ebenfalls ohne allen Unterschied gleichlautend zu sein. Die staunenswerthen Productionen der Leute folgen sich mit rapider Schnelligkeit und reißen den Zuschauer unwiderstehlich mit sich fort. Ich bin kein Freund von Jongleurkünsten, und die „Leotards“, „Stonettes“ und wie die Koryphäen von Renz und Lejars heißen, lassen mich ganz kalt, allein bei diesen Vorstellungen fesselte mich doch eine mit Grauen gemischte Bewunderung, von der ersten bis zur letzten Minute. Ein scheinbar schwach gebauter Japanese stellt sich eine wunderlich geformte, an einem Bambusstocke befestigte Maschine auf das Knie und läßt selbe balanciren. Dieselbe stellt ein Dreieck vor, welches aus gitterförmig zusammengesetzten Stäbchen besteht, deren Breitseiten nach Außen gekehrt sind. An diesem luftigen Bau klettert der Knabe Konikichi empor, stellt sich oben hin, kriecht auf diesem winzigen, schwankenden Raum hin und her in allen denkbaren Jongleurstellungen, als einzige Basis das dünne auf dem Knie des Anderen frei stehende Bambusrohr. Am vordersten Rand nun beißt er in das dünne Stäbchen und steht, im strengsten Sinn des Wortes, auf den Zähnen, während der übrige Theil des Körpers frei in der Luft schwebt. Nun kommt eine der „Damen“ der Gesellschaft, zeigt eine Menge lose winzig schmale Bänder, die sich in ihren Händen auf unbegreifliche Weise in prachtvolle breite Seidenbänder verwandeln. Diese zündet sie an, wobei sie nach Art der Raketen verpuffen. Aus dem brennenden Berg von Seide holt die Gauklerin eine Sammlung kleiner Sonnenschirme hervor, von denen das schärfste Auge nicht entdecken kann, woher sie genommen werden.

Jetzt kommen Spiele mit anscheinend ganz gewöhnlichem Kreisel, vom kleinsten Kinderspielwerk bis zu einem zwanzig Pfund schweren Ungethüm. Der Kreisel wird, seiner Natur zuwider, gezwungen, an einer schiefen Ebene hinauf zu laufen, die scharfe Schneide eines Schwertes, der Rand eines Fächers muß ihm als Tanzplatz genügen, hoch in die Luft geworfen, muß er seinen rasenden Lauf auf der Spitze eines Degens genau auf dem Punkt fortsetzen, von dem aus er in die Höhe geschleudert worden ist. Ein Musiker, mit einem guitarreähnlichen, nichts weniger als wohlklingenden Instrument, welches mit einem spachtelartigen Stück Holz gespielt wird, balancirt, ohne sein Concert zu unterbrechen, auf der Achsel ein ungeheuer hohes Bambusrohr, an dessen natürlichen Kerben ein Anderer emporklettert, und oben, mit den Zehen eines Fußes das dünne biegsame Rohr umkrallend, schleudert er den ganzen übrigen Körper mit Vehemenz wagerecht in die Luft hinaus. Dabei musicirt sein achseltragender College und andere Musikanten auf gräulich klingenden Werkzeugen ruhig fort; der Andere stößt auf seinem gefährlichen Posten schrille Jubeltöne in die Luft, und die ganze Gesellschaft begleitet den Künstler mit einem Dialog in den höchsten Tönen, deren die menschliche Stimme fähig ist. Der Bambus aber scheint noch nicht gefährlich genug für diese Luftpromenade; eine dünne, doch riesig hohe Leiter wird einem am Boden liegenden Künstler auf die höher gestemmten Kniee gestellt, durch die Sprossen kriecht ein zweiter Japanese schlangengleich auf und nieder, mit der Gewandtheit einer dressirten Katze; jetzt stellt er sich auf der Spitze einer Leiterstange auf den Kopf, plötzlich erschallt ein Schrei des Entsetzens durch das Auditorium, die Leiter bricht mitten auseinander, die Sprossen und die eine Seite derselben liegen am Boden, aber unser Artist setzt oben ungestört seine antipodische Promenade fort. Da wird er mit der Stange bis an die Kuppel des ungeheuer hohen Circus emporgezogen und klettert in diesem schwindelnden Raum auf dem Bambus, der sich unter dem Gewicht seines Körpers wie ein Bogen biegt, nicht nur auf und nieder, nein, von ganz oben läßt er sich, zum Grauen der Zuschauer, jählings los, man glaubt, jetzt müsse er, sich zerschellend, herabstürzen, da fassen die Zehen das unterste Bambusende und in der Luft in sitzender Stellung kauernd, hält er plötzlich, mit lächelnder Miene unter dem landesüblichen Gekreisch in seinem gefährlichen Lauf an. Das Publicum mag dabei die Empfindung haben wie Personen, die in der Dämmerung dem geschickten Erzähler einer recht unheimlichen Gespenstergeschichte zuhören; man „grault“ sich unbeschreiblich und vermag doch den Blick nicht von dem gefahrvollen Schauspiel abzuwenden.

Als eine wahre Erholung erscheint uns das Kunststück, wenn der junge „All-Right“ sich vierundzwanzig kleine hohle Kübel über einander stellt und diese, ohne seinen schwanken Standpunkt, der abwechselnd in der Fläche der einen oder der andern Hand besteht, während der Körper verkehrt in der Luft schwebt, zu verlassen, sich sein wankendes Gerüste selbst aufbaut und zwischendurch die einzelnen Kübel herausschleudert, oder mit einer freien Hand, manchmal Zehen oder Zähne zu Hülfe nehmend, dieselben wieder einsetzt. Man hat eben an der unglaublichen Sicherheit, mit welcher diese Leute alles machen, verlernt, sich über etwas zu wundern, oder an wirkliche Gefahr zu glauben. Man hält es für eine landesübliche Morgenpromenade, wenn ein Knabe an der inneren Wand eines leeren ungeheuren Wasserbottichs emporklettert, den sein Vater auf den Zehen schaukelt; man findet es ganz natürlich,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 600. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_600.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)