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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

nennen? … Ich möchte gern etwas für Sie thun… In welcher Eigenschaft sind Sie denn hier in diesem sehr ehrenwerthen Hause?“

„Als mein liebes Töchterchen,“, antwortete die Hofräthin an Felicitas’ Stelle und sah ihn fest und durchdringend an.

„Nun sehen Sie, da haben Sie ja doch ein sehr glückliches Loos gezogen!“ sagte er zu dem jungen Mädchen, während er sich vor der Hofräthin verbindlich neigte. „Leider ist es nicht in meine Hand gegeben, mit Ihrer edlen Beschützerin zu wetteifern – die Rechte einer Tochter des Hauses dürfte ich Ihnen schon um deswillen nicht zugestehen, als meine Eltern noch leben; in ihren Augen würde leider der Umstand, daß Sie den Namen d’Orlowsky tragen, vollkommen genügen, um Sie nie vor sich zu lassen.“

„Wie, die leiblichen Großeltern?“ rief die alte Dame entrüstet. „Sie könnten um das Dasein einer Enkelin wissen und sterben, ohne sie gesehen zu haben? – Das machen Sie mir nicht weis!“

„Meine liebe Frau Hofräthin,“ entgegnete Herr von Hirschsprung kalt lächelnd, „das stark ausgeprägte aristokratische Gefühl, ein hoher Sinn für die unbefleckte Ehre des Hauses sind Familieneigenthümlichkeiten der Hirschsprungs, denen auch ich mich nicht entziehen kann – die Liebe kommt bei uns erst in zweiter Linie. Ich begreife die Anschauungsweise meiner Eltern vollkommen und würde genau so handeln, wenn sich eine meiner Töchter je vergessen sollte.“

„Nun, mögen die Männer Ihrer Familie über diesen Punkt denken, wie sie wollen,“ sagte die Hofräthin beharrlich, „aber die Großmutter – sie müßte ja ein Stein sein, wenn sie von diesem Kind hörte und –“

„Gerade sie verzeiht am wenigsten,“ unterbrach er die alte Dame in sicherer Ueberlegenheit. „Meine Mutter hat verschiedene Glieder alter Grafengeschlechter auf ihrem Stammbaum und hütet den Glanz des Hauses, wie selten eine Frau… Uebrigens steht es Ihnen frei, meine sehr geehrte Frau Hofräthin,“ setzte er, nicht ohne einen leisen Anflug von Spott, hinzu, „einen Versuch für Ihren Schützling zu wagen. Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich Ihnen nicht nur nicht entgegen sein, sondern Ihr Vorhaben sogar möglichst unterstützen werde.“

„O bitte, nicht ein Wort mehr!“ rief Felicitas in namenloser Qual, während sie sich aus den Armen der alten Dame loswand und die Hände derselben beschwörend erfaßte. „Seien Sie überzeugt, mein Herr,“ wendete sie sich nach einer momentanen Pause ruhig und kühl, wenn auch mit zuckenden Lippen, an den Herrn von Hirschsprung, „daß es mir nie einfallen wird, mich auf ehemalige Rechte meiner Mutter zu stützen – sie hat sie hingeworfen um ihrer Liebe willen, und nach Allem, was Sie soeben ausgesprochen, hat sie dabei nur gewonnen… Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, daß ich allein stehe in der Welt, und so sage ich mir auch jetzt: ‚Ich habe keine Großeltern.‘“

„Das klingt scharf und bitter!“ sagte er leicht verlegen. „Aber,“ fügte er mit einem Achselzucken hinzu, „so wie die Verhältnisse nun einmal sind, bin ich genöthigt, Sie in dieser Art der Auffassung verharren zu lassen… Im Uebrigen will ich für Sie thun, was in meinen Kräften steht. Ich zweifle keinen Augenblick, daß es mir gelingen wird, von meinem Vater eine anständige lebenslängliche Rente für Sie zu erwirken.“

„Ich danke!“ unterbrach sie ihn heftig. „Ich habe Ihnen eben erklärt, daß ich keine Großeltern habe; wie können Sie denken, daß ich von Fremden Almosen annehmen werde?“

Er erröthete abermals, allein jetzt war es das dunkle Roth der Beschämung, welche vielleicht zum ersten Mal im Leben diese hocharistokratische Seele beschlich. In offenbarer Verlegenheit griff er nach seinem Hut – Niemand hinderte ihn daran. Er berührte, sich gegen den Rechtsanwalt wendend, mit einigen fast geflüsterten Worten noch einmal das Geschäftliche; dann bot er, wie von einem plötzlichen Impuls bewegt, Felicitas die Hand, allein das junge Mädchen verneigte sich tief und ceremoniell vor ihm und ließ ihre beiden Hände langsam an den Seiten niedersinken. … Das war eine herbe Sühne, die das Spielerskind dem stolzen Herrn von Hirschsprung gegenüber für sich verlangte! Er wich bestürzt zurück, neigte sich mit einem Achselzucken, und für diesen Augenblick aller aristokratischen Hoheit bar, vor den Uebrigen und verließ, vom Rechtsanwalt begleitet, das Zimmer.

Als die Thür hinter ihm in das Schloß fiel, schlug Felicitas mit einer heftigen Geberde die Hände vor das Gesicht.

„Fee!“ rief der Professor und breitete seine Arme weit aus. Sie sah empor und – flüchtete hinein. Die Arme um seinen Hals schlingend, drückte sie ihren Kopf fest an seine Brust. … Der junge, wilde Vogel ergab sich für alle Zeiten, er machte auch nicht den leisesten Versuch mehr, aufzufliegen; es war süß, in starken Armen geborgen zu rasten, nachdem er im einsamen Fluge durch Sturm und Wetter sich fast zu Tode gekämpft und geflattert hatte.

Bei diesem Anblick gab die Hofräthin ihrem vergnügt lächelnden Herrn Gemahl einen Wink, und Beide gingen geräuschlos aus dem Zimmer.

„Ich will, Johannes!“ rief das junge Mädchen und schlug die Wimpern auf, an denen noch die Thränen des kindlichen Schmerzes hingen.

„Endlich!“ sagte er und legte seine Arme fester um die zarte Gestalt, sie war ja mit diesem Ausspruch sein eigen. Welch’ ein Gemisch von Gluth und Zärtlichkeit brach aus den strengen, stahlgrauen Augen, die auf das glückselig lächelnde Mädchenantlitz niedersahen!

„Ich habe von Stunde zu Stunde auf dies erlösende Wort gewartet,“ fuhr er fort; „Gott sei Dank, es ist aus eigenem Antrieb gesprochen worden! Ich wäre sonst heute Abend noch gezwungen gewesen, es zu veranlassen; ob es mir dann so süß geklungen hätte, wie eben jetzt, ich bezweifle es! … Böse Fee, mußten erst so bittere Erfahrungen über mich kommen, ehe Du Dich entschließen konntest, mich glücklich zu machen?“

„Nein!“ rief sie entschieden und wand sich los. „Nicht der Gedanke, daß Ihre äußere Lage sich geändert habe, hat mich besiegt, in dem Augenblick, wo Sie mir consequent und entschieden die Zurückgabe des Buches verweigerten, kam urplötzlich das Vertrauen –“

„Und wenige Augenblicke darauf, als das Geheimniß mir offenbar wurde,“ unterbrach er sie und zog sie abermals an sich, „da erkannte ich, daß Du bei aller Schroffheit, bei allem Trotz und Stolz doch die echte, beseligende Liebe des Weibes im Herzen trägst, Du wolltest lieber entsagen, ehe Du das Leiden einer schmerzlichen Erfahrung über mich kommen ließest… Wir haben beide eine harte Schule durchgemacht, und – täusche Dich nicht, Fee, über die Aufgabe, die Dir wird! Ich habe meine Mutter verloren, mein Vertrauen auf die Menschheit hat einen starken Stoß erlitten und – auch das muß gesagt sein – ich besitze in diesem Augenblick fast nichts, als meine Wissenschaft!“

„O ich Glückselige, daß ich neben Ihnen stehen darf!“ unterbrach sie ihn und legte die Hand leicht auf seinen Mund. „Ich darf freilich nicht hoffen, Ihnen das Alles ersetzen zu können, aber was ein demüthiges Weib irgend thun und ersinnen kann, um das Leben eines edlen Mannes zu erhellen, das soll gewiß geschehen!“

„Und wann wird dieser stolze Mund sich herablassen, mich ‚Du‘ zu nennen?“ fragte er, auf sie herablächelnd.

Ihr lilienweißes Gesicht erröthete bis an die Haarwurzeln.

„Johannes, bleibe nicht allzu lange fern von mir!“ flüsterte sie bittend.

„Ach, hast Du im Ernst geglaubt, daß ich ohne Dich gehen würde?“ rief er leise lachend. „Wenn es sich in diesem Augenblick nicht so schön fügte, so würdest Du heute Abend erfahren haben, daß Du morgen früh um acht Uhr, in Begleitung unserer lieben Hofräthin, mit mir nach Bonn abreisest. Die liebe, alte Mama hat Dir ein wenig Komödie vorgespielt, mein Kind; droben im Staatszimmer stehen seit gestern die gepackten Koffer, und ich habe, unterstützt von ihrem Rath, selbst das Reisehütchen ausgesucht, das ich auf der trotzigen Stirn da sehen will… Du bleibst vier Wochen als meine erklärte Braut im Hause der Frau von Berg und dann – zieht eine kleine Frau neben das Studirzimmer des grimmigen Professors, der Falten auf der Stirn und bitterböse Blicke mit nach Hause bringt.“

Herr von Hirschsprung legitimirte sich, resp. seinen noch lebenden Vater, als einzigen Erben, und das Vermächtniß der alten Mamsell wurde ihm ausgehändigt. Er erklärte die Ansprüche der Hirschsprungs an die Familie Hellwig bezüglich der unterschlagenen sechszigtausend Taler für vollkommen getilgt, nachdem der Professor die dreißigtausend Thaler der Tante Cordula aus seinem eigenen Vermögen verdoppelt und somit das Capital bis zu seiner vollen Höhe ergänzt hatte.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 606. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_606.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)