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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

aller Art, von Armuth und Reichthum, von Hunger und Ueberfülle in allen nur erdenklichen Stufen und Gestalten, und in diesem raschen, kräftig pulsirenden Umsatze von allen möglichen nothwendigen Lebens- und erquickenden Genußmitteln mitten in der trostlosesten Armuth der Dreimillionenstadt liegt das Geheimniß, daß hier in dieser scheinbar entsetzlichsten Uebervölkerung weniger Menschen hungern, leiden und umkommen, als in den von Natur gesegneten Prairien und Steppen, die sich in Asien und Amerika noch vielhundertmeilig ausdehnen. Wir können deshalb den Satz, womit wir anfingen, auch umkehren und sagen: je weniger Bevölkerung, desto mehr Uebervölkerung, und uns aus dem schmutzigen Gedränge des Sonntagsmarktes im Unterrocks-Gäßchen zu London mit dem Troste hervorwinden, daß die großen Städte, welche in der civilisirten Welt immer mehr anschwellen und mit fabelhafter Schnelligkeit ehemalige Wüsten und Einöden für einen höheren Wohlstand und besseren Lebensgenuß künftiger noch ungeborner Millionen erobern, desto eher zu festen Burgen und Bürgschaften allgemeiner menschlicher Glückseligkeit werden, je dichter nebeneinander freudig schaffende und thätige Menschen wohnen und miteinander verkehren und je kräftiger sich die kosmopolitischen Schwingen Mercur’s von den Bleigewichten der Politik des Mars, der Völkerfeindseligkeit, der gewaltsamen Steuern und Abgaben zu befreien wissen werden.

H. B.




Zum October-Jubiläum auf der Wartburg.
Dem 18. October 1817 gewidmet.


Des Mannes erste Wissenschaft,
Das Vaterland zu lieben,
Wie hast du, deutsche Burschenschaft,
Voll Eifer sie getrieben!

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Es rief, du griffest kampfbereit

Zum Schwerte von der Feder,
Dein Hörsaal war die große Zeit,
Das Schlachtfeld dein Katheder.

Und als des Volkes blut’ge Saat

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Um alle Frucht betrogen,

Im Dunkeln schleichender Verrath
Sein tückisch Netz gezogen,
Auf’s Neue standest du voll Muth
Zum heil’gen Kampf verbündet,

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Und hast an deines Zornes Gluth

Den Holzstoß angezündet.

Kein Freudenfeuer sollt’ entloh’n,
Es war ein Scheiterhaufen
Für Alle, die mit schnödem Hohn

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Das gute Recht verkaufen;

Verfinstert hatten sie das Land
Und mußten’s nun erhellen,
Wie krümmten knisternd sich im Brand
Die feilen „Schmalzgesellen“!

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Da ward manch’ kräft’ger Spruch getauscht,

Daß sich die Fäuste ballten,
Der wilde Nachtsturm hat gerauscht
In deiner Fahne Falten,
Und von der Burg, da Gottes Wort

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Zuerst einst deutsch erklungen,

Hast du, der Freiheit letzter Hort,
„Frei ist der Bursch!“ gesungen.

Du sangst es noch, daß sich entsetzt
Die Büttel und die Kriecher,

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Als schon zu Tode dich gehetzt

Die Demagogenriecher;
Doch ließ dich der Verfolger Wuth
In Haft und Acht verkommen,
Aus deiner Asche ist die Gluth

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Zur Flamme hoch entglommen.


Und was du nur zur Nacht vertraut
Schweigsamen Felsenmassen,
Am hellen Tag ertönt es laut
Weithin auf Markt und Gassen:

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„Ihr deutschen Brüder, schließt die Reih’n,

Austilgt die lange Schande,
Wir wollen frei und einig sein
Im deutschen Vaterlande“!

Gesegnet, deutsche Burschenschaft,

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Sei ewig deine Tugend,

Nie fehle uns’rer Manneskraft
Das Feuer deiner Jugend,
Und wenn uns die Erfüllung naht,
Fiel noch die letzte Schranke,

55
Wir sagen: Unser ist die That,

Doch dein bleibt der Gedanke!

Albert Traeger.




Eine gräfliche Büßerin.


Correggio, der Meister im romantischen Helldunkel, hat uns in seiner „büßenden Magdalena“ das reizende Ideal einer Reuigen vor die Sinne gerückt. Aus den Zügen des schönen Weibes, das in stiller Waldeinsamkeit auf die Erde hingestreckt ist, recht dazu angethan, beim Lesen bußfertiger Schriften über ein Leben voll Weltfreuden Traurigkeit zu empfinden, welche eine Reue bewirkt, die Niemanden gereut[1], leuchtet zwar das Gefühl inniger Hingabe an die Buße, doch auch noch etwas menschlich Versöhnendes von der irdischen Liebe eines Weibes, welches die labyrinthisch verschlungenen Pfade des Lebens gewandelt, aber nicht den Ausgang verloren hat.

In der Gräfin Ida Hahn-Hahn tritt uns nach ihren eigenen Geständnissen eine moderne Maria Magdalena entgegen. Ohne daß sie den Anspruch erhöbe, eine „Wunderperle in einer Klostermuschel“ zu sein, wie sie die Klosterfrauen nennt, und ohne dem Zweig des Klosterlebens selbst ausschließlich anzugehören, den sie von Frankreich nach Mainz verpflanzt hat, trägt sie jetzt dennoch das Klosterkleid der „Töchter der heiligen Jungfrau Maria von der Liebe des guten Hirten von Angers“ mit schwarzem Schleier, dem Symbol der Trennung von der Welt, mit der blauen Gürtelschnur, der „Farbe der Abtödtung“, und mit dem silbernen Herzen, dem das Bild des „guten Hirten“ eingeprägt ist. Vor ihrer „Bekehrung“ war die Gräfin Hahn-Hahn als fruchtbare Schriftstellerin eine Erscheinung in der Literatur, die nicht allein durch die in ihren Romanen offen ausgesprochenen Welt- und Lebensansichten und scharf gezeichneten Charaktere großes Aufsehen erregte, sondern auch durch ihre wechselnden Lebensschicksale eine Zeit lang gerade in der vornehmen Gesellschaftssphäre tonangebend war. Sie tritt uns nach ihrer Bekehrung als eine geheimnißvolle Sphinx, als ein Räthsel entgegen, dessen Lösung die Seelenkunde geradezu herausfordert.

Welche beinahe sich aufhebenden Gegensätze berühren sich in dem Leben dieser vornehmen, schriftstellernden Frau! Sie muß, so lange sie in „Babylon“ wandelte, wie sie nach biblischem Sprachgebrauch ihr früheres von ihr selbst „verfehlt“ erklärtes Leben nennt, viel erlebt und erlitten haben, bis sie sich aus „innerer Lebensnöthigung“ auf den Weg „nach Jerusalem“ aufraffte, ihrem früheren Welttreiben gänzlich entsagte und sich in die Beschaulichkeit einer klosterartigen Lebensvereinsamung und in die Erbaulichkeit kirchlicher Thätigkeit flüchtend zurückzog, ohne indessen einer leidenschaftlichen Jugendliebe auch in den vorgerückten Jahren untreu zu werden – der Schriftstellerei. Denn darin ist sie eben so fruchtbar in „Jerusalem“ geblieben, wie sie es früher in „Babylon“ war.

Von ihrer Familie hat die Gräfin das excentrische und vagabundirende Wesen, in dem ihre Lebensansichten, ihre inneren und äußeren Wandlungen wurzeln, wie es scheint, erblich überkommen. Auf dem Gute ihres Großvaters, des Erblandmarschalls Grafen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_664.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)
  1. WS: 2. Kor. 7,10