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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

in den Himmel schaute und den Zug der Wolken betrachtete. Erst spät am Abend kehrte ich nach Paris zurück. Ich glaube, ich wäre gestorben, wenn ich das Atelier nicht verlassen hätte.“

Mit den ersten Frühlingsstrahlen verlassen sie, wie gesagt, die Stadt und strolchen in den Dörfern herum. Die Männer treiben dort besonders Taschenspielerei und Musik, während die Frauen durch Wahrsagerei sich schlecht und gerecht zu ernähren suchen. Die Wahrsagerei geht bei weitem nicht mehr so gut, wie ehedem. Die Bauern sind zwar nicht aufgeklärter, sie sind aber mißtrauischer geworden, und wenn sie auch noch an gar manchem Aberglauben festhalten, so sind sie doch nicht geneigt, ihm zu Gefallen ihren Geldbeutel in Anspruch zu nehmen. Es wird also den Zigeunern jetzt sehr schwer, ein fettes Opfer des Aberglaubens aufzutreiben. Indessen gelingt es ihnen doch zuweilen. So kam vor Kurzem eine Zigeunerin zu einer reichen Bauernwittwe und versicherte derselben, daß in ihrer Scheune ein großer Schatz verborgen sei, den man ohne Kosten heben könne. Die Bäuerin schüttelte zwar anfangs ungläubig den Kopf, die Beredsamkeit der Zigeunerin aber, die steif und fest behauptete, sie habe das Dasein dieses Schatzes am Jucken ihres linken Daumens verspürt, und die Versicherung, daß sie nur dann eine angemessene Belohnung verlange, wenn der Schatz gehoben sein würde, brachten doch endlich eine große Wirkung auf die Einbildungskraft der Wittwe hervor und sie fragte, welche Mittel zur Hebung des Schatzes angewendet werden müßten. Die Zigeunerin forderte vor Allem die größte Verschwiegenheit und ließ dann die Wittwe einen unangebrochenen Schinken, ein unangebrochenes Laib Brod, ein Pfund frischer Butter und ebensoviel Salz bringen. Als diese Victualien auf dem Tische lagen, nahm sie von jedem derselben ein wenig, wickelte jedes besonders unter sonderbaren Geberden und leisem Gemurmel in ein Stückchen weißes Papier und sagte sodann der Bauernfrau, diese müßte selbst die vier Papierpäckchen je in einer Ecke der Scheune verstecken, was aber die Victualien beträfe, von denen soeben die winzigen Theile genommen worden, so dürften sie weder von Menschen, noch von Thieren genossen, sondern müßten um Mitternacht an der Nordseite der Kirchhofmauer zwei Fuß tief eingegraben werden.

Die Bäuerin, die um Alles in der Welt dies Geschäft nicht um Mitternacht übernehmen wollte, übertrug der Zigeunerin die Ausführung desselben. Die Zigeunerin willigte nach einigem Sträuben ein, nahm Schinken, Brod, Butter und Salz in die Schürze und versprach nach zwei Tagen wieder zu kommen und den Schatz zu heben. Es versteht sich von selbst, daß sie mit den Ihrigen die schmackhafte Beute wohlgemuth verzehrte und sich bei der Bäuerin nicht mehr blicken ließ.

Früher haben die Zigeuner durch Beschwörungen und Verwünschungen sehr viel Geld auf dem flachen Lande verdient, und man muß zu ihrer Rechtfertigung sagen, daß sie selbst von dem Aberglauben befangen waren, den sie bei Andern ausbeuteten. Sie waren von der Wirksamkeit ihrer Zauberformeln fest überzeugt und bewahrten diese als ein kostbares, ihnen vor Urzeiten von gewaltigen Geistern anvertrautes Geheimniß. Als ich Legrenne fragte, warum er nicht als Beschwörer sein Brod zu verdienen suchte, sagte er schwermüthig: „Wir besitzen das Geheimniß nicht mehr. Die Alten, die es besaßen, haben es mit in’s Grab genommen. Sie haben nicht nur unfehlbare Sprüche gegen Gewitter und Hagelschlag, gegen Ueberschwemmungen und Feuersbrünste besessen, sondern sie wußten auch sich selbst und Andere durch Zauberformeln hieb- und stichfest zu machen. Als wir noch in den Wäldern schaarenweise hausten, konnten uns die Soldaten, die von Zeit zu Zeit gegen uns abgeschickt wurden, mit ihren Gewehren nichts anhaben, sobald sich einer der zauberkundigen Alten unter uns befand. Keine Kugel konnte uns dann treffen, kein Säbel uns verwunden. Damit ist es jetzt aus. Das Wahrsagen wird noch gegenwärtig von unsern Weibern etwas betrieben, aber es macht die Suppe nicht. Die ‚Weißen‘ glauben nicht mehr daran.“

Er sagte dies, indem er mehrere Male tief aufseufzte und mit der Hand durch’s struppige Haar fuhr, das noch niemals die wohlthätige Wirkung eines Kammes empfunden. Die Zigeuner waschen und säubern sich nie, und es giebt vielleicht keinen Menschenstamm, der mehr Scheu vor dem Wasser hätte als sie.

Was nun ihre Wahrsagerei betrifft, so beruht dieselbe auf einem genauen Studium der Physiognomie. Eine Zigeunerin, der irgend eine Tochter Eva’s die Hand reicht, um in den verschlungenen Linien derselben die Zukunft zu lesen, weiß so ziemlich, mit wem sie es zu thun hat, und sie formulirt ihre orakelhaften Gemeinplätze je nach dem Alter und dem Stande der Person. Das ist natürlich. Die Pythia hat es auf ihrem Dreifuß nicht anders gemacht. Merkwürdig aber ist es, daß sie selbst nicht selten an den Unsinn glauben, den sie aus den Handflächen der Leichtgläubigen lesen. Eine Zigeunerin versicherte mir, daß sie blos zwei Mal in ihrem Leben wahrgesagt. Sie habe bei ihrer chiromantischen Beschäftigung an gar nichts gedacht; als sie aber von den zwei Personen, aus deren Händen sie die Zukunft gelesen, später erfuhr, daß viele der von ihr prophezeiten Ereignisse wirklich eingetroffen, sei sie von einem großen Schrecken erfaßt worden und habe sich trotz aller ihr gemachten sehr lockenden Versprechungen nicht entschließen können, das Wahrsagegeschäft fortzusetzen.

Ein sonderbarer Aberglaube, der noch unter Vielen von ihnen herrscht, besteht darin, keinen Gegenstand, und sei er noch so kostbar, zu benutzen, auf den zufällig der Fuß eines Weibes getreten. Dieser Gegenstand wird sogleich und auf immer entfernt.

Sie feierten früher alljährlich um die Weihnachtszeit ein großes Fest, zu welchem sich alle Zigeuner der Umgegend einfanden. Es ging bei demselben hoch her. Man aß gut, man trank gut, man sang die beliebtesten Zigeunerlieder und tanzte die alten Nationaltänze zu einer rauschenden Musik. Diese Feste finden, in Paris wenigstens, nicht mehr statt und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Zahl der Zigeuner sehr abgenommen. Der alte Legrenne sagte mir, daß er in frühern Jahren vielen solchen festlichen Zusammenkünften beigewohnt, und sein Gesicht erheiterte sich, wenn er dieselben schilderte. „Das schönste und prächtigste Zigeunerfest,“ sagte er, „habe ich in Sevilla gesehen. Sie hatten dort ein ungeheuer großes, reich verziertes Zelt aufgeschlagen, wo sie sich zu Hunderten in kostbaren, sehr malerischen Costümen versammelten. Als nach dem vortrefflichen Schmaus der Tanz begann, kamen die vornehmsten Herren und Damen, welche die schönen jungen Zigeuner und die noch viel schönern jungen Zigeunerinnen nicht genug bewundern konnten und ihnen die erklecklichsten Geldgeschenke machten. Die spanischen Zigeuner sind reich,“ fügte er nach einer Pause mit einem tiefen Seufzer hinzu, „aber sie taugen nichts.“

Sehr merkwürdig ist es, daß die spanischen Zigeuner bei ihren in andern Ländern lebenden Brüdern stark verhaßt sind. Als vor einigen Jahren vier spanische Zigeuner sich in Paris aufhielten, hatten sie mit den andern Zigeunern so viele Händel, daß sie endlich die Hauptstadt verlassen mußten und wieder über die Pyrenäen zurückkehrten. Das ist um so auffallender, als die Zigeuner sonst sehr gutmüthig sind. Ich fragte Legrenne um die Ursache dieser Abgunst. „Sie sind ganz anders, als wir,“ antwortete er. „Es geht ihnen gut, darum sind sie stolz und hochmüthig. Sie sind Roßtäuscher und das Geld fliegt ihnen in die Tasche. Nachts stehlen sie die Pferde, färben sie mit allerlei Farben und verkaufen sie dann um einen billigen Preis. Sie leben in Ueberfluß und sind hartherzig gegen die Manusch (Zigeuner) anderer Länder.“

Mir fiel dabei Cervantes ein, der in seiner schönen Novelle „La Gitanilla de Madrid“ über die spanischen Zigeuner ein so wenig schmeichelhaftes Urtheil fällt.

Legrenne fuhr noch lange fort gegen die Gitanos zu reden. Er mißbilligte ganz besonders, daß die Zigeunerinnen in Spanien Cuchillos (spitze Messer) und Dolche trügen und vor Blut nicht zurückschreckten. Aus Allem aber, was er sagte, ging doch hervor, daß sie sich besonders durch ihren Geiz den Groll der übrigen Zigeuner zugezogen, die im strengsten Sinne des Wortes ihre Habe mit einander theilen und dies als eine ganz natürliche Sache betrachten. Bei dieser Gelegenheit muß ich wieder von Madeleine sprechen. Ich habe diese Zigeunerin, die in der Pariser Malerwelt sehr bekannt ist, in dem Atelier meines alten Freundes, des belgischen Meisters Gustav Wappers, kennen gelernt. Sie hat ein echtes Zigeunergesicht und soll früher sehr schön gewesen sein. Sie ist als Modell sehr beliebt und erfreut sich der besondern Gunst der Prinzessin Mathilde, die bekanntlich die Aquarellmalerei mit vielem Eifer und nicht ohne Talent betreibt. Madeleine lebt schon seit langer Zeit nicht mehr unter den Zigeunern und hat eben keine besondere Vorliebe für sie; aber sie hat sich doch ebensowenig den „Weißen“ innig anschließen, als von ihrem Stamme gänzlich lossagen können.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 713. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_713.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)