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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

„Sie sind schmutzig, neidisch, träge, albern,“ sagte sie eines Tages von den Zigeunern, „und ich verabscheue sie gerade so sehr, wie sie mich verabscheuen, da ich nicht mehr mit ihnen hause; sobald ich aber etwas besitze, trage ich es ihnen dennoch hin. Ich kann mich von ihnen nicht ganz losreißen; es zieht mich immer unwillkürlich zu ihnen hin, und ich nehme, so sehr ich mich auch sträuben mag, an ihrem Schicksal den lebhaftesten Antheil.“

Man weiß, daß die Zigeuner, als sie in Deutschland unter Kaiser Sigmund zum ersten Mal auftraten, an ihrer Spitze einen Großfürsten hatten, der, wenn ich nicht irre, Penuel hieß. Er war ihr Führer, ihr Beschützer und ihr höchster Richter. Bis auf die neueste Zeit hatten die verschiedenen Zigeunergruppen in jedem Lande ein solches Oberhaupt. Der letzte Chef, den sie im südlichen Deutschland, im Elsaß und in Lothringen hatten, hieß Pappenheimer. Er lebte auf einer Anhöhe bei Bitsch in Lothringen, erreichte das Alter von hundertundfünf Jahren und stand bei den Zigeunern in sehr hohem Ansehen. Er schlichtete alle Händel und man fügte sich gern seinen Urtheilssprüchen. „Der brauchte kein Geflügel zu mausen,“ sagte Legrenne schmunzelnd. „Wir trugen ihm die leckersten Bissen zu und er lebte wie ein König. Das hat sich jetzt geändert,“ fügte er melancholisch hinzu. „Wir haben, hier zu Lande wenigstens, keinen Führer mehr. Wir sterben aus! Wir sterben aus!“

Fast alle in Paris lebenden Zigeuner sind aus Deutschland eingewandert. Sie sprechen deutsch, und zwar den schwäbischen und Pfälzer Dialekt, haben auch meistens neben ihrem französischen auch einen deutschen Namen. Legrenne, der in Deutschland – er weiß natürlich nicht, in welchem Orte – geboren ist, hat ebenfalls noch einen deutschen Namen; dieser klingt indessen so unfläthig, daß ich ihn verschweigen muß. Ich vermuthe daher, daß sie, früher wenigstens, gar keine Familiennamen besaßen, sondern nach irgend einer besonderen körperlichen oder geistigen Eigenthümlichkeit benannt wurden, so daß sie statt eines Familiennamens einen Spitznamen trugen.

Der Zigeuner ist und bleibt Nomade. Das unstäte Leben ist ihm ein natürliches Bedürfniß. Ist doch sogar der alte Legrenne, der von allen Pariser Zigeunern am längsten hier lebt, jetzt entschlossen, der Hauptstadt für immer den Rücken zu kehren und sein Glück anderswo zu versuchen! Auf meine Bemerkung, daß das Umherwandern in seinen alten Tagen doch sehr unangenehm sein müßte, antwortete er: „Ich werde überall gut aufgenommen werden, denn man kennt mich überall. Mein Portrait befindet sich in vielen Bildergalerien Europas, so oft haben die Maler mein Gesicht abconterfeit. Das Modellstehen bei den Bildhauern hat zwar meiner Gesundheit geschadet; trotz meiner siebenzig Jahre fürchte ich indessen dennoch nicht, sobald von dem Tod ereilt zu werden. Meine Mutter hat ein Alter von hundertundvier Jahren erreicht, und ihre Schwester ist erst nach zurückgelegten hundertundzehnten Jahre gestorben.“

Die Langlebigkeit der Zigeuner ist in der That außerordentlich. Da man dieselbe weder der Reinlichkeit, noch der regelmäßigen Lebensweise zuschreiben kann, so muß man den Grund sowohl in der Race als auch in der Abhärtung suchen, an die sie von Kindheit gewöhnt sind. Auch die Nüchternheit mag dazu viel beitragen. Der Zigeuner ist ein Schlecker, aber kein Trinker. Die Mäßigkeit im Trinken gehört ebenfalls zu den charakteristischen Merkmalen seiner orientalischen Abstammung. Das Auffallendste an den Zigeunern ist indessen, daß sie seit fast fünf Jahrhunderten in der Mitte des civilisirtesten Welttheils leben, ohne von der Civilisation auch nur im Allergeringsten berührt worden zu sein, ohne auch nur die geringste Theilnahme an den Bestrebungen der Völker zu bekunden, unter denen sie leben. Ich glaube nicht, daß die Zigeuner jemals einen Gelehrten oder Künstler hervorgebracht. Von den Künsten treiben sie blos die Musik, weil ihnen der musikalische Sinn angeboren ist; allein sie lesen keine Noten. Sie lernen überhaupt nichts, was eine besondere geistige oder körperliche Anstrengung und einen dauernden Fleiß erfordert, obgleich es ihnen weder an Intelligenz, noch an Körperstärke gebricht.

An den in Paris und in der Umgegend lebenden Zigeunern bemerkt man seit einiger Zeit eine gewisse Lockerung ihrer früher so engen gegenseitigen Beziehungen. Sie halten nicht mehr so fest zusammen, und es giebt unter der jüngeren Zigeunerschaft schon Individuen, die der Zigeunersprache nicht mehr mächtig sind, indessen schließen sie sich darum doch nicht fester an die Franzosen an. Sie sind so unwissend wie ihre Vorfahren, und wie ihre Vorfahren sind sie überall unwillkommene Gäste. Sonderbares Schicksal einer Race, die, von der Natur auf’s Reichste ausgestattet, dennoch verdammt ist, selbst von den allerniedrigsten Schichten unserer Gesellschaft als Menschenkehricht verachtet zu werden.




Im Schatten der Albanerberge.


Wiederum sind einmal die Blicke der gesammten Welt auf Rom gerichtet, wiederum scheint sein Schooß Krieg und Frieden Europas zu bergen. Wie der Knoten, der sich dort geschürzt, sich entwirren wird, weiß Keiner. Nur Eins ist gewiß: mag die Bewegung, die jetzt von außen und innen an der päpstlichen Macht rüttelt, das Glück der Waffen für sich haben oder nicht, mag es ein Gewaltact des römischen Volks selbst oder das Werk diplomatischer Uebereinkunft sein, mag es entschieden werden durch die Feder oder das Schwert, das Papstkönigthum wird fallen und sein Ende wird weder das gewaltsame Zurückhalten des ungestümen Garibaldi, noch die französische Politik, am wenigsten, trotz ihrer momentanen Vortheile, jene Abenteurerlegion hemmen, welche der Erhaltung des morschen Priesterstaats ihr phantastisches Ritterthum geweiht hat. Daß es so kommen wird über kurz oder lang, liegt nicht in der politischen Constellation allein; das Papstthum ist oft in gefährlicherer Lage gewesen, und der Nachfolger Petri war ernster bedroht, aber niemals stand es der Welt so matt und ausgelebt gegenüber, wie heute. Es hat manchen Kampf gestritten auf Leben und Tod, es hat seine erbitterten Feinde gehabt in Kirche und Staat, unter Fürsten und Völkern, allein es hat ihnen gegenüber sich doch als Macht bewährt, ja intellectuell und moralisch als die überwiegende, aber jetzt hat es nichts als seine Proteste, die bald klagend, bald anklagend nur seine Schwäche bezeugen. Es versteht die Welt nicht mehr, weil es sie nicht mehr verstehen will, und in dem unversöhnbaren Widerspruch, in den es gegen den Gesammtbestand des gegenwärtigen Lebens sich gestellt, hat es sich selbst seine Lebensadern zerschnitten. Es steht in der Gegenwart als eine Rarität aus vergangenen Jahrhunderten, vertrocknet und kraftlos, nur gestützt durch unhaltbare Traditionen früherer Zeiten und durch eine reactionäre Fürstenpolitik, die in ihm eine moralische Gewähr ihres eigenen Bestehens sieht.

Niemand wird diesen Fall beklagen, die ausgenommen, die selber fallen, sammt ihren Freunden und Genossen; das römische Volk wird vielleicht nur an Rache denken für das, was die päpstliche Herrschaft ihm bis jetzt gekostet; dennoch fordert eine Gestalt unser tiefstes Mitleiden heraus, und das ist die Gestalt des greisen Papstes selbst, Pius des Neunten. An ihm, der besser und edler ist als die meisten seiner Vorgänger, wird, wie die Geschichte es öfter zeigt, das Gericht vollzogen für die Schuld manches Vorgängers und für die traurige Politik, deren Träger er leider geworden ist; aber bei allen seinen Fehlern und Schwächen, allen Mißständen, die unter seiner Herrschaft entstanden und fortbestanden, ist er mehr zu beklagen, als zu verurtheilen.

Pius der Neunte ist eine tragische Gestalt im vollen Sinne des Worts. Kaum ein Papst ist mit so freudigem Herzen von den Römern begrüßt worden, kaum einer hat ihnen ein so wohlwollendes Herz entgegengebracht. Das Regiment seines Vorgängers, Gregor’s des Sechszehnten, hatte schwer auf den Römern gelegen, die Staatsschuld allein war unter ihm auf das Doppelte gestiegen. Seine Protection hatte den Jesuiten wieder den ganzen Jugendunterricht in die Hände gelegt. Die revolutionären Bewegungen von Bologna und Rimini hatte er auf’s Grausamste, mit Gefängniß, Exil und Hinrichtungen, büßen lassen, sechstausend politische Gefangene schmachteten in den Kerkern. In dieses Elend trat nun Pius der Neunte wie ein rettender Befreier, äußerlich und innerlich des Vorgängers völliges Gegenbild.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 714. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_714.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)