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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

waren Zorn und Entrüstung von ihr gewichen – sie war ganz dem Schmerze dahin gegeben, der in zahllosen schweren Thränen aus ihren Augen strömte. „Es ist gesagt,“ schluchzte sie, „das Wort, von dem ich geglaubt habe, daß es nie über meine Lippen kommen würde, … ich habe es ausgesprochen. … Ja, es ist wahr!“

„Wahr!“ rief Sixt und knickte kraftlos auf die Bank zusammen. „Meine eigene Schwester! … O, welche Schand’“ Auch die alte Frau sank wieder zurück. … „Ich weiß nit, mir wird so übel,“ lallte sie, „ich glaub’ es ist … aus … mit mir…“

„Die Stadt, die Stadt,“ fuhr Susi fort, „die ist an Allem schuld … ich sag’ auch, ich wollt’, daß ich nie hinein gekommen wär’! In unsrem Hause war ein junger Mensch – ein Student – der Bruder ging den ganzen Tag seinen Geschäften nach, ich war mir selber überlassen … der junge Mann hat sich an mich gemacht, hat mir Schönheiten gesagt, hat mir alles Mögliche versprochen und geschworen, bis er mir Kopf und Herz verdreht hatte… Aber einmal, an einem Morgen, da war er fort, heimlich fort, war abgereist, Niemand wußte wohin, und wie ich in meiner Todesangst, die ich doch Niemand verrathen durfte, nach ihm fragen ließ, wie ich mich zu spät nach seiner Herkunft, nach seiner Heimath erkundigte … da …“

„Nun?“ rief Sixt in athemloser Spannung, da sie eine Secunde, mit einer Ohnmacht ringend, inne hielt.

„Da – da erfuhr ich … daß er nirgends zu finden war … daß er ein Abenteurer war, der … unter einem falschen angenommenen Namen in die Stadt gekommen…“

„Auch das noch!“ jammerte Sixt, sich in die Haare fahrend. „O mein Kopf, mein Kopf!“ Die Greisin in ihrem Lehnstuhl vermochte nur zu ächzen.

„… Niemand,“ begann Susi sich zusammenraffend wieder, … „Niemand wußte um mein Geheimniß und um meine Schmach … Niemand, als eine Frau, die im Hintergebäude wohnte und sich mit Näharbeiten fortbrachte, mit Gängen für die Leute im Hause und mit Pfänderversetzen… Bei ihr hatte der Verführer gewohnt; von Eigennutz verlockt, hatte sie unsere Zusammenkünfte befördert und geduldet… In meiner Verzweiflung drohte ich mit Selbstmord; um der Strafe zu entgeh’n, mußte sie mir weiter behülflich sein … sie behielt mein Kind … um sein Dasein zu verbergen, nahm sie ein anderes Kind in Pflege und Kost; es mußte zum Deckmantel für das meinige dienen, und während sie in ihrer abgelegenen Wohnung das ihr anvertraute Kind zeigte und ernährte, ahnte Niemand, daß sie noch ein zweites verbarg…“

„Entsetzlich!“ rief Sixt. „Welch’ ein Abgrund von Verderben und die eigene Schwester in der Tiefe des Abgrunds!“

„In der tiefsten der Tiefen!“ rief Susi schmerzlich. „O wie ich gerungen, was ich gelitten habe, allein mit mir selbst und dem Bewußtsein meiner Verworfenheit … verzehrt von glühender Sehnsucht nach dem unseligen Wesen, dem ich das Leben gegeben, und doch ohne Muth, meine Schande bekennend es offen an mich zu zieh’n – gemartert von den immer steigenden Zumuthungen meiner Genossin und doch an sie gekettet durch die Unmöglichkeit eines andern Auswegs! … Das immerwährende Schwanken zwischen Hoffnung und Angst; der Wechsel von Entzücken, wenn ich bei meinem Kinde sein konnte – von Verzweiflung, wenn ich es lassen mußte, überwältigte zuletzt meine Kraft – ich erkrankte, und als ich genesen, war das Erste, was ich vernahm, der Entschluß des Bruders, die Stadt zu verlassen und wieder auf’s Land zurückzukehren… Ich weiß noch nicht, wie ich mich losgerissen, wie ich meine Mitschuldige beschwichtigte und vertröstete … in einem Zustande des Taumels und der Sinnlosigkeit … eine halb Sterbende verließ ich die Stadt und der Schmerz hätte mich sicher getödtet, hätte mir der Himmel nicht einen Engel entgegen geschickt … Franzi!“

„Franzi!“ rief Sixt und sprang auf. „O Gott, woran mahnst Du mich! Und an sie – an die Unglückselige denk’ ich erst jetzt…“

„Sie kam mir liebevoll und mit all’ der alten Güte entgegen,“ sagte Susi, unter sanfterem Weinen. „… Zum ersten Male begegnete mir in der vertrauten Jugendgefährtin ein mildes wohlwollendes Gemüth … ich hatte den Muth nicht, vor ihr ein Geheimniß zu bewahren … in ihrer einsamen Kammer warf ich mich vor ihr auf die Kniee und habe ihr Alles gestanden… Sie schalt mich nicht – sie redete und fragte nicht viel, aber sie gab mir die Hand und sagte: ‚Ich will Dir helfen, Susi … ich weiß, was das heißt, keine Mutter haben … der arme Wurm soll nit so aufwachsen … er soll bei Dir sein, der liebe Gott wird mir wohl ein Mittel einfallen lassen, daß Du das Kind bei Dir haben kannst und das Geheimniß doch bewahrt bleibt…‘ Und sie hat’s redlich gehalten, was sie versprochen hat! Sie ist hinein in die Stadt und hat das Kind geholt bei der Frau, die zu Tod froh war, die Angst und das Geheimniß los zu werden … sie hat sich, damit sie Niemand mit dem Kind sehen sollt’, auf der Eisenbahn auf einem Packwagen hinter den Kisten und Fässern versteckt und hat’s auf den Oedhof getragen… Sie hat einer Mutter das eigne Kind gelegt… Das ist Alles, was ich zu sagen hab’. … Jetzt thut mit mir, was Ihr wollt, ich will’s Alles ertragen … bring’ mich um, wenn ich’s verdient hab’, Bruder, aber dann sorg’ für mein liebes, liebes Kind, oder gieb mir’s wieder, wenn Ihr mir verzeihen könnt!“

„Verzeihen? Dir?“ rief die Alte und suchte vergebens, sich in ihrem Stuhle aufzurichten. „Niemals!“ kreischte sie auf, um den Ruf des Hahnes auf der Uhr zu überbieten, der wieder an die Ewigkeit mahnte. „Niemals, in Ewigkeit! Dein Kind will ich wieder zu mir nehmen, ich will’s Deine Schlechtigkeit nicht entgelten lassen, will’s nicht statt Deiner strafen – aber Dich kenn’ ich nit mehr und will nichts mehr wissen von Dir! Du sollst von mir nichts mehr hören und haben als meinen …“

Sie vollendete nicht; ohnmächtig, einer Sterbenden gleich, glitt sie in den Stuhl zurück.

„Verzeihen?“ rief Sixt, indem er hinzutrat und die Knieende am Arme empor zerrte. „Weißt Du denn auch, was Alles auf Dir liegt? Die Franzi ist unschuldig durch Dich in Schand’ und Spott gekommen … der eigene Bruder hat sie fälschlich angeklagt und sie ist ungerecht verurtheilt … ungerecht, sie, der ich so viel zu danken hab’, die vor mir dasteht leibhaft wie ein guter Geist und wie ein Schutzengel! … Schau’ zu, Schwester, ob Dir unser Herrgott verzeiht … ich, ich kann es nicht!“

Er stürmte in die Nacht hinaus, unbekümmert um die wie leblos zusammen Stürzende – es war kein stilleres Haus in dem ganzen Gebirg, als der Oedhof.


6.

Es hatte völlig eingewintert in den Bergen.

Wenn man die enge Dorfgasse von Osterbrunn hinabsah, gewahrte das Auge nichts als den weichen, frischgefallenen Schnee, der ringsum sich hinzog, gleich einer ungeheuren Decke Alles verhüllend und doch den Formen der Dinge sich anschmiegend, daß sie in verschwommenen Umrissen noch immerhin erkenntlich waren. Die Dächer der Häuser waren in Hügel verwandelt, unter welchen die braunen Holzwände ernsthaft hervorblickten und doch errathen ließen was für ein trauliches Versteck sie boten vor Winter und Wetter und Frost. An den Dächern hin glitzerten Eiszapfen in allen Längen und Formen, wie eine eigens aufgehangene und kunstvoll gearbeitete Verzierung, und wo die Rinnen vollends gegen die Mitte der Gasse zu und einander gegenüber die Drachenmäuler aufsperrten, waren die phantastischen Thierköpfe mit einem noch phantastischeren Eisbarte geziert, der in langen, starren Krystalllocken herniederhing. Das Steigrohr des Dorfbrunnens hatte sich eine mächtige Haube übergestülpt und die große Linde, unter deren Schatten sonst das Wässerlein so frisch hervorplätscherte, hatte an jedem Aste den Schnee wie einen wärmenden Aermel aufgestreift, und stand so starr und ernst, als traure sie um das junge Leben unter ihr, das nun wie versiechend tropfenweise an dem aufgethürmten Eisstocke herniederschlich. Darüber hinaus, am Ende der Gasse, über die Schneehügel und durch die kahlgewordenen Baumwipfel der Gärten, ragten wie die Eisriesen der Sage die Berge herein und ließen ihre Häupter im Widerschein der Sonne erglänzen, welche sich eben anschickte, die kurze Bahn des winterlichen Nachmittags zu beenden. Nichts regte sich in dem weiten, weißen Bilde, als hie und da ein verwunderter Spatzenschwarm, welcher die gewohnte reichliche Nahrung nicht zu finden wußte, oder ein Rabe, der mit glänzendem Gefieder krächzend über das Dorf hinwegstrich; alles andere Leben hatte sich nach innen gezogen und ließ sich in den tactmäßig abwechselnden Schlägen erkennen, welche von den Dreschtennen aus den Stadeln und Scheunen stark und scharf durch die klare, kalte Luft ertönten.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 738. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_738.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)