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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

eigensinniger Kopf dachte an Marino, an Ariccia, an jeden Ort in Italien, an dem ich die spielenden Kinder beneidet und mir gewünscht hatte: hättest du hier zwischen Felsen und Schluchten, Höhlen und Hügeln, in diesem goldenen Märchen aufwachsen können! Nun sah ich mich wieder in dem backsteinernen Nichts, aus dem ich mir einst ein kümmerliches Etwas gemacht hatte.

Ich ging dann einsam weiter durch die Stadt und an der Stadtmauer hin; die alten Spielplätze! Aus dieser ganzen kleinen Welt war nun das Seelchen entflohen, Alles todt und still. Ich dachte an die Menschen, die sich oft so empfindsam ihre Kindheit zurückwünschen. Wohl mir, dacht’ ich, daß die meine weit, weit hinter mir liegt! und mit ihr alle jene Jugendsentimentalitäten, jene Nebelphantasien, jene Stadtgrabengefühle!

Ja, meine liebe Julie –

Ich habe – um Dich nicht länger auf die Folter zu spannen, liebe Neugier – ich habe auch jene Jugendfreundin wiedergesehen. Auch das war eins der alten Stadtgrabengefühle… Als ich zu ihr ging, hatte ich eben wieder Deinen letzten Brief gelesen, der, wie so viele frühere seinesgleichen, Dein beliebtes Thema variirte: „Ihr werdet doch noch ein Paar!“ Ja, so seid Ihr Frauen: jeden abgerissenen Faden haltet Ihr noch werth und wollt ihn wieder anknüpfen. Und unterwegs war ich in großer Heiterkeit geschäftig, über dieses Thema nachzudenken. Eine so kluge Schwester, dachte ich, der ein allzu leicht aufzuregender Bruder als Student von einem Mädchen zu erzählen liebte, das diese Schwester nie mit Augen gesehen hat; eine rechte Kindergeschichte, in den Jahren erlebt, in denen man sich jedes Nachbarkind zur Dulcinea verzaubert, und diese Heldin eines Kindermärchens soll nun – so will es meine kluge Schwester – ein für allemal mein Verhängniß sein! Dann malte ich mir aus, wie wir uns als Mann und Frau nebeneinander ausnehmen würden, und unwillkürlich sah ich uns in meinem sandbestreuten Zimmer, sie am Fenster in ihren Strickstrumpf vertieft, ich auf meine römischen Kupferstiche starrend, und Beide von Herzen seufzend; die chinesischen Ungeheuer aber nickten ironisch mit den Köpfen, und Madame Winter stand in der offenen Thür und lächelte fett und triumphirend über uns hin… So kam ich vor das Thor hinaus, ohne daß ich es merkte. Ging den alten, wohlbekannten Weg, am Fluß entlang, neben den Mühlen und Schleußen; – denn sie wohnen noch in der alten Wohnung vor dem Mühlenthor. Du kennst das Haus: es ist dasselbe, in dem ich meine ersten Schuljahre versessen habe. Als ich eintrat, erkannte ich sogleich die Treppe wieder, die ich früher – die Hand am Geländer – mit einem prahlerischen Satz heruntersprang. Durch die offene Hofthür sah ich auch den neugeflickten Schuppen, auf dessen Dach ich mit Anna und ihren Freundinnen in guten Zeiten gesessen und ihnen, während der Tag verdämmerte, Märchen erzählt hatte; damals war man verliebt! – Ich stand einen Augenblick draußen still, als eben die alte Tante durch ihr Küchenfenster sah und sogleich leidenschaftlich an die Scheiben klopfte. Ich blickte hinauf, erkannte die grauen Augen und die goldene Brille, – und mir war doch, Julie, als wäre ich in ein verwunschenes Märchenhaus getreten. Indessen, ich sprang beherzt (wie Du nun lachst!) die schmale Treppe hinauf. Oben stand sie schon und wartete – ich meine die Tante. Ich fühlte die herzlich drückende, kleine, magere Hand; „willkommen aus Italien!“ sagte sie nicht ohne Pathos, und ich glaube, wir waren nahe daran, uns in die Arme zu schließen.

Drinnen im Wohnzimmer hörte ich die jungen, hellen Mädchenstimmen durcheinander plätschern. Also sie ist nicht allein, dachte ich; wieder die Cousinen. Richtig, ich fand die ganze Gesellschaft aus jenen Zeiten beisammen: die kleine schnippische Schulcameradin von ehedem, an die sich damals auf Schritt und Tritt Anna’s Arm und Anna’s Herz gehängt hatten, und die beiden mittelalterlichen Cousinen, – damals noch einen Johannistrieb im Busen, aber nun vollends abgesommert. Wir hatten uns nie geliebt und ich es nie verhehlt; so machten wir auch diesmal die Begrüßung kurz und kühl, und am liebsten wäre ich gleich wieder hinausgegangen. Anna sah ohne Ueberraschung von ihrer Arbeit auf – ganz das alte, stille, ruhige Gesicht – und sagte mit einem gewöhnlichen Lächeln: „Bist Du wieder da? Ich dachte, Du wolltest erst zu Johannis kommen.“ Damit trat sie mir entgegen und gab mir die Hand; mit einer so sanften, gelassenen Freundlichkeit, wie wenn ich acht Tage über Land gewesen wäre. Ich gewann es kaum über mich, ihre Hand zu drücken. Ja, Julie, – ungern, mit einem widrigen Gefühl, setzte ich mich auf den Stuhl, den die Tante mir in aller Eile zugeschoben hatte. Die Vogelstimme der guten Alten schmetterte geschäftig um mich herum, mit tausend Fragen nach römischem Wetter und dem Papst und einem vor zwanzig Jahren verstorbenen berühmten Banditen. Die kleine Schulfreundin nahm Hut und Jacke, ging, blieb stehen, hatte noch eine Stadtgeschichte zu erzählen. Unterdessen sah Anna still auf ihre Stickerei, lächelte, wenn die Andern lachten, sah zuweilen auf und sah mich an, mit den beziehungslosen, monologischen Augen, die mich auch früher in blinderen Zeiten so oft in Verzweiflung brachten. Ich fragte, wie es ihr ergehe, sie gab die gebräuchlichen Antworten. Ich wurde endlich stumm und dachte: Und es gab eine Zeit, wo du zum Sterben verliebt warst! Nichts erinnerte mich mehr an meine alten Gefühle – nichts, als daß sie noch die einfachen, tiefen Farben trug, die ich immer so gern an ihr gesehen hatte. Ich mußte sie mit einem schnellen Blick mit den Andern vergleichen, und das ist wahr, zwischen diesen frühlingsbunten Vogelscheuchen saß sie da, wie wenn ein Künstler sie für ein Bild gekleidet hätte. Das warmbraune Kleid, der reizende Halskragen, das glühendrothe Band im dunklen Haar – die ganze Gestalt erinnerte mich an jene glücklichen Tage. Aber ich war nahe daran, wie in lautem Danke aufzuseufzen. Hier hat sich so wenig verändert, dachte ich, und du so ganz –

Eine Viertelstunde hielt ich es noch aus, dann stahl ich mich hastig davon. Die Tante hielt mich am Arm, daß sie ihn mir beinahe ausgerissen hätte: ich müsse auf jeden Fall zum Abend wiederkommen. Ich versprach Alles, um nur zu entrinnen. Diese Luft und der Anblick der Cousinen, das Geschnatter, die alten bekannten Familienköpfe an der Wand, – Alles that mir weh. Nur beim Abschied sah ich Anna noch einmal an und sah zum ersten Mal wieder ihre großen, ihre liebenswürdigen Augen – ich meine den Blick, der einst mit mir machen konnte, was er wollte. Es lag wieder der feuchte Glanz über den beiden Sternen. Mir war, als wenn ich ihr dafür danken müßte, ich drückte ihre Hand so warm, wie jener erste Druck kühl gewesen war; wir gutherzigen Menschen! – Draußen stand ich dann doch mich segnend still, athmete wieder auf, wie einer Höhle entstiegen; ich sah diese Augen nicht mehr, sah nur die Gitterfenster, die Riegel, die schwarzfeuchten Mauern, in die mir ihr Zimmer eingeschlossen schien – ihr Haus, die Straße, die Stadt – Alles, Alles.

Nein, meine liebe Julie, nicht wieder in dieses Gefängniß! Diesen Mauern, diesen Menschen, diesen Zuständen bin ich ganz entwachsen; glaube mir das. Gieb es auf, für mich zu sorgen, Dir mein Glück, meine Zukunft auszurechnen. Wer dankt Dir Deine Mühe, wenn die Rechnung nicht stimmen will? Laß mich als den Schmetterling gelten, der ich bin: an diesem Fliederbusch find’ ich nun nichts mehr zu saugen und flattere weiter.

Könnt’ ich nur, bis ich weiter flattere, hier wenigstens einsam sein! Aber die guten, aufdringlichen Leute! – Am liebsten geh’ ich noch, wenn ich mich über meinen Büchern müde gedacht habe, allein in den Tannenwald, der vor dem Mühlendamm neben der Landstraße ansteigt. Mein alter Freund, Julie: dort hab’ ich früher so oft auf der platten Erde zwischen Nadeln und Zapfen gelegen und den Himmel angeträumt oder den summenden Hummeln meine schwermüthigen Verse vorgetragen. Von dort sieht auch die Stadt recht freundlich aus, mit den hohen Thürmen, und wie sie ihrem alten See das Kinn streichelt, der ihr dafür die dachziegelrothen Füße bespült. Ich habe sie gestern gezeichnet, es war noch ein Blatt in meinem italienischen Skizzenbuche leer; – hernach mußte ich lachen, wie sich meine gute Vaterstadt neben den wilden, grauen Bergstädten, den hohen Klöstern, den buschigen Felsen ausnahm. Aber sowie ich dann ein paar Schritte weiter ging, war’s mit der Einsamkeit aus. Irgend ein verzweifelter Bankerotteur ist auf den Einfall gekommen, an der jungen Tannenschonung, ein paar Schritte von der Landstraße, eine „Einsiedelei“ anzulegen: hölzerne, mit Moos belegte Hütten, Tische und Bänke im Freien – kurz, eine Bier- und Kaffee-Wildniß für unsere gute Stadt. Da ziehen nun Bierbrüder, idyllische Sonntagsfamilien und Kindermädchen hinaus und verderben mir die Einsamkeit.

Doch dieser dritte Bogen ist auch schon wieder zu Ende; klappen wir zu, der Brief ist überlang! Du kennst meine alte Schwäche, entweder gar nicht zu schreiben, oder lang wie ein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 786. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_786.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)