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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Zeit gern The Hengist of Railways zu nennen und mit Freuden zu sehen, wie ihrem „Eroberer des Eisenbahnwesens“ auch fürstliche Reichthümer zuströmten, daß die Wahl der Nation ihn in’s Parlament berief, die Königin ihm Gelegenheit bot, stolz-bescheiden die Ernennung zum Baronet abzulehnen, und so den großen Landsmann auch der Glanz, der der Größe gebührt, umgab. Stephenson reiste, wenn er durch England fuhr, auf allen Stationen von ehrerbietig wartendem Personal der Bahn, stolz auf ihn blickendem Publicum begrüßt, mit wahrhaft fürstlichem Geleit; zur See in mit allem Luxus, den Geschmack, Technik und Reichthum vereinigen können, ausgestatteter eigener Yacht.

Diese Yacht erlangte ihrer Zeit eine Berühmtheit durch die Munificenz, mit der sie ihr Besitzer der astronomischen Expedition, die 1850 der Astronom Piazzi Smith nach dem Pik von Teneriffa unternahm, ein volles halbes Jahr lang auf seine eigenen Kosten zur Verfügung stellte und so das Zustandekommen dieser so erfolgreichen Unternehmung möglich machte.

Meine schon 1844 angeknüpften Beziehungen zu dem großen Manne hatten sich nie ganz gelöst, und in mancher bedeutsamen Frage war ich glücklich genug gewesen, sein gewichtiges Urtheil herbeiziehen zu können. Stephenson’s Rathschläge waren stets die eines bedeutenden Menschen. Sie bezogen sich fast niemals, eng und klein, auf einen vereinzelten Fall, sondern sie deckten immer eine ganze Kategorie von Vorkommnissen und sind mir stets werthe und zuverlässige Vorbilder und Geleiter geblieben. Diese Beziehungen sollten mit etwas anderem Localtone im Jahre 1851 durch einen Brief seines Freundes Lindley, dem Hamburg seine unvergleichlichen Sielbauten verdankt, aufgefrischt werden. Lindley hatte mir diesen Brief mitgegeben, als ich, um die erste große Industrie-Ausstellung und die Britannia-Brücke zu sehen, im August 1851 nach England ging. Stephenson war unwohl, auf dem Lande, von London abwesend, als ich an seinem prächtigen Hotel in Grosvenor-Square vorsprach. Doch ließ ich den Brief zurück. Schon gab ich es auf, den Verehrten bei diesem Aufenthalt in England wieder begrüßen zu können; da erhielt ich ein Billet von seinem General-Agent, „alterego“ und „factotum“ Starbuck, der mir anzeigte, der Meister werde am 8. September in Bangor an der Britannia-Brücke sein.

Natürlich änderte sich nach dieser Notiz mein ganzer übriger Reiseplan, und am siebenten flog ich durch das im ganzen saftstrotzenden Schmucke eines englischen Hochsommers leuchtende Wales dahin, den riesigsten und kühnsten Werken der neuen Ingenieurkunst, den Eisenbrücken bei Conway und Bangor zu. Beide bilden feste Eisenpfade über Meeresarme in Form viereckiger, aus starkem Eisenblech zusammengenieteter, mächtig verrippter Tunnels, die mit ihren Enden auf den Pfeilern ruhen und durch welche die Züge mit einem Dröhnen und Donnern hinschießen, das sich zu dem Lärm, den sie in einem gewöhnlichen Tunnel erregen, verhält, wie ein Schlag auf einen Tamtam zu dem auf einen Stein. Zu dem Staunen über die Gewalt des Genius, der den Gedanken zu diesem Riesenwerk empfing und ausbildete, gesellte sich schon beim Anblick der kleineren Brücke bei Conway die Bewunderung für den zarten Respect, den der Meister bei seinem Baue vor der Schönheit der Natur an den Tag gelegt hat. Fast unter der prachtvollen Ruine des alten Conway Castle, an deren majestätischen alten Rundthürmen die feuchte Seeluft weithin wehenden, tief herabhängenden, grünen Epheu hegt, führt seine mächtige Brücke hin – und kein Epheublatt hat der Meister bei seinem Riesenbaue knicken lassen! Sorgsam ist der Fels gehöhlt und wieder untermauert worden, um da oben Nichts von der alten Herrlichkeit zu stören. Er war eben der Sohn des Mannes, der in eine gerade Eisenbahnstrecke eine schlanke Curve legte, weil er es nicht über’s Herz bringen konnte, eine gar zu schöne Eiche niederschlagen zu lassen, die in der Richtung derselben lag. Welch Beispiel für so viele unserer Techniker, deren Gesinnung sich oft so barbarisch zeigt, wie die eines Sappeurs, wenn das unwichtigste Organ ihrer Wunderwerke mit der Existenz von irgend etwas Schönem der Welt in Conflict kommt! Ich fand in Bangor die Stadt voll der Nachricht, daß der Meister des gigantischen Baues, der sich dort, dicht vor der Stadt, thurmhoch über das blaue brausende Meer nach der Insel Anglesea hinüberstreckt, am kommenden Morgen dort eintreffen werde.

„Wissen Sie?“ fragte mich beim Gruße gleich die Wirthin des George-Hotel, „der große Ingenieur kommt morgen!“ Sie nannte keinen Namen, ich war ein Gentleman – ich mußte ja wissen, daß kein Anderer als Stephenson gemeint sein könne. Ein angenehmer Schotte, mit dem ich dinirte, äußerte: „Wir werden morgen die Brücke sehen, – das ist merkwürdig – aber Jeder kann sie sehen. Aber wir werden auch die Personification des Zeitgeistes, wir werden Stephenson sehen, und das ist Glück!“ Und wie bin ich am andern Morgen von den Ladies and Gentlemen beneidet worden, die sich an der Britanniabrücke versammelt hatten, „um den großen Mann zu sehen“, da ich an seiner Seite nach Bangor zurückschreiten durfte! Im hellsten Sonnenglanze des nordischen Sommers ging ich am folgenden Tage, von einem Brückenwächter geleitet, auf dem Dache der unabsehbaren Riesenröhre dahin, um Stephenson zu suchen, der „irgendwo auf der Brücke“ sein sollte.

Schwindelhoch, thurmhoch und in der That auf den schlanken Thürmen der Pfeiler ruhend, liegt das zweihunderttausend Centner schwere, gewaltige Eisenrohr über dem vierzehnhundert Fuß breiten Arme des St. Georgs-Canals, der die Insel Anglesea von der Westküste von Wales trennt. Selbst wie eine Schöpfung, die nur der Allmacht gelingen zu können scheint, steht das Bauwerk ohne Gleichen, mit feinem Formensinn, seiner ungeheuern Gliederung gemäß, aus Elementen ägyptischen Styls in hohem Ernste aufgebaut, an beiden Ufern von riesenmäßigen Sphinxen bewacht, in der tiefblauen Meeresfluth zwischen paradiesischen Küsten. Mitten auf der Hauptröhre stehend, erschüttert von dem vor mir entrollten Bilde, entfuhr mir der Ausruf: „Ist die Welt wirklich so schön? ist der Mensch so werth, sie zu bewohnen?“ Tief drunten die tiefazurne, mit weißem Schaum um die Brückenpfeiler brandende Fluth und auf ihr vor der frischen Morgenbrise hingleitende sanftgeneigte, schwellende Segelmasten tragende Schiffe. Wie die Vögel des Himmels schauen wir von der Himmelhöhe der Brückenröhre hinab auf das schlanke Spierenwerk der darunter hinrauschenden Dreimaster. Vor uns stehen die zauberisch feinen, streng geometrischen und doch so unnachahmlich graziösen Linien von des großen Telford Wunderwerke, der Menai-Kettenbrücke, die, nur eine Viertelmeile von der Britanniabrücke entfernt, die Chaussee seit dreißig Jahren über dieselbe Meerenge führt, über welche die letztere die Eisenbahn trägt. Von welch großer anregender Wirkung ist der Contrast der Formen dieser beiden Meisterstücke der neuern Brückenbaukunst, die der Blick gleichzeitig umfaßt! Feenhaft fein, wie aus Sonnenfäden gewebt, bogig, leichtgeschwungen, scheint die Brücke Telford’s über dem Wasser zu schweben, während Stephenson’s Bau massig, gewaltig, unerschütterlich in scharfen, geraden Linien und Kanten darüber her ruht und sie mit unermeßlichem Gewichte bedrückt und beherrscht. Rechts von beiden Brücken heben sich, hinter einem Vorlands wie ein Garten Gottes voll wundervollen Baumschlags, goldenen Feldern und lachenden Villen, die nobeln Linien des höchsten Berges in England, des Snowdon, im ganzen Zauber der feinblauen Luftperspective der englischen Küsten, und der Meeresarm öffnet sich breit und azurn sonnig hinaus in das offene Meer, während links, sanft lehnan in prachtvoller Bewaldung, so frischgrün, wie auch nur an den Küsten Englands möglich, das Anglesea-Ufer ansteigt, von der Brandung mit feinen, scharfen weißen Linien eingegürtet.

Welche Gewalt des Culturdranges der Menschheit, die solche Wege über das Meer legt! Welche Provinzen, die sie vereinen!

Ist die Welt so schön? Strebt der Mensch so stark zum Menschen?

„Mr. Stephenson erwartet Sie an der Ostseite der Brücke,“ sprach uns ein Clerk an, während ich und der junge Schotte, der sich mir angeschlossen hatte, einen Augenblick schauend standen. Rasch schritten wir auf der Röhre, dann auf dem Gerüst hin, das damals noch hier und da an der Brücke angebracht war, und indem wir das Piedestal eines der ungeheuern, die schwarzgähnende östliche Oeffnung der Röhre, wie den Eingang zu einer Pyramide, bewachenden Sphinxe umschritten, befanden wir uns plötzlich Angesicht gegen Angesicht mit dem großen Meister, der mit Edwin Clark und noch einigen seiner Jünger und Beamten zwischen den riesigen Pranken des ruhenden Ungeheuers stand. Er hatte die Ellenbogen auf eine dieser Tatzen gestützt, den Hut abgenommen und schaute nach seinem Werke empor. In diesem Blick auf das vollendete Wunderwerk lag weder Enthusiasmus noch heiteres Genügen, sondern nur ernstes auf sich beruhendes Erwägen, objectives Schauen des Gethanen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_074.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)