Seite:Die Gartenlaube (1868) 123.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Mangel; selbst wir jüngeren Juristen bedurften einer langen Zeit, ehe wir in diesem Chaos heimisch wurden.

Wie männiglich bekannt, hat der preußische Jurist die Ehre, dem Staate fünf bis zehn Jahre unentgeltlich zu arbeiten; dafür darf er das Gericht wählen, an dem er beschäftigt sein will, und wer das Berliner Stadtgericht ausersieht, thut wohl daran. Denn nirgends bietet sich eine solche Fülle von Rechtsfällen der interessantesten Art, wie hier. Ich habe allen Abtheilungen angehört und kann wohl sagen, daß noch jetzt jeder Tag zu neuen Beobachtungen Stoff bringt. Wer also von den Lesern der Gartenlaube ein wenig hinter die Coulissen des Berliner Lebens schauen möchte, den bitte ich, mich zu begleiten. Beginnen wir mit dem Molkenmarkte, wo die strafende Göttin der Gerechtigkeit, die Binde über beiden Augen, ihren Wohnsitz aufgeschlagen hat, allerdings mit ziemlich schlechtem Geschmacke, falls nicht besagte Binde die Schuld daran trägt. Die Gebäude selber sind so enge und finster, wie nur irgend möglich, in den Zimmern herrscht eine Atmosphäre, die aus einer Mischung von Actenstaub und Gefängnißluft besteht und füglich Criminalparfüm genannt werden könnte, da es noch an einem technischen Ausdrucke dafür fehlt. In diesen Räumen habe ich ein volles Jahr zugebracht und so manchen heiteren, aber auch verzweifelt ernsthaften Criminalfall kennen gelernt, die erstere Art vorzugsweise auf der Commission für sogenannte Uebertretungen.



Unsere Criminalstatistiker stellen bekanntlich den Satz auf: In den Städten wächst die Zahl der Verbrechen analog der Zunahme der Bevölkerung. Das mag richtig sein, wo es will; in Berlin steht aber die Sache so, daß seit etwa zwanzig Jahren die Bevölkerung um ein Drittel gewachsen ist, die Verbrechen dagegen sich zweimal verdoppelt haben. Worin diese traurige Erscheinung ihren Grund hat, kann hier nicht erörtert werden; sie wird den Leser aber Ahnen lassen, welch’ ein kolossaler Apparat dazu gehört, ein solches Material zu bewältigen. Will er auch den äußeren Eindruck gewinnen, so muß ich ihn schon bitten, sich mit mir zwei Treppen hoch nach der Commission für Voruntersuchungen zu bemühen und sich auf düstere, angreifende Scenen gefaßt zu machen.

Wir betreten einen langen, schmalen Corridor, der durch eine eiserne Thür von den Gefängnissen der Stadtvogtei getrennt ist und scherzweise die Kegelbahn genannt wird. Diesen Gang, auf dem die Zimmer für etwa dreißig Untersuchungsrichter liegen, passiren sämmtliche Verbrecher Berlins, in jenen Zimmern habe ich die schwere Kunst des Inquirirens geübt, nach der ich mich, offen gestanden, nicht zurücksehne. Es gehören starke Nerven und eine langjährige Gewohnheit dazu, bei allem Elende unberührt zu bleiben, welches uns hier Schritt für Schritt entgegenkommt. Man sieht die fahlen Gesichter der Untersuchungsgefangenen, die zum Verhöre geführt werden, man hört das Geschrei derer, die, zum ersten Male zu schwerer Strafe verurtheilt, nach den Gefängnissen zurückwandern, und ist empört über die schlechten Witze der Schließer, welche den Transport bewerkstelligen. Mich beschleicht jedesmal ein unbehagliches Gefühl, wenn ich an meine Lehrzeit in jenen Räumen zurückdenke; schon der erste Tag hatte mir diese Beschäftigung verleidet. Ein hübscher, intelligenter, junger Mann von anständiger Familie war in schlechte Gesellschaft gerathen; junge Leute mit vornehm klingenden Namen hatten ihn an ihren Ausschweifungen Theil nehmen lassen und seine vom Vater sehr liberal ausgestattete Börse derartig geplündert, daß er sich zu kleinen, nach und nach immer höher werdenden Veruntreuungen aus der Casse seines Principales hinreißen ließ und endlich zu dem letzten Mittel, der Wechselfälschung, griff, die ihn vor den Untersuchungsrichter brachte. Die Reue und die Verzweifelung des jungen Mannes waren grenzenlos, und das Elend seiner allgemein geachteten Eltern läßt sich nicht beschreiben. Er verfiel einer langjährigen Gefängnißstrafe, die er noch in der Stadtvogtei verbüßt.

So hatte ich Gelegenheit, lange mit ihm zu verkehren und sein im Grunde gutes Gemüth kennen zu lernen. Eine vorzügliche Führung im Gefängnisse trug ihm die Vergünstigung ein, seine Familie alle vierzehn Tage sehen zu dürfen; dieser Besuche, die oft unter meiner Aufsicht stattfanden, werde ich immer gedenken. Sie haben mir die volle Ueberzeugung verschafft, daß der junge Verbrecher, dem nur das Gesetz nicht verzeihen durfte, dereinst ein achtbares Mitglied der Gesellschaft sein wird. Möge er mir nach abgebüßter Strafe die Freundschaft erhalten, welche er mir während derselben bewiesen hat, und diese Zeilen als Dank dafür ansehen.

In den Untersuchungsgefängnissen sind stets siebenhundert bis achthundert Gefangene detinirt, zu denen die Herren Langfinger natürlich das Hauptcontingent stellen. Ein hervorragendes Mitglied dieser ehrenwerthen Gilde, mit dem ich lange herumexperimentiren mußte, ehe er ein Geständniß ablegte, hat mich gegen Belohnung mit Schnupftabak, den die Gefangenen bekanntlich sehr lieben, und mit Butterbroden mit der inneren Verfassung seiner Corporation bekannt gemacht. Was ich davon behalten, will ich hier kurz erzählen.

Mein „Machulke“, denn dies ist der technische Ausdruck für Strafgefangene, besaß außer seinen Standeseigenschaften, von denen Schweigsamkeit nicht die letzte war, einen außerordentlich gesegneten Appetit, für welchen die schmale Gefängnißkost niemals hinreichte. Als ich einmal mit ihm in meinem Zimmer verhandelte, sah er die belegten Butterbrode, aus denen mein Frühstück bestehen sollte, so sehnsüchtig an, daß ich sie ihm offerirte und ihm für die Zukunft dergleichen mehr versprach unter der Bedingung, mir seinen Lebenslauf mitzutheilen. Kauend begann er: „Bis zu meinem dreiundzwanzigsten Lebensjahre war ich unbestraft; ich diente damals bei einem hiesigen Regimente und hatte nur noch ein Jahr meiner Militärzeit vor mir, als mich das Unglück ereilte. Von einer anstrengenden Marschübung in die Caserne zurückgekehrt, hatte ich kein Brod mehr, denn alle vier Tage ein Commißbrod war für meinen Appetit viel zu wenig. So brachte mich der Hunger dazu, einem Cameraden ein Stück Brod zu entwenden. Dies wurde entdeckt und vom Unterofficier, der mich nie leiden mochte, trotz aller Bitten meiner Cameraden gemeldet. Ich kam sechs Monate auf die Festung und in die zweite Classe. In das bürgerliche Leben zurückgekehrt, verwandte ich die kleine Summe, welche ich von meinen inzwischen verstorbenen Eltern geerbt hatte, dazu, ein kleines Schankgeschäft zu kaufen. Mein Erwerb ging so gut, daß ich heirathete und mir eine recht zufriedenstellende Existenz gründen konnte, wenn die Polizei nicht hinter meine Bestrafung gekommen wäre. Mir wurde die Concession entzogen – und so war ich ein Bettler. Denn so gern ich arbeiten wollte, kein Mensch mochte mich nehmen, nachdem meine Vergangenheit bekannt geworden. Der geringe Erlös aus meinem kleinen Waarenbestande war bald verzehrt; ich selbst fiel dem Laster in die Arme. Es fanden sich Bekannte aus der Strafsection, mit denen ich zusammen ,Geschäfte machte’.“

„Womit fingen Sie denn an?“ unterbrach ich ihn.

„Wir waren ,Schottenfeller’,“ erwiderte er, „wir räumten die Waschböden auf und machten dabei sehr gute Geschäfte, wohl über ein Jahr lang.“

„Nun, und wie kamt Ihr damit zu Ende?“

„Wir schärften (hehlen, verkaufen) damals die Söge (gestohlenes Gut) bei dem bekannten ,Galgenkönig’; es dauerte aber nicht lange, so brannten die Lampen (die Polizei entdeckte den Hehler), und der Galgenkönig pfiff (gestand) Alles. Ich bekam zwei Jahre Zuchthaus und der Galgenvogel sechs Jahre, worüber ich mich noch heute freue. In Brandenburg lernte ich einen Drücker (Taschendieb) kennen, der mich überredete, mit ihm Geschäfte zu machen, wenn wir wieder nach Hause kämen.“

„Das verstanden Sie ja aber nicht!“

„O Herr Referendar, darin haben wir uns geübt; er zeigte uns Alles, besonders das Uhrendrücken.“

„Wie kann man sich denn dagegen schützen?“

„Nur dadurch, daß man einen zugeknöpften Ueberrock trägt. Wir haben eine kleine, haarscharfe Zange, mit der wir uns unbemerkt heranschleichen und die Kette dicht am Knopfloche durchschneiden. Wenn sie dann herunterhängt, so ziehen wir damit die Uhr heraus. Einmal sprang sie mir ab und ich wurde gefaßt. Dafür habe ich fünf Jahre im Zellengefängniß abgemacht. Wenn ich jetzt nur nicht wieder dahin käme! Als ich wieder draußen (in Freiheit) war, traf ich den Galgenkönig abermals, der mir Leute zuführte. So haben wir denn zwei Jahre lang Geschäfte gemacht, ich und die von hinten (seine gleichfalls in der Stadtvogtei befindlichen Complicen) als Macha (practicirende Diebe); der Galgenkönig hat baldowert (die Gelegenheit zu Diebstählen ausgekundschaftet), und jetzt will sich der Gannew (Schurke, Verräther)

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_123.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)