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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Wenn man mit Recht von Tausenden spricht, welche den herrlichen Thieren ihr Leben zu verdanken haben, so ist das nicht so zu verstehen, als ob durch ihre Vermittlung schon so Viele unter Lawinen hervorgegraben worden wären. Sie finden aber Verirrte auf, die halberstarrt am Wege liegen oder, am Weiterkommen verzweifelnd, unter Schutzdächern oder Felsenvorsprüngen sich zum letzten Schlaf ausstrecken; sie belecken und erwärmen die Halberstarrten, muntern sie durch freudiges Bellen zum Weitersteigen auf und rufen Hülfe herbei, wo ihr Beistand nicht ausreicht. Die tiefen Fährten, welche sie im Schnee zurücklassen, haben schon Manchen, wie die weißen Kieselsteine im deutschen Märchen, den Weg zu den gastlichen Räumen des Klosters gewiesen. Auch ihr beständiges lautes Bellen bei diesen Streifzügen hat schon viele Verirrte aus Todesnoth gerettet. Wenn man den Eifer sieht, mit welchem die herrlichen Thiere diese Wanderungen antreten, die ungestümen Sprünge, mit denen sie zum Kloster hinstürmen, wenn sie Hülfe herbeiholen müssen, und den Triumph, mit welchem sie die Geretteten in’s Hospiz geleiten und die Liebkosungen für ihre Leistung entgegennehmen, so muß man mit Unwillen die Theorie derjenigen zurückweisen, die für das Handeln der Thiere nur die gemeinsame Triebfeder des Instinctes annehmen. Nie ist eine geistlosere und albernere Hypothese in der Geschichte der Naturwissenschaften aufgestellt worden, als die Theorie des Instinctes. Wer möchte bei dem, was Tschudi in seinem „Thierleben der Alpenwelt“ über Barry sagt, noch von Instinct sprechen?

„Das unermüdlich thätige und treue Thier rettete mehr als vierzig Menschen das Leben,“ heißt es darin. „Sein Eifer war außerordentlich. Kündigte sich auch nur von ferne Schneegestöber oder Nebel an, so hielt ihn nichts mehr im Kloster zurück. Rastlos suchend und bellend durchforschte er immer von Neuem die gefahrvollsten Gegenden. Seine liebenswürdigste That während des zwölfjährigen Dienstes auf dem Hospiz war folgende: Er fand einst in einer eisigen Grotte ein halberstarrtes, verirrtes Kind, das schon dem zum Tode führenden Schlafe unterlegen war. Sogleich leckte und wärmte er es mit der Zunge, bis es aufwachte; dann wußte er es durch Liebkosung zu bewegen, daß es sich auf seinen Rücken setzte und an seinem Halse sich festhielt. So kam er mit seiner Bürde triumphirend in’s Kloster.“

Das Convict auf dem Sanct Bernhard hat in der Regel zehn bis zwölf Hunde, nie so viele, wie man eigentlich bedürfte. Thiere mit langen Haaren oder solche, die sonst Fehler darbieten, werden verschenkt oder verkauft.

Die Luft auf dem großen Sanct Bernhard ist ungewöhnlich rauh; das Thermometer steigt im Hochsommer nie über sechszehn Grad Réaumur und fällt im Winter bis auf siebenundzwanzig Grad R. unter Null. Vollkommen klare, nebelfreie Tage giebt es höchstens fünfzehn im Jahre. Immer sind die Nächte rauh, so daß der hinter dem Hospiz, der italienischen Seite zu, gelegene kleine Alpensee in manchen Jahren nie aufthaut. Die mittlere Temperatur stimmt nach sorgfältigen meteorologischen Beobachtungen mit derjenigen von der Südspitze von Spitzbergen überein.

Es ist bei diesen Verhältnissen klar, daß nur wenige Thiere in dieser rauhen Bergeshöhe sich akklimatisiren, und man versteht die Liebe und ängstliche Sorgfalt, welche die Conventualen auf die Zucht und Erhaltung der braven, wunderbar begabten Thiere verwenden, der eigentlichen Pfadfinder des Urgebirgs.

R.




Der moderne Prometheus auf der Anklagebank.

Geschichtliche Scene von Ludwig Storch.

Es giebt Tage im Leben der Menschheit, an welchen sich irgend eine dem Anscheine nach unbedeutende Begebenheit vollzieht, auf die Niemand ein besonderes Gewicht legt, und eine Scene vorfällt, welche mit dem Gange der Ereignisse in keinem innern Zusammenhange zu stehen scheint, und diese Tage nehmen in der Folgezeit doch, man möchte sagen täglich und stündlich, an historischer Wichtigkeit zu, sie wachsen immer bedeutender in die Geschichte hinein, bis sie den Nachkommen als leuchtende Heilstage erscheinen, wo eine großartige Geistesbefruchtung in der Stille vollzogen wurde, und zuletzt als große Nationalfesttage von allem Volke gefeiert werden.

Ein solcher Tag ist der 29. Januar 1774. Es wurde an diesem Tage keine große Schlacht geschlagen, kein bedeutender Mensch geboren, keine wichtige Entdeckung gemacht, es geschah nichts weiter, als: ein einfacher anspruchsloser Gelehrter, ein edler Mensch und verehrungswürdiger Greis wurde vor dem obersten Gerichtshof Englands von einem gemeinen, frechen und übermüthigen Rabulisten zum größten Gaudium der vornehmen Richter öffentlich geschmäht und mit Koth beworfen, und der Verunglimpfte schwieg zu der ihm angethanen brutalen Ehrenkränkung. Das war Alles.

Und doch steht dieser Tag bei den auf ihre Freiheit und ihre wachsende Macht stolzen Bürgern der nordamerikanischen Union als einer von denen, an welchen die Saatkörner der republikanischen Freiheit, des Glückes und Wohlstandes und der politischen und moralischen Größe ihres Vaterlandes ausgestreut wurden, bereits in hohem Ansehen und wird einst, wenn die aus jener Saat emporgewachsene Frucht zur höchsten und schönsten – jetzt kaum geahnten – Herrlichkeit gediehen sein wird, als ein politisch-moralischer Siegesfesttag gefeiert werden zum tröstlichen Beweis für alle vergewaltigten edlen Menschenherzen, daß wahre Tugend und echte Humanität, wenn auch erst von Gewalt und List niedergehalten und in der Entfaltung ihrer Kräfte gestört, zuletzt doch ungehemmt ihren Triumphzug zum hohen Ziele halten, Freiheit durch Wahrheit und Gerechtigkeit.

Georg der Dritte war 1760 als zweiundzwanzigjähriger Jüngling seinem Großvater Georg dem Zweiten als König von Großbritannien und Irland gefolgt. Er war weder von Haus aus ein guter Mensch, noch hatte er eine gute Erziehung erhalten. Wer die tiefer liegenden Fäden, aus welchen sich die Schicksale der Völker zur Weltgeschichte zusammenweben, mit scharfem Auge verfolgt, darf die Behauptung aussprechen, so paradox sie auch klingen mag: im herzoglichen Residenzschlosse zu Gotha und mehr noch in dem längst verödeten Lustschlosse Friedrichswerth, zwei Stunden nordwestlich von Gotha, liegen die ersten Saatkeime und von da laufen die ersten zarten Wurzeln der nordamerikanischen Freiheit aus. Hier wuchs nämlich Auguste, Tochter des Herzogs Friedrich des Zweiten von Gotha, unter den Augen ihres Vaters auf, dessen ultraabsolutistische Grundsätze sie, die selbst beschränkten Geistes war, einsog, um sie nachher, als sie die Gemahlin des Prinzen Friedrich Ludwig von Wales und Mutter und Vormünderin des schon im zwölften Lebensjahr vaterverwaisten Prinzen Georg geworden war, auf diesen überzutragen. Wenn man die Charaktere, Liebhabereien und Bestrebungen jenes Herzogs von Gotha, eines geradezu lächerlichen Halbgotts und aufgeblasenen Affen des vierzehnten Ludwig’s von Frankreich, und seines Enkels, des Königs von Großbritannien, vergleicht, so wird man die Aehnlichkeit überraschend finden und den psychischen und physischen Zusammenhang Beider zugeben müssen.

Die absolutistisch stolze Prinzessin von Wales suchte unter allen englischen Lords den absolutistisch geartetsten zum Erzieher ihres Sohnes aus, Lord Bute, unseligen Andenkens, und so wurde der Prinz mit jenem Haß und jener Verachtung der freien Institutionen des englischen Volkes erfüllt, dessen constitutioneller König er werden sollte und dessen absoluter König zu werden er mit Zustimmung seiner Mutter und seines Erziehers ein starrsinniges verwegenes Verlangen zeigte. Am meisten war ihm der kecke jugendliche Freiheitsgeist der englischen Colonien in Nordamerika zuwider, und in dieser Antipathie wurde er von der in den beiden Parlamentshäusern sitzenden hohen Aristokratie des Landes bereitwilligst secundirt. Die Lords waren mit dem Könige einverstanden, daß dieser „frevelhafte“ amerikanische Geist auf jede Weise gebrochen und gedemüthigt werden müsse, und die zu jeder Gewaltthat geneigte Regierung wählte dazu jene verkehrten Mittel, welche noch immer in der Weltgeschichte zum Gegentheil dessen geführt haben, was sie bezwecken sollten; sie setzte gewissenlose gewalttätige Statthalter in die Provinzen, die im Geheimen angewiesen wurden, die Constitutionen derselben durch alle erdenklichen Mittel zu beseitigen, wenigstens illusorisch zu machen. Diese Werkzeuge der nach absoluter Herrschaft in Amerika lüsternen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_137.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)