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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

so nennen sie es nicht so. Ich schenkte einem Freunde eine Büchse voll Kieler Sprotten und lobte sie ihm sehr. Er versprach auch wirklich, sie zu versuchen, aber nach langer Zeit fand ich, daß er keine einzige angerührt und sie alle hatte verderben lassen. Geräucherten Lachs rösten sie vor dem Feuer. Unglaublich, aber leider wahr! Spickhäringe werden nur geröstet gegessen! Spickaale rühren sie nicht an. Rohen Schinken – westfälischen Schinken halten Manche für Bärenschinken, wie er in einigen Schulbüchern aufgeführt wird, – geräucherte Schlackwurst Spickgans – „welch ein Gräuel, das Alles ungekocht zu essen; die Deutschen sind doch rechte Barbaren!“ Die Anschovis in Oel, die in hermetisch verschlossenen Blechbüchsen herüber kommen, haben sich dagegen eingebürgert, als wären sie gekocht, was Viele zur Beruhigung ihres Gewissens glauben.

Ein Bekannter von mir und ein werther Freund und Genosse dieses Exils versüßte sich dasselbe und heirathete eine Engländerin.

„Sie ist ohne alle Vorurtheile, verlangt nicht einmal, daß ich mit ihr in die Kirche gehen soll.“

„So? Ißt sie denn auch geräucherte Delicatessen?“

„Natürlich!“

Aber er irrte sich. Als ich ihm einen Spickaal aus Hamburg mitbrachte, erschrak sie vor dem Gedanken, daß er genießbar sein sollte, und er mußte ihn allein verzehren. So lange Ich das Vergnügen gehabt, mit ihr gelegentlich zu Tische zu sein, hat sie nichts Geräuchertes angerührt, das nicht vorher geröstet gewesen wäre oder wovon wir nicht gewissenloser Weise versichert hätten, es sei vor dem Räuchern gekocht worden, zum Beispiel von der Braunschweiger Wurst.

Einmal traf mich ein englischer Freund vor einem Teller saurer Milch. Ich bot ihm auch einen an. „Verdorbene Milch? Pfui!“ rief er aus, und er ist sonst ein artiger und freisinniger junger Mann, ein Dissenter von den Dissenters, wie der brave John Bright. Man sollte denken, es wäre doch Einer zu verführen, einmal geräucherten Lachs oder westphälischen Schinken zu kosten; aber nein! Sie sind darin, wie die Juden, es ist ihnen buchstäblich ein Gräuel. Und nun vollends die Froschkeulen! Die Franzosen gelten für halbe Cannibalen, daß sie sie essen. „Die gräulichen Froschfresser, die Franzosen!“ sagen die Engländer. Die Franzosen sind so boshaft, ihnen nachzusagen, die meisten Froschkeulen in Paris würden von Engländern verzehrt, aber zu Hause leugneten sie es. Man muß sich nur wundern daß sie frische Austern essen, die doch sicherlich nicht gekocht aus der See kommen. Ebenso muß man sich wundern, wie sie alle die Häringe unterbringen, die an ihren Küsten gefangen werden, da sie durchaus keine gesalzenen Häringe essen, sondern sie erst alle anräuchern, nachdem sie gesalzen sind, und dann rösten. Dagegen essen sie bekanntlich rohen Sellerie, und die lang aufgeschossenen zarten Salatblätter tunken sie oft nur in Salz. Unser Kopfsalat soll, nach England verpflanzt, in einigen Jahren sich als solchen Blättersalat naturalisiren; auch der Sellerie wächst üppiger in diesem feuchten Klima. Seacale, Seekohl, ist mir nur hier vorgekommen; er ißt sich wie Spargel und wird meist ohne unmittelbaren Zulaß der Sonnenstrahlen gezogen. Den Spargel läßt man grün aufschießen; doch findet man ihn auch wie bei uns gezogen und gestochen.

Der Engländer ißt sehr regelmäßig, er macht sich mehr zum Sclaven der Uhr, als wir. Seine Tischsitten sind abweichend. Die Tischgenossen finden verschiedene Schüsseln vor sich, von denen aus sie sich gegenseitig vorschneiden oder vorlegen; Jeder findet ein Salzfaß neben sich; Port und Sherry werden herumgeschoben. Bei großen Gesellschaften treten Kellner und Bediente ebenso auf, wie bei uns. Man ißt mit der Linken und führt nur die Gabel zum Munde; das Messer an die Lippen zu bringen, ist barbarisch. Fisch ist mit Brod in der Linken und der Gabel in der Rechten zu essen. Der Pfeffer ist in einer Streubüchse, es wird sogar Cayennepfeffer genommen; jedes Salzfaß hat seinen Löffel; eigene Buttermesser, eigene Brodmesser, hölzerne Brodteller; jede Weinart hat eigene Gläser, es giebt also Portgläser, Sherrygläser, Claretgläser, Hockgläser (Gläser für Rheinwein), Champagnergläser; natürlich auch eigene geschliffene Flaschen, Decanters, zu jeder Weinart. Unbegreiflich ist es mir bis jetzt geblieben, wie man nach dem Champagner Porter trinken kann, der schäumend in vergoldeten Bechern herumgegeben und nicht verschmäht wird. Es gehört überhaupt eine heroische Anstrengung dazu, so etwas wie Porter zu trinken, aber die Sitte setzt es durch, gerade wie das noch viel unbegreiflichere Tabakrauchen, welches, beiläufig gesagt, hier noch sehr unter dem Druck der Damen liegt, die den „Gestank“, wie sie sich fanatisch ausdrücken, in den Wohnzimmern durchaus nicht dulden.

Wenn man unter das englische Volk kommt, ist man höchst angenehm überrascht von den vielen eigenthümlichen Charakteren, und, ihnen gegenüber, von einem unerschöpflichen Humor und Witz, der, vornehmlich in Volksversammlungen, meistens sehr schlagend zum Vorschein kommt. Als Edwin James, der berühmte Advocat, sich für den Londoner District Marylebone in’s Parlament wählen ließ, sagte er: „Ich kann in Euer Viertel ziehen, ich bin unverheiratet.“ – „O, Du alter Sünder!“ unterbrach ihn einer von den Wählern. Mit diesem Humor anglisiren sie sogleich das Fremde und wenden Einheimisches in Witzworte um. So heißt der Corso des Königs in Hydepark, Route du Roi, jetzt Rotten row, faule Allee, und die Buffetiers des Königs Beefeaters (Rindfleischesser), der Omnibus ist der Bus und sein Kutscher der Bustreiber, D. D., Doctor of Divinity, d. h. der Theologie, liest das Volk gottloser Weise Double Donkey, Doppelesel.

Fast alle Thiere werden bei menschlichen Vornamen genannt, wie Tom Cat, Thoms der Kater, Billy goat, Wilm der Bock etc. Ganz merkwürdig ist die Titulatur mit bloßen Buchstaben. So heißt M. P. Member of Parliament; man sagt aber auch wirklich: er ist M. P., D. D., L. D., Doctor Juris, M. D., Doctor der Medicin, indem man nur die Buchstaben ausspricht. Ueber Sir Loin und Baron of beef haben wir schon gesprochen. Hochheimer und nach ihm alle Rheinweine sind Hock, Xeres und darnach alle spanischen Weißweine sind Sherry, Oporto und aller iberische Rothwein ist Port. Porter beißt the heavenly wet, das himmlische Naß; Old mild, nämlich Ale alt und milde, ist Grany (die Großmutter); Old and bitter (Ale), alt und bitter ist mother-in-law (Schwiegermutter); Old Tom, alter Kater, ist eine gute Art Genèvre, der davon so gut geworden sein soll, daß zufällig ein alter Kater hineingefallen.

Das unmäßige Trinken ist in den höheren Ständen nicht mehr so arg, als früher, wo solche Ausdrücke entstanden, als: he is a seven bottle man, he is only a four bottle man (er kann sieben, er kann nur vier Flaschen vertragen). Von dem starken Trinken nach Tische schreibt sich die Sitte her, daß die Damen beim Nachtisch aufstehen und die Tafel allein verlassen, wo ihnen denn der Hausherr die Thür zu öffnen hat. Man öffnet hier nämlich denen, die sich verabschieden, die Thür, während man sie bei uns eher vom Fortgehen zurückzuhalten sucht. Die höheren Classen also betrinken sich jetzt seltener, als sonst, doch habe ich gehört, daß ein Arzt sagte: „Nicht nach Tische, ich will morgen kommen!“ Was sagen die deutschen Aerzte zu dieser Bequemlichkeit?

Die niederen Classen sieht man hingegen häufiger durch die Straßen taumeln. Ich fand einmal zwei Arbeiter vor mir, die mir den Bürgersteig sperrten und sich wiederholt herzlich die Hand schüttelten ohne loszulassen. „Gute Nacht!“ rief der Eine, „Gute Nacht!“ der Andere. Dann begann der Erste von Neuem, und sein Freund wiederholte ganz empfindsam den Abschiedsruf; aber ihre Freundschaft ließ es nicht zum Scheiden kommen. Cicero hat doch Recht, dachte ich, nur gute Menschen können innige Freunde sein. Endlich mochten sie wohl finden, daß sie mich denn doch zu lange aufhielten; sie ließen sich los und Jeder fiel nach seiner Seite vom „himmlischen Naß“ überwältigt in das irdische und rollte darin umher, bis der unerbittliche allgegenwärtige Schutzmann ihnen zu einer dunkeln Schlafstelle auf dem Stroh der Polizeiwache verhalf. Die englischen Biere sind im Grunde alle zu stark, und je nach der Ernährung des Trinkers kann ein geringes Maß schon berauschen Da sie verhältnißmäßig viel zu theuer sind (ein Seidel Porter drei, ein Seidel Ale vier, ein Seidel Old mild sogar sechs Silbergroschen), wenn man sie nicht im Fasse kauft, so ist es höchst wahrscheinlich, daß alle Fälle von Angetrunkenheit mit viel geringerer Schoppenzahl bewirkt werden, als bei uns, wo man weniger Trunkenheit auf der Straße gewahr wird, als hier.

Gegen die Trunkenheit, aus der sehr viele Gewaltthaten entspringen, gefährliche Schlägereien und besonders Wifekicking and Wifekilling, daß die Ehefrauen mit Füßen getreten und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_170.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)