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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

„Du kannst meinetwegen ganz unbesorgt sein,“ lächelte Robert.

„Dann ziehst Du also die Jüngere vor; das schüchterne Reh mit den braunen Gazellenaugen und den feinen, schmächtigen Gliedern hat es Dir angethan. Wie es scheint, liebst Du die vielverheißende Knospe mehr, als die aufgeblühte Centifolie, während es mir umgekehrt behagt. Nun, de gustibus non est disputandum!“

„Weder die Eine, noch die Andere,“ versetzte der Maler gedankenvoll. „Du irrst Dich, ich habe nur gefunden, was ich mit Sehnsucht bisher gesucht – die Ideale meiner künftigen Bilder.“

„Das übersteigt meine Fassungskraft. Diese Räuber, Diebe, Mörder, das Gesindel des Bagno sollten im Ernst Deine Ideale sein? Ich glaube in der That, daß Du Dich nur über mich lustig machen willst.“

„Allerdings scheinen mir diese Briganten, trotz ihrer Lumpen, mit all’ ihrer Wildheit und Verkommenheit, als die letzten Zeugen einer großen Vergangenheit. Glich nicht jener alte Räuber, der schmerzversenkt sich auf den schweren Marmorblock stützte, einem Marius auf den Trümmern von Carthago? Schlang nicht der dunkle Krauskopf seinen zerrissenen Mantel mit der Würde eines römischen Senators um seine braunen Schultern, und blitzten nicht aus den Augen dieses Francesco der Heldenmuth und der wilde Trotz der alten Welteroberer?“

„Und diese Welteroberer sind jetzt gemeine Spitzbuben, welche in ihren Schlupfwinkeln Dir auflauern und Dir die Kehle abschneiden, wie dieser Gasparone, der sich rühmt, mit eigener Hand siebenundneunzig Mordthaten verübt zu haben.“

„Es ist nicht die Schuld dieses Geschlechtes, daß es so tief gesunken ist. Eine elende, jammervolle Regierung trifft allein der Vorwurf einer so furchtbaren Entartung, dieser Demoralisation. Mir sind Züge von Edelmuth unter diesen Räubern bekannt, welche an die schönen Tage der Heroenzeit uns mahnen. Wenn Du diese zwar rohen und verwilderten, aber kraftvollen Söhne des Waldes mit den jetzigen Nobili, mit einer durchaus blasirten und innerlich faulen Gesellschaft, mit dem entnervten, von allen Lastern der Civilisation befleckten Adel Roms vergleichst, so wirst Du zugeben müssen, daß sie besser sind, als ihr Ruf, und unsere Theilnahme verdienen.“

Der Schall der rasselnden Tamburins und der Klang der Mandolinen, welche aus der nahen Vigne ihnen entgegentönten, unterbrachen das ernste Gespräch der Freunde, die unter einer Weinlaube Platz nahmen und von dem geschäftigen Wirthe bedient wurden. Bald gesellten sich Bekannte, meist Künstler, wie sie selbst, und Zöglinge oder Pensionaire der französischen Akademie, zu ihnen, so daß die Unterhaltung eine allgemeine Wendung nahm. Man lachte, scherzte und mischte sich unter das fröhliche Volk, welches hier im Freien die sogenannten Octoberfeste feierte.

Nur Robert hielt sich fern von dem lustigen, lärmenden Treiben, so daß er mit seinen Gedanken und künstlerischen Träumen bald allein blieb. Unterdessen war die Dämmerung mit jener jähen Schnelligkeit eingetreten, die dem Süden eigenthümlich ist. Am dunklen Himmel leuchtete der stille Mond, dessen Silberstrahlen die dunkle Laube erhellten. Von Zeit zu Zeit schoß aus den Weinbergen eine feurige Rakete empor, gleich einem glänzenden Sterne in den Lüften schwebend und allmählich verglühend. Aus der Ferne schallte gedämpft der Ton der Musik und das Jauchzen der Tänzer.

Vor Robert’s Seele schwebten die Bilder der gefangenen Räuber, die Erinnerung an jene beiden armen Frauen, deren wilder Schmerz so seltsam mit der ihn umgebenden Heiterkeit contrastirte. Eine unnennbare Wehmuth, wie sie nur tiefere Gemüther kennen, erfüllte jetzt sein Herz und ließ ihn den Zwiespalt des Lebens ahnen, den er durch seine Kunst bisher vergebens zu bewältigen, zu versöhnen gesucht.

Sein ganzes Leben war ein schwerer Kampf mit den Verhältnissen gewesen. Sohn eines Uhrenfabrikanten aus La-Chaux-de-Fonds in der französischen Schweiz war er gegen den Willen seiner Eltern, die ihn dem Kaufmannsstande widmen wollten, Künstler geworden. Nur mit Widerstreben gab der Vater den Wünschen seines Sohnes nach und ließ ihn nach Paris ziehen, wo er bei einem Landsmann, dem Kupferstecher Girardet, den ersten Unterricht im Zeichnen erhielt.

Bald erkannte er die Unzulänglichkeit seines Lehrers, der nur ein talentvoller Handwerker und außerdem ein wüster Trunkenbold war. Mit den größten Opfern, die er gern seinen Eltern erspart hätte, wurde er von dem berühmten Maler David unter dessen Schüler ausgenommen. Nach jahrelanger Arbeit gelang es ihm, den ersten Preis in der Malerei davonzutragen, der ihm den Weg nach Rom, dem Ziele seiner heißen Sehnsucht, eröffnete.

Aber der tückische Zufall wollte es, daß sein Sieg mit dem Sturze des französischen Kaiserreiches zusammenfiel. Die ihm zuerkannte Pension zu einer Reise nach Italien wurde ihm entzogen, weil nach dem Pariser Frieden Neuchatel und damit auch seine Vaterstadt aufhörte, eine französische Besitzung zu sein, er selbst nicht mehr das französische Bürgerrecht besaß, sondern ein preußischer Unterthan, ohne Aussicht auf jede Unterstützung von Seiten der neuen Regierung, geworden war.

Von der Noth gezwungen, kehrte er in das Vaterhaus zurück, wo er, zu stolz, um seinen Eltern zur Last zu fallen, sich mit der Anfertigung von Portraits mühselig ernährte, obgleich ihn eine derartige unwürdige Beschäftigung tief anwidern mußte. Endlich schien ihm das Glück zu lächeln; er fand einen wohlhabenden Gönner, der sich bereit erklärte, ihm die für einen längeren Aufenthalt in Rom nöthige Summe vorzustrecken.

Aber auch hier hatte er noch schwer zu ringen, da er trotz seines Talentes und seines Fleißes die gewünschte Anerkennung nicht fand, weil er sich nicht herbeilassen wollte, dem verdorbenen Modegeschmack zu huldigen, sondern nach dem höchsten Ideale in seiner Kunst strebte. Nur wenige wahre Kunstkenner und nähere Freunde schätzten und ehrten den begabten jungen Maler, welcher von dem großen Haufen kaum beachtet und gewürdigt wurde.

So manche gescheiterte Hoffnung und fehlgeschlagene Aussicht nährten die ihm angeborene Neigung zur Melancholie, welche das Erbtheil der höheren Geister, der bevorzugten Naturen zu sein und wie ein dunkler Schatten das helle Licht des Genius zu begleiten pflegt.

Aus diesem stillen Brüten, in das Robert auch jetzt wieder nach seiner Gewohnheit versunken war, weckte ihn die Berührung einer Hand, die sich freundschaftlich auf seine Schultern legte. Als er aufblickte, sah er die hohe, imponirende Gestalt und das geistvoll milde Gesicht eines ihm wohlbekannten älteren Mannes, für den er, wie alle Welt, die größte Ehrfurcht empfand.

Derselbe mochte ein angehender Fünfziger sein, obgleich er weit jünger erschien. Lange blonde Locken, welche die breite gewölbte Stirn wie ein dichter Wald umgaben und bis zu den breiten Schultern niederwallten, und die hellen blauen Augen, die einem sonnigen Gebirgssee glichen, erinnerten an seine nordische Abkunft. Seine klaren Züge trugen den unverkennbaren Stempel des schöpferischen Genies, den Adelsbrief, welchen die Natur ihren bevorzugten Lieblingen in deutlich leserlicher Schrift ertheilt. Es lag etwas Gebieterisches in seiner ganzen Haltung und Physiognomie, gemildert durch das wohlwollende, humoristische Lächeln des feingeschnittenen Mundes. Bei dem Anblick dieses Kopfes konnte man wohl an den olympischen Zeus denken, wenn der Gott mit seinem Ganymedes scherzt.

Thorwaldsen! Herr Staatsrath Thorwaldsen!“ rief Robert, überrascht aufspringend, und den berühmten Bildhauer - denn der war es selbst – begrüßend.

„Laßt nur,“ versetzte dieser lächelnd, „den verwünschten Herrn und all’ die leeren Titel bei Seite. Ich bin, was Ihr seid, ein Künstler und Euer Camerad. Wenn Ihr nichts dagegen habt, so setze ich mich zu Euch in die kühle Laube und trinke mit Euch eine Foglietta, da mich die Hitze und das Gedränge aus der Stube vertrieben haben.“

„Es wird mir eine große Ehre sein.“

„Wer weiß? Ich halte Euch vielleicht ab, an der Fröhlichkeit Eurer Freunde Theil zu nehmen, die dem Tanze zusehen und mit den schönen Kindern scherzen.“

„Ich trage kein Verlangen danach, der Lärm in der Schenke widert mich an.“

„Das ist nicht recht; die Jugend soll sich freuen und das Leben genießen. Als ich noch jung war wie Ihr und in Kopenhagen die Zeichenschule als ein armer Bursche besuchte, da durfte ich bei keinem Tanze, bei keinem Vergnügen fehlen. Noch heute lacht mir das Herz, wenn ich an die alten Zeiten denke! Ich glaube, mein junger Freund, daß Ihr das Leben zu ernst nehmt.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_227.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)