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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

zu meinem Entsetzen gezwungen zu sein, mit verbundenen Augen die Fahrt bestehen zu müssen, als mir der Schirrmeister, der meine qualvolle Lage sah, mit einer grünen Schneebrille aushalf, die wie mit einem Zauberschlage allen meinen Leiden ein Ende machte. – Diese rasche Einwirkung des vom Alpenschnee reflectirten Lichtes auf die Netzhaut des Auges hat etwas sehr Eigenthümliches. Ich hatte schon oft in der Ebene tagelange Fahrten im offenen Schlitten und beim blendendsten Sonnenlichte gemacht, ohne besonders darunter zu leiden, während eine Fahrt von kaum einer Stunde über den Splügen nur so verhängnisvoll wurde. Man scheint sich gegen diese Einwirkung auch nicht durch Gewöhnung abhärten zu können, denn die Kutscher, der Schirrmeister und die Schneeschaufler, die wir zu Hunderten längs der Straße trafen, waren alle mit dunkeln Brillen versehen. Und doch sind diese Leute oft schon vom October an bis zum Frühling fast täglich in diesen Höhen beschäftigt, mit Schaufeln und Picken den Schnee wegzuräumen, der oft in wenigen Stunden die Straße überdeckt und unfahrbar macht. Sie tragen bei dieser beschwerlichen Arbeit, wenigstens beim Sonnenschein, alle ihre dunkeln Augengläser, was den ernsten kräftigen Gestalten einen ungemein komischen Anstrich verleiht. Man könnte glauben, daß man mitten in der Schneewüste auf ein Stück verspäteten Carnevals gestoßen sei, oder daß man sich einer Augenheilanstalt nähert, deren Reconvalescenten eine Schneepromenade angetreten haben. Diese Schneeschaufler, die wir immer nur in langen Reihen beisammenstehend trafen, waren aber auch die einzigen lebenden Wesen, denen wir begegneten. Kein Wanderer arbeitete sich durch den Schnee fort, kein Vogel segelte vorüber. Nur die Fährten eines Raubthieres oder Alpenhasen erschienen hier und da im Schnee abgedrückt und ließen sich auf weite Entfernungen verfolgen. Eine Wendung der Straße, und wir waren wieder allein, und wieder lag die einsame Schneewüste vor uns, unbeweglich, schweigsam, nichts als weiße Höhen, Abgründe – den Wellen eines wildaufgeregten Meeres ähnlich, die plötzlich erstarrt sind. –

Nach dreistündiger Fahrt langten wir endlich auf der Paßhöhe an, in der muldenförmigen Ebene, welche die Einsattlung des Berges bildet und über welche jedes Jahr die Zugvögel mit ihrem unverbrüchlichem Festhalten an traditionellen Routen in zahlreichen Schwärmen nach Italien ziehen. Der Blick wird freier, die Fernsicht ausgedehnter, eine schöne Ebene liegt vor uns und zieht sich dem Kamme des Berges entlang in leichten Wellenlinien fort. Links von uns erhebt sich der Soretto mit seinem prächtigen Gletscher, rechts, im Westen, das steilansteigende Schneehorn. Wir nähern uns der Grenze Italiens, und die aus Stein gebaute casa cantoniera (Berghaus), deren graue Mauern so einladend aus dem Schneevorwerk hervorblicken, steht bereits auf italienischer Erde. Sie ist ein Zufluchtsort für Reisende im Winter, ein Gasthaus und zugleich eine Art von Leuchtthurm. Denn bei Schneegestöber und Nebel wird die große Glocke hier in Bewegung gesetzt, um verirrten Reisenden die Richtung des Weges anzuzeigen. Für uns ist aber hier keine Ruhestätte, bereits sitzt der Kutscher auf seinem Bocke und schwingt seine Peitsche. Es geht thalwärts! Schnell wie der Wind fliegt das leichte Fahrzeug einher, und wird links und rechts, oft dicht an den Abgrund geschleudert, wenn die Straße eine scharfe Wendung beschreibt. Wir aber schauen behaglich dem veränderten Bilde, der tollen und doch ganz gefahrlosen Fahrt zu; lustig wirbeln die blauen Wölklein unserer Pfeifen in die reine Luft herauf, und wir lassen uns die Schneeflocken von den Hufen der Pferde in’s Gesicht schleudern.

Der rasche Trab führt uns ja Italien zu, dem sonnigen Süden, der wiedergeborenen Italia libera! Mir war es, als hätte ich Mignon’s Sehnsucht nach der Heimath und die hohe Poesie von Goethe’s herrlichem Liede noch nie so warm empfunden, als hier an dieser hohen Grenzscheide, sechstausendfünfhundert Fuß über dem Meere. Wieder heben sich ein paar graue Mauern aus dem Schnee empor, ein Haufen armseliger düsterer Häuser, mit kleinen Fenstern und unheimlichem Aeußeren; es ist die Dogana, wo zur Zeit der österreichischen Herrschaft das Mauthamt seinen Sitz hatte, während es jetzt nur eine Station für die Grenzwächter ist. Das erträglichste dieser trübseligen Baracken ist das Wirthshaus „zum Splügen“. Hier fliegen wir nicht vorbei. Schon stehen die Postpferde bereit, die unsere müden Gäule ersetzen sollen, und uns bleibt noch Zeit zu einem erquickenden Glase italienischen Weines. Welch’ trauriger Winkel Erde im Winter, diese Dogana, die oft bei Schneestürmen halb verschüttet wird, in diesem öden Kessel, rings von himmelhohen Gebirgen umschlossen! Nur im Sommer bringen der Touristenzug, der Waarentransport und die Bergamaskerschafe, die zu Tausenden das spärliche Gras der mageren Bergtriften abweiden, einiges Leben in dieses verlorene Nest. Es bleibt uns aber keine Zeit zu weltschmerzlichen Träumereien; der italienische Postillon sitzt wieder aus seinem Bocke, die Hetzjagd beginnt auf’s Neue. Ueber das baumlose Hochplateau der Staffetta, beim majestätischen Carcinsagletscher vorbei, dessen bläuliche Eismassen aus der Ferne uns entgegenschimmern, fliegen wir bei der zweiten und dritten Cantoniera vorbei und kommen endlich in’s Bereich der Galerien, die zum Schutze der Straße vor Lawinen erbaut worden sind, gewaltige Bauwerke aus festem Mauerwerk, mit massiven Dächern, über welche die Schneemassen gefahrlos hinübergleiten, um in dem Abgrunde, rechts von der Straße, zu zerschellen.

Welche strategisch mächtige Position für ein Häuflein entschlossener Männer, um einer großen feindlichen Uebermacht den Weg zu verlegen! Welche mächtigen Strebepfeiler stützen diese Mauern gegen den Abgrund hin! Welchen großartigen Eindruck machen diese Viaducte schon durch ihre Höhe, die bei fünfzehn Fuß beträgt, und durch die imposante Länge von vielen hundert Fuß! Man fühlt, wenn man im Winter und Frühling durch diese Gänge, die an den gefährlichsten Stellen erbaut sind, hindurchfährt, ein unendliches Behagen; man wird der Gefahren, durch die man bis dahin mit heiler Haut durchgeschlüpft, erst recht bewußt, wenn man die großartigen Vorkehrungen gewahr wird, welche gegen sie hier errichtet sind. Man mißt staunend diese Cyklopenmauern mit den Augen und berechnet mit Behagen, daß dieselben auch der größten Lawine widerstehen würden. Um das Tageslicht durchzulassen, sind in diesen Galerien in regelmäßigen Abständen schießschartenähnliche Fenster gegen den Abgrund angebracht. Der Fußgänger wirft durch sie einen Blick in die grausige Tiefe. Jetzt aber waren sie zum großen Theil mit Schnee und Eis vermauert und ein geheimnißvolles Dunkel herrschte im Innern. An vielen Stellen aber, wo der Schnee nur in dünnen Schichten lag, fiel das Tageslicht reicher durch diese Blendungen ein, brach sich in den wundervollsten blauen und grünen Farbentönen, wie in der blauen Grotte von Capri, und zauberhafte Lichtreflexe funkelten am Boden. Vier solcher Galerien folgen sich in kurzen Entfernungen. Beim Austritt aus der zweiten überrascht uns der prächtige Prospect auf die alte frühere Splügenstraße, welche in Zickzackwindungen durch die gefährliche Cardinell nach dem tief unten im Thale gelegenen Isola führt. Auf diesem gefährlichen Wege führte im December 1800 Macdonald eine Abtheilung der französischen Armee nach Italien, unter namenlosen Beschwerden und unter großer Einbuße von Menschen und Saumthieren, die in ganzen Reihen von Lawinen in die Tiefe gerissen wurden. Von solchen Fährlichkeiten ist die neue Splügenstraße frei, die namentlich auf der italienischen Seite ein wahres Musterbild des Straßenbaues in den Alpen ist. Scheinbar unüberwindliche Hindernisse sind hier siegreich überwunden und Stunden lang ist das Auge in einer beständigen Spannung, bald durch die Erhabenheit der Natur, bald mehr noch durch die Großartigkeit dieser kühnen Brücken, Terrassirungen und Schutzmauern in Anspruch genommen.

Wir sind wieder in der Baumregion; der Trab unseres Pferdes wird schärfer, je mehr die Steigung sich mindert. Die Scene wechselt mit überraschender Schnelligkeit. Wir fahren dicht an dem imposanten Wasserfalle des Madesimo vorbei. Welche reichen Wassermassen werden da an siebenhundert Fuß in die Tiefe geschleudert! Wenige Wasserfälle in den Alpen dürften sich an Fallhöhe, Wasserreichthum und Großartigkeit der Umgebung mit dem Madesimo messen. Die Schlitten halten alle ein paar Minuten vor dieser wundervollen Scene, deren Schauplatz die Straße in mehreren Windungen umkreist, so daß wir den Fall, dessen Donner uns noch lange nachfolgt, von den verschiedensten Seiten betrachten können. Wir fühlen bereits, daß wir an dem Südabhange der Alpen sind; laue Lüfte wehen uns entgegen, dünner und dünner wird die Schneedecke und auf einmal steht die Diligence vor uns! Decken, Pelze, Schneebrillen – Alles fliegt weg, die Schlitten treten die Rückreise an und die behaglichen Räume des Eilwagens nehmen die ganze Reisegesellschaft auf. Wiederum poltert der feste Erdboden unter unseren Füßen, das erste Grün erquickt die Augen, wir rasseln durch eine vierte und letzte Galerie hindurch und nach

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_327.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)