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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

No. 22.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Vetter Gabriel.
Von Paul Heyse.
(Schluß.)


Drinnen in seiner Wohnung aber sollte Gabriel erst vollends unheimlich zu Muthe werden. Denn in der Hoffnung, nächster Tage mit Cornelie und ihren Eltern dieses Haus zu betreten, um das Fest der Weinlese zugleich mit seiner Verlobung zu feiern, hatte er fast in jedem Zimmer eine Ueberraschung für das Bäschen vorbereitet, hier den Flügel, den er ihr schenken wollte, dort einen großen vergoldeten Käfig mit ihren Lieblingsvögeln, eine hübsche Handbibliothek der besten Dichter, deutscher und englischer, in einem zierlich geschnitzten Schrank, ein kleines Cabinet ganz mit hellblauer Seide tapezirt und möblirt, da sie noch auf jenem letzten Ball davon gesprochen, in ihr Boudoir dürfe keine andere Farbe kommen, und endlich in seinem eigenen Zimmer, wie eine Weihnachtsbescheerung auf einem Tischchen aufgebaut, all’ die kleinen Geschenke, die er im Lauf der Jahre von ihr erhalten, von dem ersten Serviettenband aus blauen Perlen gestickt bis zu einem schönen zweiarmigen Leuchter aus grüner Bronze, den er wie ein Heiligthum auf allen Reisen mit sich geführt hatte, in der Hoffnung, daß er einst sein häusliches Glück beleuchten werde. Wie er dies Alles wiedersah, fuhr ihm ein Krampf an’s Herz, daß er in einen Sessel zurückfiel und eine Weile in tödtlicher Beklemmung dalag, bis die unselige Angst und Ohnmacht sich in einen Strom von Thränen auflöste.

Als sie endlich zu fließen aufhörten, fühlte er, daß er es sich selber schuldig sei, ein für alle Mal einen Strich unter die Vergangenheit zu machen. Er räumte zunächst mit seinen Erinnerungszeichen auf, verschloß das blaue Cabinet und ließ die Vogelhecke, unter dem Vorwande, sie schmetterten ihm zu laut, von der Verwalterin in ein Hintergebäude übersiedeln. Dann stellte er sich im Wohnzimmer vor das Bücherschränkchen, nahm ein Buch nach dem andern heraus, blätterte darin und stellte es wieder zurück. Warum soll sie mit der Zeit nicht auch daran Gefallen finden? sagte er vor sich hin. Und wenn nicht, was schadet’s? Haben nicht Jahrhunderte und Jahrtausende sich ganz wohl befunden, ohne etwas von Goethe und Shakespeare zu wissen? Leben wir denn nur von Lesen und Schreiben, und ist ein unverfälschtes Naturgefühl nicht tausend Mal beglückender als die sogenannte Bildung, die im besten Fall nur eben auf glänzende Formeln bringt, was sich für ein gesundes Menschenwesen von selbst versteht? Natur – Natur ist Alles! Wenn ich auf einer Robinsonsinsel hauste, was läge mir daran, ob meine Frau eine Beethoven’sche Sonate herunterstümpern könnte? Und was hindert mich, hier auf meinem Grund und Boden mich so einzurichten, daß ich nach keinem Menschen zu fragen brauche, und um mein häusliches Glück einen Zaun zu ziehen, den keiner von diesen überfeinerten Weltmenschen durchbrechen kann? So will ich es machen! schloß er seinen Monolog. Und es müßte wunderlich zugehen, wenn dieses liebenswürdige gute junge Geschöpf mir nicht endlich mehr werth werden sollte, als Alles was ich früher für ein Lebensbedürfniß angesehen habe!

Nach dieser unter solchen Umständen sehr zweckmäßigen Moralisirung seines eigenen Innern wurde es still und fast heiter in ihm. Er ging in die Weinberge hinaus, sah überall nach dem Rechten, redete noch freundlicher als sonst mit den Arbeitern und legte sich am Abend todmüde zu Bette, um neun Stunden zu schlafen. Nicht schlimmer ging es auch die folgenden Tage. Er rief sich jede ihrer Geberden, jedes ihrer Worte in’s Gedächtniß zurück, und fing an ein Verlangen zu fühlen, ihren Kopf wieder zwischen seine Hände zu nehmen und ihre unschuldigen Lippen zu küssen. Besonders zwischen den Reben überkam ihn ordentlich eine Art Bräutigamsstimmung. Wie artig müßte sie sich hier ausnehmen, Trauben abschneidend oder mit ihren flinken Händen die edelsten Beeren abpflückend für den Auslesewein! Natur! seufzte er vor sich hin; Natur ist das Erste und Letzte! – Dabei trank er ungewöhnlich viel Most und war so gesprächig, daß sich die Frau des Verwalters anfing Sorgen zu machen, er habe wohl gar etwas im Kopf; ihr Mann tröstete sie, deutete auf’s Herz und sagte: „Wenn er was hat, so hat er es hier'!“

Endlich am vierten Tag kam ein Brief, der dem neugierigen Ehepaar zu rathen aufgab, da die übrigens ganz richtige Adresse nach einer unbehülflichen Kinderhand aussah, auch Papier und Siegel eher einen Bettelbrief vermuthen ließen. Unter dieser kopfschüttelnden Bezeichnung überreichte ihn der Verwalter seinem Herrn und erstaunte nicht wenig, als dieser ihm den Brief hastig aus der Hand riß, in sein Zimmer eilte und die Thür hinter sich abschloß. Dort aber konnte er noch eine ganze Weile sich nicht entschließen, das Siegel zu brechen. Er zündete sich eine Cigarre an, ging heftig dampfend im Kreise um den Tisch herum, auf welchem dieser erste Liebesbrief neben einer Broschüre über die Traubenkrankheit lag, und mußte sich künstlich durch die Erinnerung an jenen Mondscheinabend am Brunnen Muth einflößen, um endlich, den Brief in der Hand, sich auf den Divan zu strecken und das Couvert zu öffnen.

Da las er, in derselben kindisch verlegenen Handschrift wie die Adresse, Folgendes:

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 337. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_337.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)