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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

„Was soll ich da?“ erwiderte er mißmuthig. „Diese geschminkten Larven ekeln mich nur an, diese freundlich grinsenden Gesichter langweilen mich zu Tode, die süßen Reden und banalen Phrasen haben für mich jeden Reiz verloren. Ich weiß ja, was hinter der täuschenden Maske sich verbirgt, falsche Herzen, Lüge und Verrath.“

„So laß uns eine Spazierfahrt auf den Lagunen machen,“ bat der bekümmerte Bruder, um ihn seiner düsteren Stimmung zu entreißen.

„Das ist ein guter Gedanke, das wollen wir thun!“ erwiderte Robert beistimmend. „Nur die Natur, die ewige Fluth vermag noch Trost und Ruhe meinem kranken Herzen zu gewähren. Rufe unseren Gondolier!“

„Wohin soll uns Pietro fahren?“

„Mir ist es gleich, je weiter, desto besser; hinaus zu den Murazzi, an deren steinernen Wällen sich das schäumende Meer seit Jahrhunderten bricht! Wir können in Chioggia oder Palestrina landen und den Fischern zusehen, wie sie von ihren Frauen und Kindern Abschied nehmen, wenn sie auf ihren gebrechlichen Barken sich hinauswagen auf die tückische See. Ich liebe und bewundere diese armen Leute, das gute Volk, von dem ich niemals hätte lassen sollen. Nur bei ihm findet man noch Wahrheit und Treue, Hingebung und Opferfreudigkeit, wie sie Teresina mir bewiesen hat.“

„Wozu diese trüben Erinnerungen?“

„Du hast Recht. Ich will, ich darf nicht mehr an die Vergangenheit denken,“ erwiderte Robert mit einem schmerzlichen Seufzer.

Beide bestiegen die schwarze, sargähnliche Gondel, die lautlos durch die ruhigen Canäle glitt, gleich dem Nachen des die Schatten der Gestorbenen zur Unterwelt leitenden Fährmanns. Von den kräftigen Ruderschlägen Pietro’s getrieben, flogen sie vorüber an dem Kloster der Armenier, wo einst Byron’s rastloser Geist in mönchischer Zurückgezogenheit Ruhe suchte, vorüber an dem Kirchhof der Armen, wo der fanatische Religionseifer den fremden Ketzern, die in Venedig sterben, kaum einen Fuß breit Erde gönnt.

Ecco San Servolo!“ rief der Gondolier, auf ein düsteres Gebäude deutend, das gespenstisch aus den dunklen, schwarzen Lagunen emportauchte.

Es war das Irrenhaus von Venedig, ein unheimlicher Anblick mit seinen traurigen Bewohnern hinter den eisernen Gitterstäben. Auf der Schwelle saß zusammengekauert solch ein Unglücklicher mit eingefallenen Wangen, hohlen Augen und gestörtem Wesen, in armselige Lumpen gekleidet. Er sang mit wohlklingender Stimme eine tief ergreifende Melodie.

„Das ist der verrückte Musikus,“ sagte Pietro, der ihn zu kennen schien. „Der arme Mensch gab früher Unterricht in den Häusern der Nobili; dabei hat er sich in eine schöne Contessa verliebt und darüber den Verstand verloren.“

„Wollen wir nicht weiter fahren?“ mahnte Aurel, den traurigen Bericht des Gondoliers mit Absicht unterbrechend.

„Nur noch einen Augenblick!“ entgegnete Robert. „Der Gesang des armen Menschen klingt so rührend schön.“

„Das ist wahr,“ bekräftigte Pietro. „Einen besseren Säuger gab es nicht in ganz Venedig, als den närrischen Maestro dort. Wenn er zu der Mandoline seine Stimme hören ließ, waren alle Frauen bezaubert. Kein Wunder, daß er seine Augen bis zu einer Contessa erhob. Die stolze Dame aber trieb nur ihren Scherz mit ihm, und als er eines Tages vor ihr niederkniete, ließ sie ihn durch ihren Bedienten mit Schimpf und Schande aus dem Palast jagen, worüber er seinen Verstand verloren hat.“

„Schweig still!“ gebot Aurel heftig dem geschwätzigen Gondolier.

„Gott schütze mich vor einem ähnlichen Geschick!“ murmelte Robert schaudernd.

Mit einer grellen, herzzerreißenden Dissonanz schloß der Wahnsinnige sein Lied, plötzlich abbrechend, da er die Zuhörer in der naheliegenden Gondel erst jetzt bemerkte.

„Nehmt mich mit,“ schrie er, verzweiflungsvoll die Arme ausstreckend. „Erlöst mich aus dieser Hölle, wo ich die Qualen der Verdammten leide!“

Zugleich rüttelte er wie ein wildes Thier an dem eisernen Gitter, von Zeit zu Zeit in ein Wuthgeheul ausbrechend, durch das die Wärter des Irrenhauses herbeigerufen wurden. Gewaltsam suchten sie den Unglücklichen zu entfernen, der sich mit Löwenkraft an den Eisenstäben anklammerte, so daß er ihren Angriffen Trotz bot. Schon faßten ihn die rohen Fäuste der Wärter, um ihn mit Stricken zu binden, während der Wahnsinnige sich verzweiflungsvoll dagegen wehrte.

In diesem Augenblick erschien auf der Schwelle des Hauses eine Nonne in der grauen Kleidung der barmherzigen Schwestern, deren verklärtes Gesicht den himmlischen Frieden nach schwerem innerem Kampfe verrieth.

„Laßt den Armen! Ich werde ihn schon besänftigen,“ sagte sie den Wärtern, die ihr ohne Widerspruch sogleich gehorchten und sich tief vor ihr verneigten.

Was der vereinten Kraft der Männer nicht gelingen konnte, vollbrachte die schwache Frau mit wunderbarer Leichtigkeit. Sie näherte sich dem Wüthenden ohne Furcht und faßte seine Hand, die er ihr ohne Sträuben überließ. Ein Blick, ein Wort genügte, die Wuth des Wahnsinnigen zu bändigen, so daß er ihr wie ein gehorsames Kind in das Innere des Hauses folgte, wo sie mit ihrem unglücklichen Begleiter verschwand.

Mit steigender Theilnahme verfolgten die Zuschauer in der Gondel, vor Allen aber Robert, den eigenthümlichen Zwischenfall, der ihn seiner Apathie entriß. Die ganze überirdische Erscheinung der Nonne erinnerte ihn unwillkürlich an vergangene Zeiten, an ein längst verschwundenes Bild.

„Kennst Du,“ fragte er den Gondolier, „die fromme Schwester?“

„Ob ich sie kenne!“ versetzte Pietro stolz. „Ganz Venedig verehrt die Schwester Teresa gleich einer Heiligen. Es giebt keinen Unglücklichen, den sie nicht tröstete; keinen Kranken, den sie nicht pflegt. Daß sie Wunder thut, habt Ihr ja selbst gesehen und ich zweifle nicht daran, daß sie der heilige Vater noch bei ihrem Leben selig sprechen wird.“

„Sie ist keine Venetianerin?“ forschte Robert, unsicher, ob er sich nicht getäuscht.

„Gott behüte!“ erwiderte der Gondelier. „Wo denkt Ihr hin, Signore? Eine Venetianerin und eine Heilige, das paßt zusammen, wie Orangen und Parmesankäse. Unsere Donnas gehen lieber auf den Carneval als in ein Kloster und tanzen lieber mit gesunden Cavalieren, statt am Bette der Aussätzigen und Verrückten zu wachen. Wie ich gehört habe, ist die Schwester Teresa ein armes Mädchen, das wegen einer unglücklichen Liebe Nonne geworden ist.“

„Ich muß sie sehen, sie sprechen,“ flüsterte Robert seinem Bruder zu, während Pietro seine Gondel nach der anstrengenden Fahrt fröhlich in dem kleinen Hafen von Chioggia anlegte.

Das lebendige Schauspiel, das sich jetzt auf der bekannten Insel seinen Augen bot, zerstreute wenigstens für einige Zeit seine traurigen Erinnerungen an Teresina, die er in jener Nonne erkannt zu haben glaubte. Hier fand Robert, was er in der vornehmen Gesellschaft vergebens suchte, ein unverdorbenes Geschlecht von kräftigen Männern, schönen Frauen und würdigen Greisen, die arm, aber zufrieden mit ihrem kärglichen Loose, unter dem blauen Himmel und im Angesicht des großen heiligen Meeres lebten, das bald ihr Wohlthäter, bald ihr Vernichter ist.

Von Neuem regte sich die Schaffenslust des Künstlers, als er die herrlichen Gestalten der Fischer in ihrer originellen Tracht und die pittoreske Umgebung der Insel erblickte, so daß er mit frischem Eifer seine früheren Studien aufnahm und längere Zeit in Chioggia verweilte.

Mit wahrhafter Freude bemerkte Aurel bei ihrer Rückkehr nach Venedig, daß Robert wieder sein Atelier besuchte und vom frühen Morgen bis zum späten Abend an seiner Staffelei saß, mit einem neuen großen Gemälde für die nächste Ausstellung beschäftigt.

„Dem Himmel sei Dank,“ sagte der treue Bruder, „daß Du wieder malen, kannst. Nun zweifle ich nicht länger, daß Du von allen Deinen Leiden genesen wirst.“

„Ich hoffe es wie Du,“ entgegnete Robert mit dem ihm eigenen Lächeln.

„Wer aber hat dies Wunder bewirkt?“

„Ein Engel, den der Himmel mir zur rechten Zeit gesendet hat.“

„Teresina!“

„Jetzt Schwester Teresa. Ich habe sie in ihrem Kloster

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_354.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)