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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Ein schöner Zug der russischen Gerechtigkeitspflege – wenn man sich so ausdrücken darf – ist es, daß die nächsten Anverwandten die nach Sibirien Verbannten begleiten dürfen. Doch werden jene während des ganzen langen Transportes den Verurtheilten gleich geachtet und behandelt. Die Polen machen – ich muß es sagen – von dieser traurigen Vergünstigung den ausgedehntesten Gebrauch, und besonders zeichnet sich das weibliche Geschlecht in dieser Beziehung aus. Fast allen Verurtheilten unter uns, Männern oder Frauen, folgte die Gattin oder Tochter, die Schwester oder Braut, bereit, alles Ungemach über sich ergehen zu lassen, um dem geliebten Wesen einen Trost zu gewähren. Es ist dieses fürwahr kein geringes Opfer, wenn man bedenkt, daß die häufig noch jungen Damen, von Geburt aus an alle Annehmlichkeiten des Reichthums und der vornehmen Stellung gewöhnt, ihr comfortables Boudoir, ihre glänzenden Salons verlassen mußten, um sich in den engen, unsauberen, mit Leuten beiderlei Geschlechts und jeden Ranges und Alters bis zum Uebermaß angefüllten Transport-Käfig stecken zu lassen und später unter unendlichen Beschwerden und Entbehrungen eine fast ein Jahr dauernde Fußwanderung unter militärischer Aufsicht anzutreten! Und nie hörte ich, daß diese freiwilligen Opfer sich beklagten oder ihren Entschluß bereuten. Ehre diesen Edlen!

Wir wurden nach dem Kownoer Bahnhöfe transportirt und in einem Gefangenen-Wagen verladen. Derselbe, kaum groß genug, um uns Alle aufzunehmen, hatte an jeder Seite zwei kleine Fenster mit Eisengittern und glich ganz den Viehwagen auf unseren Eisenbahnen. Da sich noch eine Menge Soldaten mit uns in denselben Raum zusammen drängte, so reichten die Sitzplätze nicht aus, und Viele von uns mußten stehen.

Vier Stunden hatten wir dergestalt zugebracht, als wir in Wilna anlangten, der Wagen-Käfig geöffnet wurde und wir allesammt – ob verurtheilt oder nicht – vom Bahnhofe aus nach dem Zuchthause geführt wurden. Wegen der herannahenden Feiertage wurden wir vorläufig nicht weiter transportirt. In dem Gefängniß ging es uns nicht besser als im Eisenbahnwagen, denn da aus den verschiedenen Gouvernements noch mehrere Transporte politischer Gefangenen eingetroffen, so war der Raum so beschränkt, daß wir in den Zellen der gemeinsten Verbrecher mit untergebracht werden mußten. Ich kam mit einem Fürsten M. zu sechsundzwanzig solcher Subjecte. Die Tage unseres dortigen Aufenthaltes bleiben mir ihrer Scheußlichkeit wegen ewig im Gedächtniß.

Nach fünf Tagen, die uns eben so viele Monate gedünkt hatten, traten wir unsere Weiterreise nach St. Petersburg an, und unsere vorigen Leiden begannen auf’s Neue. Noch hundert Personen mehr wurden uns zugesellt. Das schöne und das starke Geschlecht waren drei Tage und drei Nachte lang in allen Abstufungen des Alters und Standes in einen engen Raum gepfercht, vor welchen sich statt des Engels Gabriel mit dem hauenden Schwert ein Soldat mit geladenem Gewehr stellte, um Niemand, weder bei Tag noch bei Nacht, aus dem Elysium herauszulassen. Die Damen waren unter dem Sträflingsrocke zumeist in feinster Toilette, an welcher die Crinoline nicht fehlte. Heiterkeit, Scherz, Gesang, Zeitvertreib aller Art mußte den Weg verkürzen; die feinsten Delicatessen wurden von schönen Händen freigebig vertheilt, denn Diejenigen, welche ihre verurtheilten Verwandten begleiteten, befanden sich ja im Besitze ihres Vermögens und hatten sich mit Geld, für welches in Rußland unter allen Umständen Alles zu erlangen ist, reichlich versehen. Der Maschinist gab aus der Maschine kochendes Wasser her, und so wurde denn der Genuß von Thee, Kaffee, Grog und Bouillon zu jeder Zeit möglich.

In St. Petersburg angekommen, wurden wir durch die belebtesten Theile der Stadt transportirt.

Hier muß ich einen Zug des russischen Volkscharakters hervorheben, der, wie ich glaube, in der ganzen Welt kaum seines Gleichen findet. Die russische Einwohnerschaft von Petersburg aller politischen Parteien soweit in Rußland von solchen überhaupt die Rede sein kann – verwünschte den polnischen Aufstand aus Herzensgrund, aber in uns, dessen Opfern, erblickten diese Leute nur Unglückliche, welche des Mitleids und Erbarmens bedürftig seien.

Auf dem Wege durch die Stadt drängten sie sich in solchen Massen an uns heran, um uns mit Geld zu beschenken, daß der Zug oft Halt machen mußte, weil es den Soldaten nicht gelang, die Menge von uns fern zu halten. Viele gaben zehn, fünfzehn, zwanzig Rubel und noch mehr. Die Aermeren begnügten sich mit Kopeken, deren wir nicht weniger als zweitausend zweihundert Stück erhielten! Noch vor dem Thore des Gefängnisses drängte sich ein kleines Mädchen an mich heran und drückte mir zwei Kopekenstücke in die Hand. Diese beiden Kupfermünzen zieren heute als ein mir werthvoller Schmuck, meine Uhrkette.

Unser Gefängniß zu St. Petersburg war ein großes stattliches Gebäude und das Schicksal, das manchmal wirklich komisch ist, gab uns hier einen mütterlichen Wink, daß wir uns künftig „recht artig“ betragen müßten. Unser Gefängnißhaus nämlich diente eigentlich zur Aufnahme – verwahrloster Kinder!

Wir fanden auch hier eine Menge Gefangener vor, die sich unserem Tansport, der in zwei Tagen fortgesetzt werden sollte, anzuschließen bestimmt waren. Man brachte uns in sehr großen geräumigen Zimmern unter, welche unverschlossen waren und uns den freien Verkehr innerhalb des Gebäudes gestatteten. Hier gelang es mir durch die Güte des als Commandant fungirenden Obersten, einen Brief direct in das hiesige preußische Gesandtschafts-Hotel zu befördern, in welchem Briefe ich meine Verurtheilung und mein Eintreffen in Petersburg meldete und die Bitte hinzufügte, mich persönlich dem preußischen Gesandten vorstellen und ihm meine Lage schildern zu dürfen.

Schon nach einer Stunde erschien als Vertreter des Gesandten Herr v. Magnus, der mir eine herzliche Theilnahme bezeigte. Derselbe war, in Folge der vielfachen Bemühungen der preußischen Regierung, meine Freilassung zu bewerkstelligen, schon früher in meinem Interesse thätig gewesen und höchlichst erstaunt über meine gegenwärtige Situation. Er rieth mir, ein Gnadengesuch an den Kaiser zu richten und dasselbe dem Consul in Moskau zu übergeben, den er veranlassen werde, es sofort dem Gesandten zu übersenden, welcher es in öffentlicher Audienz dein Kaiser vortragen würde. Ferner versprach er, dafür zu sorgen, daß in Moskau mein Transport so lange inhibirt würde, bis die Entscheidung des Kaisers einträfe. Ich erhielt von Herrn v. Magnus neben einer bedeutenden Geldsumme ein Empfehlungsschreiben an den preußischen Consul in Moskau und die Versicherung, daß er sogleich dem königlich preußischen Ministerium die nöthigen Mittheilungen über mein Schicksal machen werde. Er hat sein Wort gehalten.

Ich war getröstet und aufgerichtet und mein Herz von innigster Dankbarkeit erfüllt. Leicht und muthig fühlte ich mich, als wir wieder nach dem Bahnhöfe geführt wurden, um unsere Reise nach Moskau anzutreten. Wieder wurden uns auf dem Wege nach dem Bahnhofe milde Gaben zu Theil.

In Moskau war der Andrang des Volkes zu uns, um uns milde Gaben zu Theil werden zu lassen, so groß, daß sich der Transport nur sehr langsam fortbewegen konnte. Wir wurden auf einer prächtigen, von einem schönen Parke umgebenen Villa untergebracht, welche zuvor einem Kaufmann gehört hatte, der sich im Krimkriege mißliebig gemacht und dessen Vermögen im Betrage von etwa zwanzig Millionen confiscirt worden, während er selbst in Sibirien sein Ende gefunden hatte. In der Villa sowohl wie im Parke war uns freier Verkehr gestattet. Das sind russische, in Deutschland unbegreifliche Gegensätze.

Der wiederholte mehrtägige Transport in der oben geschilderten Weise halte meine schon durch die lange Haft angegriffene Gesundheit allmählich so geschwächt, daß man mich sogleich in ein freundliches und wohleingerichtetes Krankenzimmer brachte. Noch an demselben Tage besuchte mich der Generalarzt H., ein Deutscher, welcher die erkrankten Transportirten zu behandeln hatte. Er widmete mir seine vollste Theilnahme und erklärte, daß er meinen Weitertransport vor meiner völligen Wiederherstellung nicht zugeben werde. Auch stellte er selbst mein Empfehlungsschreiben dem hiesigen preußischen Consul zu. Vor Allem erfreute er mich aber durch die Uebersendung eines ganzen Jahrganges der „Gartenlaube“, und durch das Versprechen, mir außerdem jede Woche die neueste Nummer dieses Blattes mitbringen zu wollen. Der Leser wird ermessen, wie sehr mir durch diese angenehme Lectüre meine Haft erleichtert wurde und mit welchem Jubel ich jede neue Nummer begrüßte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_406.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)