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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

allein aufrecht hinter einem kaum armdicken Pflaumenbaum, an dem sein wohlgenährter Leib wohl eine halbe Elle auf jeder Seite hervorquoll, indem er mit seinen großen, guten Augen hinüberstarrte nach den feindlichen Batterien, die uns mehr, als behaglich war, mit Eisen überschütteten. Endlich ward ihm zugerufen, er solle sich doch nicht unnütz exponiren, er solle sich vielmehr in den nahen Graben legen, wie alle Uebrigen tbaten. Da rief er in aller Seelenruhe mit seiner fetten Stimme zurück, indem er auf das Bäumchen deutete, welches sich an ihn lehnte, wie etwa ein Bleistift an eine Tanne: „Ich habe ja Deckung!“ Erst nach wiederholtem Andringen der Cameraden verließ er den gefährlichen Platz, und zu seinem Glück, denn kurz nachher wurde der Baum von einer daherbrausenden Granate durchschnitten. Ein anderer Freund, ausgezeichnet durch fast gänzliche Abwesenheit des Haarwuchses und einigermaßen gefürchtet wegen seines kaustischen Witzes, lag gedeckt im Chausseegraben. Als ein Camerad von einem dienstlichen Auftrage dicht bei ihm vorbeigeführt wurde, tauchte das kahle Haupt plötzlich aus dem Graben auf, und lachenden Mundes rief der Inhaber desselben dem Vorüberschreitenden zu: „Ein frischer, fröhlicher Krieg heute!“ um ebenso schnell wieder unterzutauchen, als eine Granate in demselben Augenblicke wenige Schritte von ihm vorüberzischte.

Inzwischen mochte ungefähr eine Stunde verflossen sein; das feindliche Feuer nahm an Heftigkeit zu, und unsere Verluste mehrten sich. Wir erhielten deshalb den Befehl, in das Dorf zurückzugehen, da die theilweis massiven Gebäude einen größeren Schutz versprachen. Dieser Befehl wurde compagnieweise langsam und in musterhafter Ordnung ausgeführt, ein glänzendes Zeugniß für den guten Geist und die Disciplin der Truppen; denn nichts ist mehr geeignet, den Soldaten unruhig zu machen und die unentbehrliche Ordnung zu lockern, als lange Unthätigkeit und müßiges Abwarten in heftigem Feuer. Der avancirende, kämpfende Soldat concentrirt sein ganzes Denken und Fühlen auf den Kampf, auf den zu bezwingenden Gegner. Er weiß, daß es gilt, sich seiner, Haut zu wehren, und die Möglichkeit dazu ist ihm gegeben. Dies Bewußtsein und die Aufregung des Kampfes lassen kein anderes Gefühl in ihm aufkommen. Der unthätig dem Feuer ausgesetzte Mann hat zu viel Zeit zum Nachdenken. Die Granaten umzischen ihn: er darf nicht wanken und weichen; sein Nebenmann sinkt zerfleischt zu Boden: die eiserne Disciplin fesselt ihn an den angewiesenen Platz. So muß er stehen lange Stunden hindurch und zusehen, wie ein Camerad nach dem andern hinsinkt, um niemals wieder aufzustehen. Es wäre geradezu wunderbar, wenn da nicht bei jedem Einzelnen der Gedanke auftauchen sollte: „Wann wird dich die Kugel treffen?“ Ich habe diesen Gedanken auf vielen Gesichtern gelesen, und ich habe ihn selbst gehabt. In der That sollte unsere Standhaftigkeit heute noch auf eine harte Probe gestellt werden.

Bei der neuen Stellung, die wir einnahmen, erhielt meine Compagnie ihren Platz vor der offenen Seite eines großen geräumigen Gehöftes, offenbar des Gutshofes, welcher auf den anderen drei Seiten von langen massiven Gebäuden umschlossen war. Auf diesem Hose befand sich ein Bataillon, oder mehr, vom achten (Leibgrenadier-) Regiment. Unmittelbar an der offenen Seite führte die Chaussee vorbei, und längs ihrer stand das Bataillon, welchem ich angehörte. Hinter meinem Zuge stand der Schützenzug der siebenten Compagnie. Jenseit der Chaussee neben einem großen, zweistöckigen, massiven Speicher befanden sich dichtgedrängte Abtheilungen des achtzehnten Regimentes, und etwa fünfzig Schritte westlich von diesem Speicher lag ein Bauerhaus, in welchem unsere Aerzte sich ihrer traurigen Pflicht widmeten. Südlich von diesem Hause, mit meinem Standpunkte auf gleicher Linie, hielten zu Pferde an der Giebelwand eines Stalles der Divisions- und der Brigadegeneral, sowie mehrere Stabsofficiere mit ihren Adjutanten. Diese Localität meinem Gedächtnisse unauslöschlich einzuprägen, hatte ich drei lange Stunden Zeit, denn so lange waren wir, buchstäblich ohne von der Stelle zu rücken, an dem beschriebenen Orte dem feindlichen Artilleriefeuer ausgesetzt! Die Granaten flogen ununterbrochen mit jenem entsetzlichen Gezisch, das Niemand vergessen wird, der es ein Mal in seinem Leben gehört hat, vorläufig aber noch in hohem Bogen über unsere Köpfe hinweg, um unschädlich weit hinter ihrem Ziele in den Sumpf zu fallen, und hohe Schmutzgarben bei ihrem Zerplatzen auszuwerfen. Augenscheinlich vermuthete der Feind, daß weiter hinter dem Dorfe Reserven aufgestellt seien.

Die Soldaten fingen an schlechte Witze über das schlechte Schießen des Feindes zu reißen. Ueberhaupt machte sich allmählich eine Gleichgültigkeit gegen die Gefahr bemerkbar, welche wohl nur auf Rechnung der sich einstellenden Abspannung gesetzt werden kann. Wir hatten von Gitschin ab höchst anstrengende Märsche bei unzureichender Verpflegung gehabt, und in vergangener Nacht waren uns nur wenige Stunden Ruhe geworden. Dazu kam der Umstand, daß wir, da es inzwischen nahe an drei Uhr Nachmittags geworden war, bei einem tüchtigen zurückgelegten Marsche absolut nichts genossen hatten. Kein Wunder, wenn unter solchen Umständen eine Abspannung, eine Gleichgültigkeit gegen Alles eintritt. Ich habe in der That Leute während der heftigsten Kanonade ruhig und fest schlafen sehen. Andere suchten die letzten Reste ihres Tabaks zusammen, um sich gemüthlich eine Pfeife zu stopfen, vielleicht die letzte. Ich selbst begann einen nagenden Hunger zu empfinden und holte deshalb eine Tafel Chocolade hervor, die ich für den äußersten Nothfall aufgespart hatte. Als ich bemerkte, daß die Soldaten sehnsüchtig auf den Leckerbissen in meiner Hand schauten, brach ich die Tafel in kleine Stücke und theilte sie aus, so weit sie reichen wollte, indem ich die Empfänger versicherte, daß ein ganz kleines Stückchen des braunen Stoffes genüge, einen Löwenhunger auf drei Tage zu stillen. Ob diese Versicherung gefruchtet hat, steht freilich zu bezweifeln.

Inzwischen machte sich bemerkbar, daß immer drei feindliche Geschosse schnell hintereinander auf derselben Stelle einschlugen und daß sich die Entfernung zwischen ihnen und uns immer mehr verringerte, so daß man mit Sicherheit annehmen konnte, dieselben würden in nächster Zeit unsere Reihen erreichen, und diese Annahme erwies sich nur allzubald als begründet. Zu bewundern ist nur, daß wir hier verhältnißmäßig wenige Verluste zu beklagen hatten, trotzdem die ganze Division in gedrängter Colonne in und dicht hinter dem Dorfe stand. Zuerst schlugen einige Granaten in die Dächer der uns umgebenden Gebäude ein, so daß die Leute, welche nahe an denselben standen, sich dicht an die Wand drücken mußten, um nicht von den herabrasselnden Dachsteinen getroffen zu werden. Ein Sprengstück fuhr einem dicht vor mir knieenden Manne durch den Feldkessel. „Die Kerle gönnen einem nicht einmal das Bischen Speck, welches man noch bei sich hat,“ bemerkte der Soldat gelassen. Bald aber wurde die Lage ernster. Eine Granate schlug mitten in eine dichte Colonne des achtzehnten Regimentes, Tod und gräßliche Verstümmelungen mit sich bringend. Eine andere fuhr durch den achten Zug meines Bataillons hindurch, jedoch Niemanden verletzend und nur die Leute rechts und links zu Boden schleudernd, um alsdann einem Manne vom Schützenzuge der siebenten Compagnie den Leib aufzureißen. Der Arme verschied nach leisem, kurzem Schmerzensschrei. Er wurde hinweggetragen, und die aus seiner von dem Geschoß ebenfalls zerrissenen Patrontasche herausrollenden Patronen wurden von seinen Nebenmännern sorgfältig aufgelesen und aufgehoben. Vielleicht konnte eine von ihnen zum Werkzeug werden, den gefallenen Cameraden zu rächen.

Zwischen dem erwähnten Speicher und dem Bauerhause, in welches die Verwundeten gebracht wurden, stand der Medicinkarren meines Bataillons und bei demselben der zu ihm gehörige Trainsoldat. Zu diesem trat ein Feldwebel des achtzehnten Regimentes mit der Bitte, ihm etwas Wasser zur Stillung seines brennenden Durstes zu holen. Kaum hatte sich der Trainsoldat einige Schritte entfernt, als eine einschlagende Granate Wagen, Pferd und den zurückbleibenden Feldwebel in einen formlosen Haufen verwandelte.

Um solchen von Minute zu Minute sich mehrenden Scenen ruhig zuschauen zu können, dazu gehörten so abgestumpfte Nerven, wie die unsrigen nachgerade geworden waren. Entsetzlich aber war der Anblick, als ein Geschoß in das zum Verbandplatz eingerichtete Bauerhaus einschlug. Glücklicher Weise blieben unsere Aerzte, deren braves Verhalten, deren unermüdliche, aufopfernde Thätigkeit über alles Lob erhaben ist, unverletzt. Verstörten Antlitzes stürzten sie aus dem Hause, um einen sicherer gelegenen Ort für ihre Thätigkeit zu suchen, und ihnen nach schleppte sich jammernd und wehklagend, was von den Verwundeten sich noch fortzubewegen vermochte.

Zum neuen Verbandplatz wurde der mehrerwähnte Speicher ersehen, dessen feste eiserne Thür im Nu mit Axt und Spitzhaue eingeschlagen wurde. Dr. H., ein zu uns commandirter Landwehrarzt, lief aus dem Speicher nach dem Bauerhause zurück, um den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_423.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)